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Verschiedene: Wünschelruthe


Lose Blätter
zu der Sammlung von Minnesingern gehörig.
Von Benecke.
IV.

Bey kleinen Gedichten, dergleichen die sämmtlichen so genannten Minnelieder sind, wird der Genuß, den sie gewähren können, schon durch den kleinsten Fleck gestört, und, begreiflicher Weise, weit mehr gestört, als dieses bey größern Gedichten der Fall ist. Ein bloßer Verstoß gegen das Versmaß, gesetzt auch daß der Sinn dadurch nicht leidet, muß da, wo Gedanken und Form so ganz in Eines verstießen und Klang und Reim die Seele des Liedes sind, den Eindruck nicht nur schwächen, sondern oft gänzlich vernichten. Ja selbst Lieder, die gar keiner Besserung bedürfen, gewinnen nicht wenig, wenn sie dem Auge auf eine Art dargestellt werden, die ihren kunstvollen Bau auf den ersten Blick ankündigt; und es ist daher zu bedauern, daß Bodmer sich durch übertriebene Sparsamkeit verführen ließ, diesen Umstand so wenig zu berücksichtigen. Daß er die drey Glieder, aus denen fast immer die Strophe besteht, nicht auszeichnete, kann ihm nicht zum Vorwurfe gemacht werden; denn dieser dreygliedrige Bau wurde von jedermann übersehen, bis Jacob Grimm ihn entdeckte, und in seiner Schrift über den Meistergesang sich das Verdienst erwarb, darauf aufmerksam zu machen. Was Bodmer aber hätte vermeiden können, und was jeden Leser stören muß, das ist die so häufig vorkommende unrichtige Theilung der Reimzeilen. Doch diesem Uebel ist leicht abzuhelfen. – Nachtheiliger aber ist der Schade und schwerer zu heilen, wenn die alten Schreiber Fehler gemacht haben, und das Richtige erst durch Vermuthung hergestellt werden muß. Sollen solche Vermuthungen mit Recht glücklich heißen, so müssen sie dem Eye des Columbus gleichen; jeder Kenner der alten Sprache und Dichtkunst muß ihnen mit einem herzlichen: ‚allerdings, so muß es heißen; das versteht sich von selbst!‘ entgegen kommen.

Wir wollen hoffen, daß dieses bey den beiden folgenden Liedern der Fall seyn werde, und daß sie, verglichen mit dem in der Sammlung von Minnesingern befindlichen Abdrucke, als Beyspiel dienen werden, wie viel die Tilgung des kleinsten Fleckens dazu beytrage, das Schöne noch schöner zu machen.

I. – (I. 14).
Des Kreuzfahrers Abschied.

 – 1 –
Swes muot ze freuden si gestalt,
     Der schouwe an den vil gruenen walt!
     Wie wunneclich gekleidet
Der meie sin ingesinde hat
     Von richer varwe in liehter wat!
     Den vogellin truren leidet;
Uz hohem muote manigen don,
     Gar rilich suezze wise,
     Hort man von in, – luten klanc,
     Vor uz der nahtegalle sanc, –
     Uf grueneberndem rise.

 – 2 –
Von schulden muoz ich sorgen wol;
     Von freuden git min herze zol,
     Die wile ir gruoz mir wildet
Diu min herze bi ir hat.
     Ach, daz si mich in sorgen lat!
     Got hat si so gebildet
Daz min herze niht enkan
     Noch al min sin erdenchen
     Wie si schoner kunde sin,
     Diu minnecliche frouwe min
     Diu mir wil freude krenchen.


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene:Wünschelruthe. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1818, Seite 217. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:W%C3%BCnschelruthe_Ein_Zeitblatt_217.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)