Seite:Wünschelruthe Ein Zeitblatt 126.jpg

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Verschiedene: Wünschelruthe


Verlegen und beklommen hatte sich Helene unterdessen nach den Schränken im Gewölbe umgewendet, einiges Naschwerk für die weiße Maus zu holen; da klinkte die Thür leise wieder zu und draußen von der Straße her winkten ihr die funkelnden Blicke unter dem rothen Barett und pechschwarzen Haar noch einmal zu, und verschwanden hinter der Ecke. Helene bog sich mit Brust und Armen über die Tafel, worauf die Glocke stand, und belauschte das wunderleise Erklingen, wie sie dieselbe mit dem Zuckerwerk berührte, das sie für die Maus darunter schob. Das Kätzchen hatte sich dicht vor die Glasglocke hingesetzt, sah unverwandt auf die weiße Maus und schnurrte dabei, als woll’ es Helenen erinnern, daß es nun Zeit sei, aus dem Laden ans Spinnrädchen in der Mutter Haus zu gehen. Helene konnte sich gar nicht von der Betrachtung des weißen Mäuschens losreißen, und fand es gar zu hübsch, wie es beim Erklingen des Glases tanzend in die Hohe sprang, mit den kleinen Pfötchen am Zuckerwerk knisperte, und die rubinrothen Augen im Köpfchen herumdrehte. Bei aller kindischen Lust an diesem neuen Spielwerk im Gewölbe hier, war es Helenen doch, als würde die Mutter sich nicht ganz so, wie ihr unbefangener Sinn, an dem Mäuschen freuen, und sie zog vor, es für’s erste hier im Laden in seinem durchsichtigen Zauberschloß übernachten zu lassen, und dagegen die Katze mit nach Haus zu nehmen, damit sie der Maus nichts anhaben könnte. Helene nahm daher die Katze, die sich dagegen sträubte, auf den Arm, kuckte der weißen Maus noch einmal in das niedliche Feengehäuse, und schloß den Laden schüchterner als gewöhnlich zu.

Zu Hause saß die Mutter und spann fleißig. Helene setzte sich still bei ihr nieder und zog gleichfalls den Rocken heran. Die Mutter unterließ nicht, nach dem Verdienst des Tages zu fragen, und Helene hub an: ihr werdet Freude haben über den heutigen Tag, denn ich bringe euch die gute Botschaft, daß ein Rattenfänger da gewesen ist und hat die Ratten und Mäuse alle vertrieben. Er müßte sie denn gebannt haben, sagte die Mutter, sonst glaub’ ichs noch nicht recht, in der kurzen Zeit. Die alte Frau hatte zu diesen Worten so bedenklich ausgesehn, daß es Helenen war, als möchte es ihr nicht recht seyn, daß die Mäuse gebannt worden waren; sie gab daher den Bescheid, der Rattenfänger habe im Keller ein so lockendes Gift aufgestellt, daß Ratten und Mäuse hervorgekommen und alle gleich todt gewesen wären; was er mit ihren Ueberresten gemacht, wisse sie nicht, genug das Gewölbe sei gänzlich gesäubert. Ein einzig weißes Mäuschen, fügte sie hinzu, ist nicht umgebracht worden, der Rattenfänger hat mirs gebracht und unter ein gläsern Glöcklein gestellt, das klinget nun so fein, wenn das Mäuschen springet, und es ist ein gar zu niedliches Thier, recht wie ein ganz kleines Hermelin. - Das wäre schön, rief die Mutter, im Zuckerladen eine Maus halten! ist der Verdienst doch so gering genug, daß wir uns nicht noch Gäste bitten dürfen auf unser Gebäck! - Ueberlegt doch, sagte Helene, allen Leuten, den Mädchen und Kindern besonders wird das weiße Mäuschen gefallen, und sie werden Helenen noch lieber abkaufen, ja ich wette darauf, mancher kauft mir ein Zuckerplätzchen mehr ab und einen Lebkuchen, nur um sie dem feinen Mäuschen zu naschen zu geben. - Du hast an dem Kätzchen hier genug, sprach die Mutter, und sollst nicht auf neue Thorheit denken. Auf bloße Kurzweil ist bei uns keinerlei Rechnung gestellt, fällt einmal ein kleines Naschwerk ab, so gieb’s armen Kindern oder deines Bräutigams Kätzchen, und verschenke du die nichtsnutzige weiße Maus. - Aber Helene schmeichelte um die Mutter herum, bis diese schwieg, und nur noch sagte: so hab’ es denn, du wirst ja doch wohl, gleich allen Kindern, das Spielwerk in wenig Tagen überdrüßig seyn.

Als die Mutter, nach der Haussitte, vor’m Auslöschen der einsamen Abendlampe sich den Abendseegen von Helenen lesen ließ, schwebten die Mädchenaugen ungewöhnlich zerstreut über dem aufgeschlagenen Buch, und das zwar nicht so wohl aus Mangel an Andacht, sondern weil Helene sich noch nie bewußt gewesen war, die Mutter mit einer Unwahrheit berichtet zu haben. Sie hätte am liebsten das Buch zu-, und ihre Arme mit freimüthigen, kindlichen Bekenntniß um der Mutter Hals geschlagen; dann fiel ihr aber plötzlich ein die Mutter werde dann wegen der weißen Maus noch viel mehr schelten, und die weiße Maus sei doch gar zu hübsch; und so ward sie von der Mutter mehreremal unter dem Lesen getadelt, daß sie die Augen gar nicht auf dem Buch habe.

(Die Fortsetzung folgt).




Lose Bätter
zu der Sammlung von Minnesingern gehörig.




I.

Es sind jetzt gerade sechzig Jahre, daß Bodmer diese schöne und in ihrer Art einzige Sammlung aus der Pariser Handschrift abdrucken ließ. Daß er mehrere Lieder verstümmelt gab, indem er bisweilen die erste, dritte und vierte Strophe eines Liedes ausließ, von dem er die zweyte und fünfte mittheilte, war übel gethan; und, wie er dazu kam es zu thun, ist unbegreiflich. Da die Abschrift, welche in

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Verschiedene:Wünschelruthe. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1818, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:W%C3%BCnschelruthe_Ein_Zeitblatt_126.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)