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Verschiedene: Wünschelruthe

Hier wird leicht eingeworfen werden, ein solcher Chor könne die Dichtung des Schauspiels deßwegen unmöglich steigern, weil die höchste Poesie, als eine Vermittlung zwischen Idee und Erscheinung der Natur uns zwischen beide in die Mitte stellend, indem sie uns jene in dieser ahnen läßt, schon im Schauspiel erstrebt werden müsse. Aber keineswegs soll die Poesie des Chores absolut die höchste seyn; sie wird es, als außer dem Kreise unserer Natur liegend, nicht anders für uns seyn, als wenn wir aus uns heraus auf den Standpunkt der im Schauspiel Handelnden treten; und dieß soll ja das Schauspiel bewirken. Zwar ist dort, wie bei uns, Eine Idee, die des Göttlichen, immer die höchste, und immer über jeder Aeußerung des Lebens; aber die Natur spricht sich dort anders aus als bei uns, also auch deren Ideal und das Höchste der Poesie; und mancher Ton, der fremd und schneidend in unser Leben klingen würde, kann in dieser geistig gesteigerten Welt zu heiliger Musik werden. Und so kann im Chor vieles, was im Schauspiel nur als Idee geahnet werden darf, wieder als Erscheinung austreten. Die höchste Idee selbst darf zwar nie mit uns aus Einer Linie stehend gedacht werden, aber näher und unverhüllter kann sie zum Gemüthe sprechen; denn das Sinnliche ist nicht weggeworfen, aber vergeistigt. Was, in das Schauspiel eingreifend, nur als Objekt erscheint und nur existirt weil es erscheint, kann im Chor wieder Subjektivität erhalten; Geister der Abgeschiedenen z. B., durch die das Schicksal, d. h. die Idee des Göttlichen spricht, können dort unmittelbar zu den Zuschauern reden, also ihnen als fühlend und wollend erscheinen, wie im Schauspiele den dort Handelnden.

Wir finden den Chor in keinem neuern Schauspiele genau so wie ich ihn hier angegeben habe; häufig treffen wir aber auf Spuren die zu beweisen scheinen, daß er uns wenigstens so nicht fremd seyn könne. Von den dramatischen Werken der Franzosen und Italiäner, die mehr der antiken als modernen Kunstidee folgten, kann hier weniger die Rede seyn. Ich wage es nicht zu entscheiden, weßwegen der Chor in Spanien weniger als irgend sonst Eingang fand, da ich doch glaube, daß er im spanischen Schauspiel, wenn er sich gleich von Anfang mit ihm ausgebildet hätte, große Wirkung hätte thun müssen. Versuche wie die des Antonio de Silva (Primeras tragedias españolas, Madrid 1577. 12) haben etwas von einer romantisirten Nachbildung des Antiken. Am vielfältigsten ist der Chor auf dem altenglischen Theater erschienen. Die ersten rohen Versuche in der dramatischen Kunst können wohl nirgends leicht einen Chor haben, wo sie sich nicht aus ihm herausbildeten. Dann aber sehen wir ihn in mancherlei Gestalten austreten, welches

allerdings ein Bedürfniß nach etwas, wobei man sich nur über die rechte Art nicht klar ist, zu beweisen scheint. Hier finden wir ihn am schönsten in dem merkwürdigen Schauspiel Ieronimo oder the spanish tragedy[1] in Unterredungen zwischen dem Geiste des zu rächenden Andrea und der Rache, die Schicksalsidee großartig versinnlichend; daß sich dieser Chor nicht wohl zum musikalischen Vortrag eignete, mag der Hauptgrund seyn, weßwegen er nicht die Grundlage zu einem wenigstens eine Zeitlang bleibenden Chore wurde. So glaube ich wenigstens, wenn der Chor nicht ein Zusatz von dem neuern Bearbeiter des älteren ungedruckten Stücks ist; sonst erklärt sich dieser Umstand von selbst aus der Zeitgenossenschaft mit Shakspeare. Nicht selten war ein Chor, der bloß Theile der Handlung des Stücks, welche nicht vorgestellt wurden, in den Zwischenakten erzählte; diesen hat Shakspeare in seinem Perikles beibehalten, wo er ihn von dem alten Dichter Gower, der die Geschichte, woraus das Schauspiel genommen ist, erneuert hatte, in schöner Einfachheit sprechen läßt. In derselben Art tritt die Ate im Lokrine auf, doch natürlich mit einem hinzugefügten Bezug auf die Schicksalsidee[2]. Daneben finden wir unter andern einen sonderbaren Chor von singenden Barden, nur ohne hinlänglich bestimmte Bedeutung, in dem Stücke Fuimus Troes, the true Trojans; – und mancherlei Modifikationen eines vielleicht von dem antiken ausgegangenen Chores, meistens ohne Eingreifen in die Handlung, wie schon in Ferrex and Porrex, Trancred and Gismunda u.a.m. auch bei Ben. Jonson. Daraus mußte ein endlich ganz unbedeutender Chor entstehen, der aus keinen bestimmten Gestalten bestand, so als bloßer Chorus keinen eigentlichen Charakter mehr hatte, und auf diese Weise nur zur Ausfüllung der Zwischenakte blieb, bis er sich auch von hier in den Prolog und Epilog zurückzog, denen er im Grunde schon lange gleich geworden war. Shakspeare brancht einen solchen Chor wohl noch, wie scherzend oder um der herrschenden Gewohnheit etwas zu Gefallen zu thun, zwischen einzelnen Akten, z. B. im Romeo zwischen dem ersten und zweiten Akt. Sonst war Shakspeares unergründlicher Geist wohl eine Hauptursache weßwegen der Chor ganz von der englischen Bühne verschwand; ihm mußte es gelingen die schärfsten Gegensätze, die allerumfassendste Parodie in die fortlaufende Handlung des Schauspieles zu legen, so daß überall die Bedeutung des Chores nach unserer Ansicht schon vollendet in den Charakteren der Handelnden selbst liegt, und doch das Reinmenschliche immer im Geiste des Ganzen

  1. S. Dodsley’s Collection of old plays T. III.
  2. S. Tiecks altenglisches Theater, 2ter Bd.
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Verschiedene:Wünschelruthe. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1818, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:W%C3%BCnschelruthe_Ein_Zeitblatt_031.jpg&oldid=- (Version vom 7.12.2018)