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Simonds Reise nach Italien

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Titel: Simonds Reise nach Italien
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aus: Das Ausland, Nr. 82; 84. S. 325–326; 334–336.
Herausgeber: Eberhard L. Schuhkrafft
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1828
Verlag: Cotta
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Scans bei Commons
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[325]

Simonds Reise in Italien.

[1]
Erster Artikel.

Nachdem so viele Tausende das schöne Italien gesehen und so viele Hunderte, was sie darin gesehen, beschrieben haben, hält man es fast allgemein für so gut als unmöglich, etwas neues über das alte Hesperien zu sagen. Die verborgensten Anspielungen in den Classikern sind gedeutet, die Chroniken des Mittelalters geplündert und die Ereignisse der neuern und neuesten Zeit erschöpft worden; und man braucht daher den Fuß nicht über die Alpen zu setzen, um in Venedig, Mailand und Turin, in Genua, Florenz, Rom und Neapel besser zu Hause zu seyn, als – im Falle geringer Unordnung der Ideen, Papier und sonstigen Hausgeräthe – in seinen eigenen vier Pfählen. Dennoch möchten wir uns eben auf diesen Umstand beziehen, indem wir behaupten, daß nichts leichter sey, als auf Feldern, die man einmal als abgethan zu betrachten gewohnt ist, überraschende Entdeckungen zu machen; und namentlich sind wir überzeugt, daß wenige Ausländer die Schwelle der ersten italienischen Osteria betreten haben werden, die nicht, sobald sie nur für gut fanden, ihre Augen zum Sehen anzuwenden, sich in eine fremde Welt versetzt fanden, von der ihnen weder ihre Excerpte aus den Alten, noch die Bibliotheken frommer Mönche, noch die Zeitungen, Berichte und Beschreibungen unserer Tage einen Begriff gegeben haben. Daß dennoch der Gewalthaufe der Reisenden bei dieser Terra incognita täglich – im wörtlichsten Verstande – mit Extrapost vorbeifährt und nur selten Einzelne einen Blick in dieselbe thun, kann uns nicht befremden, wenn wir unter andern Abenteuerlichkeiten jener Heerfahrt vernehmen, daß blinde Professoren den Zug führen, die Gegenstände schildern, beurtheilen und auslegen, welche sie, mit ihren physischen Augen wenigstens, nie erblickt haben. Ob dieser Brauch so allgemein sey, wie uns versichert worden ist, wollen wir nicht entscheiden; aber bekannt ist es uns z. B., daß eines der geschätztesten Werke über Kunst in Italien von einem Manne geschrieben worden ist, der nicht länger als vier Wochen in Italien gewesen war, und daß ein anderes eben so schätzbares Werk über italienische Alterthümer von einem jungen Gelehrten herausgegeben wurde, der, während er in den Logen des Vatikans die „herrlichen Fresken Raphaels“ bewunderte, die Hoffnung äußerte, er werde bei einem künftigen Besuche im Stande seyn – sie zu sehen. – Claudite jam rivulos, pueri! sat prata biberunt.

Manchen überraschenden Blick in die unbekannten Regionen, die wir eben erwähnten, haben wir in der kürzlich erschienene „Reise in Italien und Sicilien,“ von Simond, dem Verf. der Reisen in England und der Schweiz, bemerkt, und wir glauben daher eine Pflicht gegen unsere Leser zu erfüllen, indem wir sie durch eine Reihe von Auszügen auf dieses Werk aufmerksam machen; zumal da wir dasselbe für eine deutsche Uebersetzung bei der großen Einseitigkeit des Verfassers, die ihm nie einen andern Standpunkt einzunehmen erlaubt, als den eines französischen Gelehrten und – wie man jetzt zu sagen pflegt – constitutionellen Royalisten, eben nicht geeignet halten.

