Seite:Ueber die Liebe 302.jpg

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einer Klippe müssen sie sich hüten, vor Dingen, die Abscheu erregen.

Durch die einfache Tatsache des Vorhandenseins einer Monarchie, wie die Ludwigs des Vierzehnten, die vom Adel umgeben ist, wird alles, was in den Künsten einfach ist, grob. Der Aristokrat, vor dem sie sich entfalten, fühlt sich abgestoßen. Diese Empfindung ist aufrichtig und deshalb achtbar.

Man sehe nur zu, wie der schwächliche Racine die heroische und im Altertum so sehr verherrlichte Freundschaft des Orest und Pylades aufgefaßt hat. Orest duzt Pylades, und dieser redet jenen mit „Herr“ an. Und doch soll Racine unser erschütterndster Dramatiker sein! Wer auf ein solches Beispiel hin kein Einsehen hat, mit dem ist über dieses Thema überhaupt nicht zu reden.


100.

Wenn es überhaupt einen Zeitpunkt gibt, an dem die Gefangenschaft – nach der landläufigen und von gewöhnlichen Menschen als vernünftig bezeichneten Anschauung – erträglich ist, so müßte es der sein, an dem ein armer Gefangener nach mehreren Jahren Gefängnis nur noch ein bis zwei Monate bis zur Wiedererlangung der Freiheit zählt. Aber die Kristallbildung will es anders. Der letzte Monat ist qualvoller, als die letzten drei Jahre. Man hat mir berichtet, daß im Gefängnis von Melun mehrere langeingekerkerte Sträflinge wenige Monate vor dem Tage ihrer Entlassung vor Ungeduld gestorben sind.


101.

Nur eine große Seele wagt es, einen einfachen Stil zu haben. Das ist auch der Grund, weshalb Rousseau

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_302.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)