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jetzt davon. Rüsten Sie sich. Es wird Zeit. Ihr Zug geht 9 Uhr 45 ab Lehrter Bahnhof.“ –

Ich bin jetzt einundvierzig Jahre alt. Aber der Herr, der dann den Hamburger Zug bestieg und es sich an einem Fensterplatz 2ter, Raucherabteil, bequem machte, war mindestens sechzig. Nun – für mich als früheren Schauspieler ist „Maske machen“ nicht schwer. Harst hat’s wieder von mir gelernt. – Kurz vor Abgang des Zuges kam noch ein langbärtiger Kerl herein, der einen starken Fuselgeruch mitbrachte und der offenbar leicht angetrunken war. Sein Gesicht war die typische Säuferphysiognomie. Und trotzdem: es war Harst! – Erst als wir zehn Minuten unterwegs waren, sprach er mich an. Wir waren die einzigen Reisenden in unserem Abteil. Wir unterhielten uns nur über nebensächliche Dinge, bis Harst mir dann die neueste Abendzeitung reichte und auf eine bestimmte Stelle darin deutete. – Ich las die dickgedruckte Überschrift (es war eine Anzeige in Größe 6 mal 6 Zentimeter): „Fünf Preßburger“ – darunter – „wünschen die Bekanntschaft hübscher, heiratslustiger, junger Damen zu machen. Diskretion zugesagt. Briefe unter K W 111 an die Expedition dieser Zeitung.“ – Ich ließ das Blatt sinken. Da beugte Harst sich weit vor und flüsterte mir zu: „Es ist die erste Spur, Schraut. Merken Sie sich: Im Annoncenteil steht manchmal mehr als unter Allerneuestes. – Gute Nacht. Ich schlafe jetzt.“ – Er lehnte sich in seine Ecke zurück, streckte die Beine aus und schien wirklich in kurzem eingeschlummert zu sein. Mein Ehrgeiz hielt mich dagegen noch lange wach. Ich grübelte über Harsts Worte nach. – Erste Spur?! – Ich sann und sann. Dann – kam mir wie ein Blitz die Erleuchtung. Ich erinnerte mich: Harst hatte ja Preßburger Straße 5 erwähnt! Und in der Anzeige hieß es „Fünf Preßburger“! – Ja – diese scheinbare Heiratsannonce hielt er für den Beginn einer Fährte – ohne Zweifel! – Ich muß hier einfügen (für die Leser, die die Einzelheiten der Mordsache Schmiedicke nicht mehr genügend gegenwärtig haben), daß der Geldbriefträger lebend zuletzt im Hause Preßburger Straße 5 von der Frau Regierungsrat Walter gesehen worden war (gegen elf Uhr vormittags am 3. Mai),

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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/90&oldid=- (Version vom 1.8.2018)