Gleich im Eingange können wir dem Verfasser, den die Simplonstraße aus dem Rhone-Thal in das der Toccia herab geführt hat, nicht beistimmen, wenn er uns, hergebrachter Weise, versichert: er habe sich plötzlich (im October) aus dem eisigen Winter in einen ewigen Frühling versetzt gefunden. In der ganzen Lombardei verlieren die Bäume ihr Laub fast eben so früh im Jahr, als im südlichen Deutschland; und nur an den Seen sehen wir hie und da auch im Winter das fette, aber sparsame grüne Laub des Oelbaums.

In Mailand angekommen, bemerkt er, daß die Regierung des Königreiches Italien zwei Millionen Lire (Franken) jährlich ausgesetzt habe, um den Bau des Domes – über welchen er, beiläufig, die gewöhnlichen, abgeschmackten Urtheile wiederholt – zu vollenden; gegenwärtig rücke die Arbeit nicht mehr vor, und sein Führer habe, um dieß zu erklären, seufzend gesagt: Non c’ è denaro! (Man hat kein Geld!) „Aber woher, meint ihr wohl, entgegnete Simond darauf, daß das Geld zu den Zeiten Bonaparte’s kam? Wurde es nicht aus euren Taschen gezogen? – Nicht aus der meinigen wenigstens, war die Antwort; i cavalieri (die Herren) zahlten, und das Geld, das auf der Stelle wieder ausgegeben wurde, kam im Gegentheil in die Taschen derer, die – wie ich – desselben bedurften und arbeiteten; während es gegenwärtig nach Wien geht und dazu dient, um den Engländern die Summen zu bezahlen, die sie den Oesterreichern geliehen haben, damit diese uns bekriegten. Es giebt jetzt weniger Abgaben, aber wir fühlen sie mehr.“ Wenn es uns auch eben nicht wahrscheinlich bedünkte, daß ein gemeiner Fachino oder Lohnbediente sich auf dem Dach des Domes in das angeführte Raisonnement eingelassen habe; so können wir doch nicht leugnen, daß dasselbe in der That für die öffentliche Meinung in Mailand und dem größten Theil der Lombardei sehr bezeichnend ist; erinnern müssen wir dabei nur [326] noch, daß es eine Ungerechtigkeit gegen die österreichische Regierung ist, zu behaupten, daß sie nichts auf Gegenstände des Luxus und sehr wenig auf Gegenstände von allgemeinem Nutzen verwende. Der beste Beweis dagegen ist schon der vortreffliche Zustand der Straßen in der Lombardei; außerdem sind die Arbeiten an den öffentlichen Bauten, die zu Napoleons Zeit angefangen wurden, keineswegs eingestellt worden, wenn sie auch nicht mehr denselben raschen Fortgang haben. So ist der Triumphbogen des Simplon (arco del Sempione), eines der herrlichsten Meisterwerke unserer Zeit, auf der Piazza d’armi, zwar unvollendet, wie Simond berichtet; aber er hätte nicht vergessen sollen, dabei zu erwähnen, was ihm bei einem Besuche unmöglich entgangen seyn kann, daß noch fortwährend eine nicht unbedeutende Anzahl von Arbeitern an demselben beschäftigt sey; und das Ganze daher allerdings in einigen Jahren vollendet seyn könne. –

Wenn auch nicht besser, so sind die Straßen doch unleugbar im allgemeinen sicherer jenseit des Po, als in der Lombardei, ohne daß deßhalb die österreichische Polizei weniger thätig wäre; aber im Mailändischen wo das Grundeigenthum in große Pachtungen getheilt ist, wird der Boden durch arme Taglöhner bearbeitet, die an nichts gebunden sind und nichts zu verlieren haben, während in der Romagna die Maier, die für ihre eigene Rechnung arbeiten, im Wohlstand leben und weder die Versuchung haben, selbst zu rauben, noch den Räubern bei sich eine Zuflucht verstatten würden. –

