Seite:Von der Sprachfaehigkeit und dem Ursprung der Sprache 297.png

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Begriffe. Zuvor muß der Begriff da gewesen sein, ehe man eine Bezeichnung für ihn suchen konnte. Wir wollen also zuerst versuchen, den Weg, auf welchem jene Ideen sich entwickelten, ausfindig zu machen.


So lange der Mensch durch Nothdurft getrieben, nur um Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse bekümmert ist, wird er zum Nachdenken, und insbesondere zur Entwickelung geistiger Begriffe keine Zeit haben. Sobald aber die Sinnlichkeit bis zu einem gewissen Grade ausgebildet ist, und der Mensch sich eine Geschicklichkeit erworben hat, sich seine Bedürfnisse leicht zu verschaffen, wird er auch durch den der Seele einwohnenden Trieb des Fortschreitens angeleitet werden, geistigen Ideen nachzuforschen. Er wird gewohnt, eine sinnliche Erscheinung sich aus einer andern, und diese wieder aus einer dritten zu erklären. Wenn ihm nun, bei diesem Erklärungsgeschäft, eine und dieselbe Erscheinung sehr oft vorkömmt, so wird er diese, als die letzte Ursache aller übrigen, annehmen. Hier wird seine Forschung vielleicht eine Zeitlang befriedigt stille stehen; aber bald wird er auch von der Erscheinung, welche ihm bis jetzt letzte Ursache war, wieder den Grund aufsuchen, und so zuletzt aus dem Sinnlichen zum Uebersinnlichen übergehen müssen. — So ist nach und nach das Urtheil entstanden: es ist eine Welt, mithin auch ein Gott.[1]


  1. Dieses Urtheil ist durch die kritische Philosophie angefochten worden, als eine Täuschung. — Aus dem Gesichtspunkte des [298] philosophischen Räsonnements können wir nicht sagen: es ist eine Welt. Das, was außer mir ist, kann ich bloß fühlen, und in dieser Rücksicht nur glauben. Daß Dinge außer mir sind, ist also bloßer Glaubensartikel: und wie will man aus etwas, das bloß geglaubt werden kann, etwas Erweisbares, einen demonstrativen Vernunftsatz machen? — Dieser Einwurf geht aber nur gegen den Philosophen, der — anstatt, wie er sollte, das Theoretische von dem Praktischen, das, was innerhalb der Gränzen des Gefühls geglaubt wird, von dem was über diese Gränzen hinaus, im Gebiete des Verstandes erkannt wird, scharf zu unterscheiden — etwas bloß zu glaubendes für etwas Erkennbares annimmt, und auf dieses vermeintlich Erkennbare einen Beweis gründen will, der seinem Gehalte nach für den Verstand gültig sein soll. Daß Dinge außer uns sind, erkennen wir nicht; das Dasein dieser Dinge wird uns nur durchs Gefühl und im Gefühl gegeben, und ist also bloß Gegenstand des Glaubens. Nun ist es wohl ein einleuchtender Widerspruch, aus einem solchen Glauben die Existenz irgend eines Uebersinnlichen erweisen, aus etwas Geglaubtem auf ein Uebersinnliches einen Schluß machen zu wollen, der für den Verstand, und nicht bloß für das Gefühl überzeugende Kraft hätte. Ein solcher Schluß würde die Foderung enthalten: entweder, daß der Verstand, der, in wie fern er Verstand ist, nur erkennen, und nur durch Erkanntes überzeugt werden kann, glauben; oder: daß das Gefühl, welches, als Gefühl, uns nur etwas zum glauben geben kann, erkennen soll. — Also aus dem bloß gefühlten Dasein der Dinge außer uns können wir nicht erweisen, daß ein Gott sei. Aber aus einem Gefühle läßt sich leicht ein anderes entwickeln: wir können von einem Gefühle auf die Annehmbarkeit [299] eines andern, mithin von dem Glauben an die Dinge außer uns, auf die Glaubwürdigkeit des Daseins eines höchsten übersinnlichen Wesens schließen. Diesen Schluß macht der gemeine Menschenverstand; und, da es ihn, nicht obliegt, Gefühl und Erkenntniß streng zu unterscheiden, er auch gar nicht vorgiebt, sie unterschieden zu haben: so wäre es ein bloßer Mißverstand, wenn man gegen das Urtheil des gemeinen Verstandes, „daß ein Gott sei“, jenen Einwurf der Kritik geltend machen wollte.
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Johann Gottlieb Fichte: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache. Hofbuchhändler Michaelis, Neu-Streelitz 1795, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Sprachfaehigkeit_und_dem_Ursprung_der_Sprache_297.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)