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das Majoritätsprincip aus den römischen Quellen als einen für alle Corporationen giltigen Rechtssatz hin. Ihnen folgte die canonistische Doctrin und indem sie in ihm ein wesentliches Merkmal jeder Corporation erblickte, führte sie dasselbe ähnlich den römischen Glossen auf eine Fiction zurück, kraft deren ohne Weiteres dasjenige, was die Mehrheit in ordnungsmäßiger Versammlung beschlossen hätte, als Wille der universitas zu gelten hätte[1]. Eine innere Begründung dieses Satzes aus dem Wesen der Corporation versuchte man aber noch nicht. Wir dürfen nicht übersehen, dass uns derlei Gedanken auch schon in der antiken Philosophie, vor Allem in der Politik des Aristoteles begegnen. Hier in Italien wurden dieselben ganz selbständig, da man ja Aristoteles damals im Abendlande noch gar nicht kannte, aus den reichen Schätzen des im Corpus iuris civilis überlieferten Rechtsstoffes neu erschlossen und gelangten so zu neuem Leben. Freilich wurde so manchem dieser Sätze in Folge gewisser seit alters in der Kirche herrschenden Anschauungen ein eigenartiger Stempel aufgedrückt. Neben der romanistischen entstand so alsbald eine eigene canonistische Corporationstheorie, und was dabei den Begriff der Stimmenmehrheit angeht, so fand derselbe durch die dem kirchlichen Rechte eigenthümliche Forderung der „sanioritas“ eine vom römischen Rechte abweichende Ausgestaltung[2]. Die Stimmen selbst wurden nicht allein gezählt, sondern

auch nach ihrem Inhalte und Werthe gewogen und beurtheilt, wozu die verschiedenen canonistischen Schriftsteller ein detaillirtes System von Formen der Stimmwürdigung aufstellten. All’ diese Grundsätze waren jedoch nur Rathschläge,

  1. Gierke a. a. O. Bd. III. S.245 ff. 322 ff. Zuerst in der Summa des Bernardus von Pavia, edidit Laspeyres S. 7; dann auch bei Damasus (vgl. Schulte in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie, Bd. 66. S. 150).
  2. Dieser Gedanke ist älter als die Reception der römischen Corporationslehre, er ist dem kirchlichen Rechte eigenthümlich. Zum erstenmale finde ich die ganze Lehre ausgesprochen bei {SperrSchrift|Rufinus|0.1}} im Anschlusse an ältere Stellen des decretum Gratiani. Weiter ausgestaltet bringt sie Stephan von Tournay; sie kehrt dann in etwas einfacherer Fassung bei Bernhard von Pavia, späterhin auch bei Huguccio wieder, und wurde so noch während des 13. Jahrhunderts vorgetragen. Vgl. übrigens auch Gierke a. a. O. Note 247.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred von Wretschko: Der Einfluss der fremden Rechte auf die deutschen Königswahlen bis zur Goldenen Bulle. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1899, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_fuer_Rechtsgeschichte_Germ._Abt._Bd_20_191.JPG&oldid=- (Version vom 1.8.2018)