Selbstsucht und Nächstenliebe
[788] Selbstsucht und Nächstenliebe. Der verständige Mensch hört gern auf die Rathschläge des Alters und läßt sich von ihnen leiten. So muß man demjenigen dankbar sein, der die Erfahrungen eines langen Lebens gesammelt und gesichtet dem jüngeren Geschlechte übermittelt, damit es daran lerne. Dieser Dank gebührt auch dem Manne, der uns das Buch geschenkt „Aus den Lebenserfahrungen eines Siebzigers“ (Gotha, F. A. Perthes). In ihm hat er niedergelegt, was sich dem einsamen Greise als die Summe seines Daseins ergab, schlicht und einfach, aber eindringlich und überzeugend. Vernehmen wir als eine Probe, wie er über Selbstsucht und Nächstenliebe redet!
„Nicht bloß kleine Leiden zu vergessen, auch schwerste Kümmernisse zu lindern und allmählich in Seelenheiterkeit umzuwandeln, giebt es kein besseres Mittel als Arbeit für gemeinnützige Zwecke. Schon die Arbeit an sich stumpft jeden Stachel ab. Ein besonderer Segen liegt aber in dem uneigennützigen Thun für andere, ohne Seitenblicke auf Dank oder öffentliche Anerkennung. Die Früchte werkthätiger Liebe scheinen nicht selten zweifelhaft, ja den Erwartungen entgegengesetzt. Auch das soll nicht beirren. Dürfen wir uns sagen, daß wir guten Willen, ehrliches Bemühen eingesetzt haben, so bleibt die wohlthätige Rückwirkung auf uns selbst niemals aus. Die Eigenliebe ist ein schlechter Rechner. Aber nur wer von Nächstenliebe ohne selbstsüchtige Hintergedanken erfüllt ist – neuere Philosophen haben dafür das Wort ‚Altruismus‘, als Gegensatz zum ‚Egoismus‘, geschaffen – kann das einsehen. Jedem andern erscheint die Behauptung widersinnig oder heuchlerisch. Der Egoismus, ja schon die Selbstliebe, wenn sie sich und ihre Ziele scharf ins Auge fassen, müßten, sollte man meinen, zu einer zersetzenden Kritik an sich selbst gelangen. Der einzelne Mensch ist doch nur ein Punkt im unermeßlichen All. Wer daran nicht denkt, seine Person nicht als Theil des großen Ganzen auffaßt, sondern Liebe und Sorge, Sinnen und Trachten auf dieses armselige leibliche Ich konzentriert, das so leicht geschädigt, vernichtet werden kenn, dessen ‚Leben dahinfährt, als sei eine Wolke dagewesen‘, gleicht einem ‚thörichten Manne, der sein Haus auf Sand baute‘.“