Die Bauern sind zwar auch hier nicht Eigenthümer ihrer Grundstücke, ja sie besitzen nicht einmal einen Contract über die Pachten, die viele Generationen hindurch vom Vater auf den Sohn übertragen werden, aber ihre stillschweigenden Uebereinkünfte mit dem Besitzer werden deshalb nicht weniger gewissenhaft erfüllt. Es ist nicht selten, daß man unter denselben da dreißig bis vierzig Personen bei einander findet, die verschiedenen Zweigen einer Familie angehören und in völliger Gemeinschaft der Güter und Interessen unter einem von ihnen selbst gewählten Oberhaupte stehen, welches allein gegen den Eigenthümer verantwortlich ist. Dieses Familienhaupt leitet die Nutzung des Bodens, wie seine Frau das Regiment im Hause führt; eine oder zwei von den andern Weibern übernehmen die Sorge für die Kinder, während die Väter und Mütter auf dem Felde sind. „wir haben die vergangene Nacht ein Kind verloren,“ sagte eine von ihnen, obgleich sie nicht die Mutter desselben war. Fast immer herrscht die vollkommenste Eintracht unter diesen Stämmen Israel, da alles im Interesse aller geordnet wird. Wenn das Haupt der Familie zu alt wird, oder sich unfähig zeigt, so ernennt man einen andern, der an die Stelle seines Vorgängers tritt. – Zuweilen zahlt der Pächter ein bestimmtes Pachtgeld, meist aber theilt er die Hälfte der verkäuflichen Producte mit dem Eigenthümer und zahlt zugleich die Hälfte der Lasten, die dem Grundstücke aufgelegt sind. Selten nimmt sich der Eigenthümer die Mühe, die Theilung zu beaufsichtigen; er wählt zwischen den Getraidhaufen und Hanfballen, wie sie der Pächter bereitet hat; seinen Antheil an Trauben schickt dieser ihm selbst in das Haus.

Der Eigenthümer nimmt auf diese Weise bis auf einen gewissen Grad selbst Theil am Landbau und ist wenigstens im Stande, denselben auf das genaueste zu kennen; zugleich ergiebt sich hieraus eine in moralischer und politischer Hinsicht gleich wichtige Verbindung zwischen zwei Classen der Gesellschaft, die überall, wo ein bestimmtes Pachtgeld eingeführt ist, einander völlig fremd bleiben müssen. Das ganze Land hat eine große Menge von Dorfgemeinden, aber nur sehr wenig Dörfer, da jeder Bauer seine Wohnung auf dem von ihm bearbeiteten Grundstück hat. Es finden daher weniger gesellige Verhältnisse zwischen den verschiedenen Familien statt; aber auch weniger Gefahr von Epidemien, sowohl bei den Menschen als dem Vieh. Diese patriarchalischen Vereine genießen eines großen Wohlstandes, obgleich sie immer nur sehr wenig baares Geld besitzen; sie verzehren den größten Theil ihrer Producte selbst und bringen nur wenig auf den Markt. Man zieht viel Geflügel; und Heinrich IV würde daher hier bei dem Bauern nicht selten „sein Huhn im Topfe“ finden. Die Weiber spinnen und weben und viele verstehen auch zu färben. Da es weder Steine noch Kies in diesen Gegenden gibt, so gehen sie gewöhnlich barfuß und häufig sieht man sie in ihrem Sonntagsstaate ihre Schuhe in der einen Hand und in der andern den Fächer, von denen sie gleich den ersten Damen Gebrauch zu machen wissen. Die Vergnügungen der Landleute beschränken sich größtentheils auf das Kugelspiel (au jeu des boules); sie kennen weder Tänze noch lärmende Zusammenkünfte, aber dafür haben sie ihre schönen Processionen mit Musik und Artilleriefeuer begleitet und oft durch Pferderennen beschlossen. Wein gibt es im Ueberfluß und doch sieht man nur selten Betrunkene und noch seltener blutige Zwistigkeiten; eben so wenig hört man von Diebstahl. – Die Erziehung des Landvolkes ist fast ausschließlich den Pfarrern überlassen, die sich wahrscheinlich wenig um dieselbe bekümmern; selten begegnet man Bauern, die lesen und schreiben können. In zahlreichen Familien ist noch immer der Gebrauch, einen der Söhne für die Kirche zu bestimmen, der dann der geistliche Herr Pietro, Agostino u. s. w. heißt und das Orakel der Familie wird. Alle Vertraulichkeit gegen ihn hört auf und man wagt nicht mehr, ihn Bruder zu nennen. Allgemein wird die Clerisei als eine besondere Kaste betrachtet, deren Interessen mit denen der übrigen Gesellschaft nichts gemein haben. Die Mönche bilden überdieß so viele verschiedene Classen, als es Orden gibt. Die Wiederherstellung der Bettelorden im J. 1816, während der grausamsten Hungersnoth, erregte allgemeines Mißvergnügen; man glaubte darin nur eine Handlung der Sparsamkeit zu sehen, durch welche die päbstliche Regierung sich von den Pensionen hätte befreien wollen, welche ihre illegitimen Vorgänger den secularisirten Mönchen gezahlt hatten, die jetzt gezwungen waren, wieder zu ihrem Bettelsack zu greifen.

