Seite:Ueber die Liebe 267.jpg

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„Ich habe das Unglück gehabt, zu den bekanntesten Mitgliedern der Nationalversammlung zu gehören; solange für die gute Sache noch etwas zu hoffen war, hielt ich mich in Paris so gut wie möglich versteckt. Als dann die Gefahren wuchsen und die fremden Mächte sich zu keinem energischen Schritt zu unseren Gunsten aufrafften, faßte ich den Entschluß, abzureisen, mußte es aber ohne Paß tun. Da alle Welt nach Koblenz ging, wollte ich über Calais fliehen. Mein Bild war aber in jenen anderthalb Jahren so verbreitet worden, daß ich auf der letzten Station erkannt wurde. Trotzdem ließ man mich weiter. Ich gelangte nach Calais und blieb in einer Herberge, wo ich, wie leicht erklärlich, die ganze Nacht kein Auge zutat, und zwar recht zu meinem Glücke, denn etwa um vier Uhr früh hörte ich deutlich meinen Namen nennen. Ich stand auf und beim Ankleiden erkannte ich trotz der Dunkelheit genau Nationalgardisten mit Gewehren, denen man das Hoftor öffnete und die man in den Hof der Herberge einließ. Glücklicherweise regnete es in Strömen; es war ein ganz dunkler, sehr stürmischer Wintermorgen. Die Dunkelheit und das Rauschen des Windes ermöglichten mir, mich hinten durch den Hof und den Pferdestall zu retten. So stand ich ganz hilflos um sieben Uhr morgens auf der Straße.

Ich nahm an, daß man mich von der Herberge aus verfolgen würde. Ohne recht zu wissen, was ich tat, eilte ich zum Hafen und auf die Reede. Ich gestehe, ich hatte etwas den Kopf verloren. Immer schwebte mir die Guillotine vor Augen.

Im Hafen lag ein Paketboot, das trotz des hohen Seegangs gerade auslaufen wollte und bereits zwanzig

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_267.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)