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geliehen haben, so haben sie damit nur gethan, was alle anderen Völker mehr oder weniger zu allen Zeiten gethan zu haben scheinen. Nach einer genauen Untersuchung der Byilinyi der Russen hat Stasow nachzuweisen versucht, dass beinahe ihr ganzer Stoff, ja sogar ihre poetische Ausdrucksweise eine Nachahmung tatarischer, persischer und indischer Dichtungen ist. Was die Edda betrifft, so sucht jetzt der Norweger Bugge, freilich nicht ohne auf grossen Widerstand zu stossen, die Ansicht zu erweisen, dass die Mythen derselben zum grössten Teile Paraphrasen biblischer Erzählungen und mittelalterlicher Legenden oder auch griechisch-römische Mythen und Dichtungen sind. Die bei allen Völkern bekannten Volksmärchen sind, wie die Forschung unserer Zeit gezeigt hat, meistens Fremdlinge, welche von den Ebenen Irans oder von den Ufern des Ganges eingewandert sind. Was war auch die römische Kunstpoesie anderes, als ein neuer, selten verbesserter Aufguss der Werke griechischer Dichter? Und die so selbständigen Griechen, wieviel ihrer Mythe, Sage und Kunst haben sie nicht aus Ägypten und Westasien geholt, obwohl sie freilich das erhaltene Erbe wesentlich bereicherten und verbesserten? Überall, wohin wir auch blicken, sehen wir Entlehnungen und immer nur Entlehnungen. Eine vollkommene Selbständigkeit in bezug auf den Stoff scheint für die Volkspoesie überhaupt kaum möglich und auch für die Kunstpoesie in älteren Zeiten schwer gewesen zu sein. Wieviel kauten nicht die französischen tragischen Dichter des 17. Jahrhunderts noch die klassischen Stoffe wieder?

Immer und immer wieder macht sich das Seherwort Tegnérs geltend:

Alle Bildung steht schliesslich auf ausländischem Grunde;
Nur die Barbarei war immer vaterländisch!

Auch kann ich darin gar nicht etwas so Erniedrigendes sehen. Grossartig wäre freilich der Gedanke, dass das eigene Volk im stande gewesen ist, aus der Tiefe seines Geistes alles zu schaffen, was alsdann seinen Stolz ausmacht. Aber noch erhebender ist doch der Anblick des einen grossen Kulturstromes, der, entsprungen fern unter den Palmen Indiens und in den fruchtbaren Ebenen Ägyptens, seine gewaltigen Wogen nach Westen wälzt, das südliche Europa befruchtet, um sich dann wieder nach Osten zu wenden und auch ihrerseits Europas nördliche Hälfte fruchtbar zu machen. Das eine Volk nach dem andern empfängt ihn, entwickelt sich unter seinem Einflusse und schickt ihn vergrössert und vermehrt zum Nachbar. Sinnlos ist es, hierbei zu mäkeln über die grössere oder geringere Bildungsfähigkeit des einen oder des andern Volkes; das ist ganz einfach eine Zeitfrage. Die Völker, welche infolge ihrer geographischen Lage später vom Strome berührt werden, müssen natürlich später der Bildung teilhaftig werden und erscheinen alsdann weniger reich an Originalität, weil das ihnen zufallende Erbe schon um so viel grösser ist. Aber nichts hindert sie, später durch ihre Arbeit es in gleichhohem Masse zu vergrössern wie ihre Vorgänger.

In bezug auf die Dichtungen, um die es sich hier an erster Stelle handelt, ist es ausserdem nicht der Stoff, welcher am wertvollsten ist, sondern die künstlerische Umformung desselben. Schiller fand den Stoff zu seinem Wilhelm Tell fertig vor, ebenso Shakespeare zu seinem König

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_215.png&oldid=- (Version vom 11.4.2024)