Seite:Ueber die Liebe 291.jpg

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76.

Der größte Vorwurf, den wir uns machen können, ist sicherlich der, daß wir die Ideen von Ehre und Gerechtigkeit, die von Zeit zu Zeit in unseren Herzen erstehen, sich verflüchtigen lassen, als ob sie luftige Traumgebilde wären.


77.

Ein fester Entschluß macht mit einem Schlage aus dem schlimmsten Unglück eine erträgliche Lage.

Am Abend einer verlorenen Schlacht flieht ein Reiter auf einem ermatteten Pferde in schnellster Gangart; deutlich hört er die ihn verfolgende Patrouille hinter sich galoppieren. Plötzlich pariert er, springt vom Pferde ab, setzt neue Zündhütchen auf Karabiner und Pistolen und ist fest entschlossen, sich zur Wehr zu setzen. Sofort hat er nicht mehr den Tod, sondern das Kreuz der Ehrenlegion vor Augen.


78.

Ich glaube, daß man den Wert eines Systems nach seinem Repräsentanten beurteilen kann. Richard Löwenherz brachte den höchsten Heldenmut und Rittersinn auf den Thron, und er war doch ein lächerlicher König.


79.

Nichts ist falscher, als das Sprichwort: „Niemand ist ein Held vor seinem Kammerdiener“, oder vielmehr, nichts ist im monarchischen Sinne wahrer, bei einem affektierten Helden, zum Beispiel bei Hippolyt in Racines „Phädra“. Der General Desaix muß für seinen Kammerdiener – wahrscheinlich hatte er gar keinen – ebenso ein Held gewesen sein, wie für jeden anderen

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_291.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)