Erlangung und Anwendung weniger Erfahrungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle. Demnach muß es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstausübung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf- und tatenlos davor: es müßte schließlich den Rückzug antreten und verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn Schaffen heißt: aus Nichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht im Nachbilden. Sie ist die „Poesie, die sich kommandieren läßt“. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: meidet die Routine, beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt und fühlet!
Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand; meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: so bequem werdet ihr, daß ihr euch kaum mehr vom Lehnstuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift. Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und warten darauf, sich zu offenbaren!
„Das ist mein Unglück, daß ich keine Routine habe,“ schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition des „Tristan“ nicht vorwärts wollte. Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor anderen. Er hatte zuviel Routine, und seine Kompositionsmaschinerie blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand, der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es ohne Bitterkeit behauptet.
Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die richtige künstlerische Verachtung für die Routine aus, insofern als er diese ihn niedrig dünkende Eigenschaft sich selbst abspricht und vorbeugt, daß andere sie ihm zuerkennen. Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch-verzweifelt. Er ist tatsächlich unglücklich, daß die Komposition stockt, tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußtsein, daß sein Genie über
Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1983, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Macht_der_Toene.djvu/023&oldid=- (Version vom 1.8.2018)