Seite:Ueber die Liebe 221.jpg

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Das wäre genau so, als wenn wir den Meeresstrand mit Bäumen bepflanzen und damit befürchten wollten, die Bewegung der Wogen aufzuhalten. In diesem Sinne ist die Erziehung nicht allmächtig. Übrigens macht man seit vierhundert Jahren die gleichen Einwände gegen jede Art von geistiger Bildung. Eine Pariserin von 1820 hat nicht nur mehr Tugenden, als eine von 1720, sondern die Tochter des reichsten Generalpächters von damals genoß eine weniger gute Erziehung, als die Tochter eines Winkeladvokaten von heute. Werden deshalb die häuslichen Pflichten weniger gut erfüllt? Gewiß nicht. Weshalb auch? Elend, Krankheit, Schande und Instinkt zwingen stets zu ihrer Erfüllung. Genau so könnte man von einem Offizier, der zu liebenswürdig wird, sagen, er verlerne das Reiten.

Die Erweiterung des Ideenkreises hat bei beiden Geschlechtern die gleichen guten und schlechten Folgen. Von Eitelkeit werden wir nie frei, auch wenn sie nicht im geringsten begründet ist. Man sehe sich die Bürger einer Kleinstadt an; zwingen wir sie wenigstens, nur auf ein wirkliches Verdienst eitel zu sein, das der Gesellschaft nützlich oder angenehm ist.

Die Halbgebildeten fingen unter den Nachwirkungen der Revolution, die in Frankreich alles verändert hat, vor zwanzig Jahren an, einzugestehen, daß die Frauen eine Beschäftigung haben könnten; sie sollen sich einer ihrem Geschlecht angemessenen Arbeit widmen, Blumen züchten, Herbarien anlegen, Singvögel aufziehen. Das nennt man unschuldige Vergnügungen.

Solche unschuldigen Vergnügungen sind besser als Garnichtstun. Überlasse man letzteres den dummen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 221. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_221.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)