Seite:Von der Macht der Toene.djvu/009

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zwar steigerte, aber in ein System brachte (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbstgeschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er sie zu einer höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte; sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, daß sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte. „Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung“, wie ich einmal von Mozart sagte.[WS 1] Die Wege, die uns Beethoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden. Sie mögen - wie alles im Weltsystem - nur einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen, daß der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. Ein Kreis im großen Kreise.

Der Name Wagner führt zur Programmusik zurück. Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten „absoluten“ Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so verhärtet, daß selbst die Verständigen sich an den einen oder den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In Wirklichkeit ist die Programmusik ebenso einseitig und begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hanslick verherrlichte Klang-Tapetenmuster. [WS 2] Anstatt architektonischer und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika- und Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene sich angeschnürt.

Jedes Motiv - so will es mir scheinen - enthält wie ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzensamen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander abweichend.[1]

Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muß sich anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Harmonie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.


  1. „...Beethoven, dont les esquisses thématiques ou élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thémes trouvès, semble par cela même en avoir établi tout le développement.“ (Vincent d'Indy in "César Franck".)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mozart-Aphorismen (1906), "Er gibt einem mit dem Rätsel die Lösung." In: Von der Einheit der Musik, Berlin 1922, S.79
  2. Busoni bezieht sich auf Eduard Hanslicks Schrift Vom Musikalisch-Schönen (1854).
Empfohlene Zitierweise:
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/009&oldid=- (Version vom 1.8.2018)