Ihre Gedanken, die sich sorgenmüde von der traurigen Gegenwart, der drohenden Zukunft abkehrten, irrten in die Vergangenheit zurück, aber sie fanden keinen sonnigen, heiteren Punkt, an dem sie sich hätten festnisten mögen. Überall schaurige Rätsel, drückendes Dunkel, unheilbares Leid.
Alles, was mit Gina zusammenhing, war traurig gewesen vom ersten Augenblick an, und selbst vor ihrer Geburt. Und doch liebte die ältere Schwester Gina. Sie hatte während ihres ganzen Lebens nichts andres zu lieben gehabt als Gina.
Ganz undeutlich, dämmerig schimmerte es in ihrer Seele auf, daß es einmal anders gewesen war, eine kurze Zeit hindurch, während ihrer ersten Kindheit. Sie erinnerte sich, wie sie an der Hand einer stillen, freundlichen Frau durch einen sonnenbeschienenen, blühenden Garten gewandelt war, in dem Vögel sangen. Aber das war so lange her, und es lag so vieles dazwischen, daß ihr diese Erinnerung vorkam wie ein schöner, unwahrscheinlicher Traum.
Das erste, woran sie sich ganz deutlich entsinnen konnte, war ein Tag, an dem man alle Fenster des römischen Palastes, in dem sie damals gewohnt, dunkel gemacht hatte, und besonders die Fenster des Gemachs, in dem ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen, ein Kruzifix in der Hand. Nicht nur, daß die Fenster verdunkelt worden waren, die ganzen Wände hatte
Ossip Schubin: Vollmondzauber. Stuttgart: J. Engelhorn, 1899, Band 2, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vollmondzauber.djvu/186&oldid=- (Version vom 1.8.2018)