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Sagen aus der Provinz Sachsen III.
Von
Rose, Krelle, Schulze, Veckenstedt.
1. Das Johannisopfer.

In Dornburg, einem Dorfe in der Nähe von Barby, ist einstmals die Kirche versunken; an der Stelle, wo dieselbe stand, hat sich ein tiefer See gebildet, welcher noch jetzt der Kirchsee genannt wird. Dieser See forderte früher jedes Jahr sein Opfer, und zwar am Johannistage. Das Opfer war aber stets ein Knabe aus dem Dorfe. Wie es nun gekommen ist, dass seit vielen Jahren kein Knabe mehr im See ertrunken ist, das erzählt man sich folgendermassen.

Als der alte Pastor im Dorfe gestorben war, hatte die Gemeinde einen neuen Pastor bekommen. Derselbe liebte das Angeln sehr, und so ging er denn jeden Tag an den Scharlach- oder Kirchsee, wenn es die Jahreszeit und das Wetter nur immer erlaubten, und angelte dort. Einstmals, es war gerade am Johannistage, sass er auch am Ufer des Kirchsees und ging seinem Vergnügen mit der Angel nach. Alles war still um ihn her; da sah er, wie plötzlich zwei grosse Fische aus dem Wasser auftauchten, von welchen der eine zu dem andern sprach: „Der Tag und die Stunde ist da, aber der Knabe fehlt.“

Der Pastor war über das, was er gesehen und gehört hatte, so erschrocken, dass er eiligst die Angel aufzog und sich anschickte, nach Hause zu gehen. Indem kam ein Junge aus dem Dorfe auf den See zu. Der Pastor fragte denselben, wo er hin wolle. Der Junge antwortete, dass er sich im Kirchsee baden werde, wenn der Herr Pastor nach Hause gegangen sei. Nun musste der Pastor an die Worte des Fisches denken: er ahnte Schlimmes. Deshalb beschloss er, wenn es in seiner Macht stände, das Unglück abzuwenden. Er sagte also dem Jungen, er wolle noch nicht nach Hause gehen, sondern sich in das Gras legen und ein wenig lesen. Er möchte ihm deshalb ein gewisses Buch aus der Pfarre holen.

Der Junge ging nach der Pfarre und forderte von der Frau Pastorin das bestimmte Buch. Als er damit zurückkam, sagte ihm aber der Pastor, er hätte ihm ein falsches Buch gebracht, er möchte doch noch einmal nach der Pfarre gehen und sich das richtige Buch geben lassen. Der Junge ging richtig wieder nach der Pfarre, aber wiederum erklärte der

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_178.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)