Seite:Ueber die Liebe 304.jpg

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Kopfe, um den Grundgedanken des Helvetius richtig beurteilen zu können.

Helvetius hat den kleinen Fehltritt begangen, jenen Grundgedanken „Interesse“ zu nennen, anstatt ihm den hübschen Namen „Genuß“ zu geben. Was soll man über einen ganzen Literaturabschnitt denken, wenn er sich durch einen derartig geringen Fehler irreführen läßt?

Ein Mann von mittelmäßigem Geist, wie zum Beispiel der Prinz Eugen von Savoyen, wäre an Regulus Stelle ruhig in Rom geblieben und hätte sich am Ende über die Dummheit des Senats von Karthago lustig gemacht. Regulus kehrte nach Karthago zurück. Trotzdem wäre Prinz Eugen genau so seinem individuellen Interesse gefolgt, wie Regulus.

In fast allen Ereignissen des Lebens sieht eine vornehme Seele die Möglichkeit einer Handlung, von der eine gewöhnliche Seele keine Ahnung hat. Im Augenblick, wo die vornehme Seele diese Möglichkeit erkennt, hat sie das Interesse, die Tat auszuführen. Wenn sie diese sich anbietende Tat unterließe, würde sie sich selbst verachten, sie würde unglücklich werden. Unsere Pflichten hängen von der Tragweite unseres Geistes ab.

Der Grundgedanke des Helvetius ist wahr, selbst in den törichsten Übertreibungen der Liebe, sogar beim Selbstmord. Es ist widernatürlich und unmöglich, daß der Mensch nicht immer und in jedem beliebigen Augenblicke das tun soll, was gerade möglich ist und was ihm den größten Genuß bereitet.


104.

Die Veranlagung zur Liebe aus Sinnlichkeit und besonders zum sinnlichen Genuß ist bei beiden Geschlechtern

Empfohlene Zitierweise:
Stendhal übersetzt von Arthur Schurig: Über die Liebe (De l’Amour). Leipzig 1903, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ueber_die_Liebe_304.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)