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gezeigt und dabei geäußert hatte: „Ein armes, unglückliches Geschöpf!“ – Er hatte damals jedoch weiter kein Interesse für jenes Bild und jenes Mädchen gehabt.

Er lenkte jetzt das Gespräch auf andere Dinge. Nachher ging er in Margas Zimmer hinüber und suchte sich aus den vielen Bildern des Albums dasjenige heraus, auf dem auf der Rückseite stand: „In ewiger, innigster Liebe – Deine Claire. Gotha, Weihnachten 19…“ – Er steckte es zu sich und fuhr nach Hause.

Frau Auguste wunderte sich, daß er beim Abendbrot so schweigsam war.

„Hast du eine Enttäuschung bei Deinen Nachforschungen erlebt, mein Junge?“ fragte sie nach einer Weile.

Da glitt ein kurzes Aufleuchten über sein Gesicht. „Im Gegenteil, Mutter, – im Gegenteil! – Frage jetzt aber nicht nach Einzelheiten. – Ich bin nur nachdenklich, weil ich mich scheue, jene Lokale zu besuchen, in denen die Berliner Lebewelt dritter und vierter Güte sich trifft. Und doch werde ich’s tun müssen. Es geht nicht anders. Auch Karl wird wieder helfen müssen. Für mich allein ist die Arbeit zu umfangreich.“

Sofort regte sich in dem treuen Mutterherzen die Angst um das Leben ihres Einzigen. „Harald, Harald,“ warnte sie ernst, „laß Dich nur um Himmels willen nicht auf gefährliche Abenteuer ein! Ich weiß ja nicht, was Du eigentlich vorhast, aber – sei vorsichtig, ich bitte Dich!“

Harst streichelte ihre Hand. „Keine Sorge! Das, was mich in jene Lokale führt, ist ganz gefahrlos.“

Nach dem Abendessen bestellte er den Jungen zu sich und hatte eine lange Unterredung mit ihm, bei der er ihm das Bild Claire Rucksers zeigte und ihn auf die etwas starke Stupsnase, die großen Augen und die auffallend kurze Oberlippe aufmerksam machte.

Karl war begeistert. „Herr Assessor, Sie sollen sehen: Ich bring’s heraus! Ich bin doch helle!“

„Vermeide jedoch jedes unnötige Aufsehen, Junge. Und vergiß nicht: sobald Du den langen Hageren irgendwo bemerkst, sei besonders vorsichtig.“ –

In den Ballsälen des Nordens in der Chausseestraße

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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/33&oldid=- (Version vom 1.8.2018)