Seite:Von der Macht der Toene.djvu/007

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unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte vielmehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder die eingeteilte, und sie stammt daher, daß einzelne Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität jener Tonsetzer und ihre Zeit[WS 1] mit der symmetrischen Musik identifiziert und schließlich - da sie weder den Geist, noch die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten - die Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubenslehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie entschwebten - und die Gesetzgeber entdecken und verwahren Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder:

„Noch immer glücklich aufgefunden!
Die Flamme freilich ist verschwunden,
Doch ist mir um die Welt nicht leid.
Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
Zu stiften Gold- und Handwerksneid;
Und kann ich die Talente nicht verleihen,
Verborg ich wenigstens das Kleid."[WS 2]

Ists nicht eigentümlich, daß man vom Komponisten in allem Originalität fordert und daß man sie ihm in der Form verbietet? Was Wunder, daß man ihn - wenn er wirklich originell wird - der Formlosigkeit anklagt. Mozart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante, seinen Durchführungen und Kodas.

Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Aufgabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier-Sonate[WS 3]. Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht lassen zu dürfen und
== Anmerkungen (Wikisource) ==

  1. im Nachdruck fehlt der Passus: "am nächsten lag" bis "und ihre Zeit".
  2. Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Zweiter Teil, Dritter Akt; im Original: "Gild- und Handwerksneid".
  3. Ludwig van Beethoven, Klaviersonate op.106 B-Dur (1817-1818), 4. Satz Largo - Allegro risoluto, Fuga a tre voci, con alcune licenze
Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/007&oldid=- (Version vom 1.8.2018)