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Die Tochter der Witwe entschloss sich, das Erlösungswerk zu vollbringen. Sie ging in den Wald und lebte dort wie die Tiere des Waldes, von Früchten und Wurzeln. Des Nachts kletterte sie auf einen Baum und schlief in seinen Zweigen. Ihre Kleidung zerfiel, so dass das lange Haar ihres Hauptes bald ihre einzige Bedeckung war, aber sie war zufrieden und glücklich in dem Gedanken, ihren Bruder erlösen zu können.

So waren bereits drei Jahre verflossen. Da geschah es eines Tages, dass der junge König des Landes mit Gefolge in den Wald auf die Jagd ging. Zufällig traf es sich, dass der junge König sich von seinem Gefolge etwas entfernt hatte. Plötzlich erblickte er ein seltsames Wesen, welches nicht Tier und nicht Mensch zu sein schien. Dasselbe lief beim Anblick des Königs eilig davon und kletterte behend auf einen Baum. Der junge König trat näher hinzu. Er redete das Wesen in verschiedenen Sprachen an, erhielt aber keine Antwort. Schon legte er einen Pfeil auf die Bogensehne, um zu schiessen, da fiel ihm der Gedanke ein, das seltsame Wesen sei vielleicht ein Mensch, der stumm sei. Er forderte es also auf, wenn es nicht ein Tier, sondern ein Mensch wäre, so solle es vom Baume herabkommen, sonst werde er schiessen. Sogleich kam dasselbe vom Baume herab. Nun sah der junge König, dass es ein Mädchen war, und da inzwischen der Abend hereingebrochen war, nahm er es mit sich auf sein Schloss, ohne dass jemand es gewahr wurde. Hier wies er ihm ein Zimmer an und liess dem Mädchen aus dem Walde Kleidung reichen. Als das Mädchen dieselbe angelegt hatte, erwies es sich, dass sie die schönste Jungfrau in allen Landen war.

Fortan besuchte sie der junge König täglich. Er gewann sie lieb und immer lieber und brachte ihr selbst, damit niemand von seinem Geheimnis etwas erfahre, Essen von seiner Tafel.

Endlich fiel der verwitweten Mutter des jungen Königs das Verhalten ihres Sohnes auf. Sie fragte nach der Ursache und ihr Sohn erzählte alles, ja er sagte sogar, er sei fest entschlossen, die schöne Jungfrau zu heiraten.

Zuerst wollte die alte Königin von diesem Gedanken nichts wissen, als sie aber die Schönheit des Mädchens und ihr liebenswürdiges Benehmen sah, willigte sie ein, trotzdem die zukünftige Gemahlin ihres Sohnes stumm zu sein schien. Die Hochzeit ward mit grosser Pracht gefeiert und der junge König fühlte sich glücklich an der Seite seiner Gemahlin, trotzdem dieselbe nie ein Wort sprach und zuweilen traurig war. Das war aber dann der Fall, wenn sie an ihren Bruder dachte. Kurze Zeit nach der Hochzeit starb die alte Königin. Nun stand die junge Königin allein am Hofe; ausser ihrem Gemahl hatte niemand sie lieb, ja die Damen und Herren am Hofe sannen darauf, sie zu verderben. Sie konnten es nämlich derselben nicht verzeihen, dass sie die Liebe des Königs erworben hatte und nicht eine von den Hofdamen an ihrer Stelle auf dem Throne sass.

Als etwa ein Jahr verflossen war, nahte die Zeit heran, in welcher die Königin ihren Gemahl mit einem Kinde beschenken sollte. Jetzt schien es ihren Feinden gelegene Zeit, sie zu verderben. Zu dem Zwecke wussten sie an der fernsten Grenze des Landes einen Krieg anzuzetteln.

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_236.png&oldid=- (Version vom 22.7.2023)