Seite:Ueber die Liebe 293.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Rest der viertausend Mann, die 1809 nach Wien marschiert sind. Ich schritt mit dem Obersten die Front ab und ließ mir von mehreren Soldaten ihre Geschichte erzählen. Es war die Tugend der mittelalterlichen Republiken, die mir da vor Augen trat, freilich verdorben durch das spanische Joch, die Pfaffen[1] und den zwei- bis dreihundertjährigen feigen und grausamen Kleinstaatsdespotismus, der auf dem Lande gelastet hat.

Die glanzvolle ritterliche Ehre, die ebenso erhaben wie sinnlos ist, ist eine exotische Pflanze, die erst kurze Zeit bei uns gezüchtet wird.

Um 1740 findet man noch keine Spur von ihr. (Vergleiche das Werk von Debrosses.) Die Offiziere von Montenotte und Rivoli hatten zu viele Gelegenheiten, der Mitwelt die wahre Tugend zu beweisen, als daß sie eine Ehre zu heucheln brauchten, die unter den Zelten der Armee von 1796 unbekannt und nur absonderlich gewesen wäre.

Es gab 1796 keine Ehrenlegion und keine Schwärmerei für einen einzigen Mann, aber viel Schlichtheit und Tugend, wie bei Desaix. Der Ehrbegriff ist also in Italien eingeführt worden durch Leute, die zu vernünftig und zu tugendhaft waren, um zu glänzen. Man fühlt den gewaltigen Unterschied zwischen den Soldaten von 1796, die in einem Jahre zwanzig Schlachten gewannen und dabei oft weder ordentliche Stiefel noch Röcke hatten, und den glänzenden Regimentern von Fontenoy, die den Engländern höflich und mit abgenommenen Hüten zuriefen: „Meine Herren, schießen Sie zuerst!“



  1. [358] Vgl. „Vie de Saint-Charles Borromée“.
Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_293.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)