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Die sanften Tage.


Ich bin so hold den sanften Tagen,
Wann in der ersten Frühlingszeit
Der Himmel, blaulich aufgeschlagen,
Zur Erde Glanz und Wärme streut;

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Die Thäler noch von Eise grauen,

Der Hügel schon sich sonnig hebt;
Die Mädchen sich in’s Freie trauen,
Der Kinder Spiel sich neu belebt.

Dann steh’ ich auf dem Berge droben

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Und seh’ es alles, still erfreut,

Die Brust von leisem Drang gehoben,
Der noch zum Wunsche nicht gedeiht.
Ich bin ein Kind und mit dem Spiele
Der heiteren Natur vergnügt,

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In ihre ruhigen Gefühle

Ist ganz die Seele eingewiegt.

Ich bin so hold den sanften Tagen,
Wann ihrer mild besonnten Flur
Gerührte Greise Abschied sagen;

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Dann ist die Feier der Natur.

Sie prangt nicht mehr mit Blüth’ und Fülle,
All ihre regen Kräfte ruhn,
Sie sammelt sich in süße Stille,
In ihre Tiefen schaut sie nun.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Uhland: Gedichte von Ludwig Uhland (1815). J. G. Cotta, Stuttgart und Tübingen 1815, Seite 023. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:UhlandGedichte1815_0023.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)