Seite:Ueber die Liebe 218.jpg

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Widerspruch stehen. Die Gedankenwelt des jungen Mädchens muß erleuchtet, sein Charakter gebildet weiden, mit einem Worte: man muß ihm eine gute Erziehung in des Wortes wahrer Bedeutung geben. Aber früher oder später wird es sich seiner Überlegenheit über die anderen Frauen bewußt und dadurch zur Pedantin, das heißt zum unangenehmsten und entartetsten Wesen auf Erden. Jeder von uns Männern will lieber sein Leben mit einer Sklavin, als mit einer solchen gelehrten Frau verbringen.

Wenn man einen jungen Baum mitten in einem dichten Walde pflanzt, wo ihm die Nachbarbäume Licht und Luft rauben, werden seine Blätter verkümmern und er wird lächerlich in die Höhe schießen und eine unnatürliche Gestalt annehmen. Man muß eben einen ganzen Wald gleichzeitig pflanzen. So ist es auch mit den Frauen. Lesen zu können, brüstet sich keine.

Seit zweitausend Jahren wiederholen uns die Pedanten, daß die Frauen geistig lebhafter, die Männer gründlicher sind, daß die Frauen mehr Zartheit in ihren Ideen, die Männer mehr die Kraft der Beobachtung haben. Aber mancher Pariser Bummler, der ehedem durch die Gärten von Versailles schlenderte, mag aus allem, was er da sah, den Schluß gezogen haben, alle Bäume wären von Natur gleichmäßig zugestutzt.

Ich will zugeben, daß die kleinen Mädchen weniger körperliche Kräfte haben, als die Knaben. Wenn man aber daraus auf den Geist schließen wollte, müßten Voltaire und Dalembert, die ersten Köpfe ihres Jahrhunderts, auch berühmte Boxer gewesen sein. Es ist vielmehr eine allbekannte Sache, daß ein zehnjähriges

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_218.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)