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Kantstraße 5 schräg gegenüber lag eine Buchhandlung. Dort vor dem Schaufenster längere Zeit die Bücherschätze sich anzusehen, konnte kaum auffallen. Harsts Geduld wurde auf eine schlimme Probe gestellt. Erst kurz vor sieben Uhr abends verließ ein Herr, auf den Karls Beschreibung in jeder Einzelheit paßte, das Haus. Im Menschenstrom der Tauentzienstraße, in dem der Hagere nun verschwand, gelang es Harst sehr bald, ihn sich genauer und aus der Nähe anzusehen. Sein Personengedächtnis und seine Fähigkeit, selbst anders zurechtgestutzte Gesichter schnell zu erkennen, bewährte sich auch jetzt wieder.

Arpad Czigan, dachte Harst, du warst früher blond, hattest einen Spitzbart und starke blonde Augenbrauen. Aber ein Taschendieb warst Du auch als Paul Menkwitz, nebenbei auch noch Einbrecher, doch stets ein sehr eleganter. Fraglos hast du auf dem Stettiner Bahnhof Deinen Zunftgenossen Komiker-Maxe wiedererkannt und angesprochen, denn umgekehrt wär’s kaum geschehen. Ich glaube nicht, daß Schraut sich über die Begegnung mit Dir gefreut hat, – genau so wenig, wie Du bei meinem Anblick in Entzücken geraten würdest.

So dachte Harst und hielt sich nun in größerer Entfernung hinter dem „Künstler“. Vielleicht gelang es ihm, Paul Menkwitz alias Monokel-Paul bei einer neuen Fingerfertigkeit zu ertappen. Ein weitergehendes Interesse hatte er nicht an dessen Person. Aber er hatte zur Zeit nichts Besseres vor, und nur deshalb gab er diese Beobachtung des eleganten Spitzbuben noch nicht auf. Sehr bald sprach ihn dann jedoch ein Bekannter an, der gleich ihm Mitglied des Universum-Klubs war, einer Vereinigung, die neben der Pflege der Geselligkeit auch wissenschaftliche Vorträge auf allen Gebieten eine verfeinerte geistige Kost bot. Harst sah gerade noch, daß Monokel-Paul den Laden des Juweliers Birnbacher betrat.

„Lieber Harst, haben Sie kranke Augen?“ meinte der Kommerzienrat Kammler und drückte ihm herzlich die Hand. „Ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt. Die Brille entstellt Sie sehr.“

„Nur eine ganz leichte Bindehautentzündung.“

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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/29&oldid=- (Version vom 1.8.2018)