[334] Wie wenig stimmt diese Schilderung zu der Vorstellung, die man sich gewöhnlich von dem Charakter des Italieners macht! Simond sucht diese Irregularität gleichsam zu rechtfertigen, indem er sagt: „die Italiener, die seit so langer Zeit in eine große Anzahl kleiner Staaten mit den verschiedensten Regierungsformen getheilt sind, können nicht als ein gleichartiges Volk betrachtet werden, und es wäre eben so unrichtig als ungerecht, sie als ein Ganzes nach demselben Maaßstab zu beurtheilen.“ So wenig wir auch dieser Bemerkung unsere Billigung versagen können, wenn sie dahin beschränkt wird, daß der Charakter eines in so viele verschiedene Gruppen vertheilten Volkes nothwendig auch sehr verschieden seyn müsse, so können wir doch auf der andern Seite uns nicht enthalten, sie hier, wo es galt, eine fast allgemein verbreitete irrige Meinung zu widerlegen, sehr am unrechten Platze zu finden. Ueberall, in ganz Italien, begegnen Simond Züge natürlicher Gutmüthigkeit und ungebildeter, aber auch unverdorbener Humanität; statt nun hieraus den Schluß zu ziehe, daß die gewöhnliche Ansicht von der tiefen Entartung und Entwürdigung des Italieners eine durchaus unrichtige sey, scheint er vielmehr zu folgern: die Italiener sind schlecht, weil sie allgemein dafür gehalten werden; diejenigen, welche [335] ich gesehen habe, waren recht gute Menschen, daher müssen die übrigen, welche ich nicht gesehen habe, um so schlechter seyn.

Freilich ein Besipiel patriarchalischer Einfalt, wie das, auf welches sich die eben angeführte Bemerkung bezieht, möchte nicht blos in Italien, sondern wohl in der ganzen cultivirten Welt selten zu finden seyn: „Am Fuße des Monte Rosa, erzählt Simond, im Distrikt von Varallo (Lombardei) liegt Alagna, eine Gemeinde von zwölfhundert Seelen, worin seit vierhundert Jahren nicht ein einziger Civil- oder Criminalproceß, oder selbst nur eine Verhandlung vor einem Notar vorgekommen ist. In den seltenen Fällen eines Fehltrittes oder schwereren Vergehens war der Schuldige gezwungen, sogleich sich zu entfernen. Einesmals befand sich ihr Pfarrer in diesem Fall, und während eines vollen Jahres, daß sie eines Seelsorgers entbehrten, hielt einer ihrer Aeltesten zu den gewöhnlichen Stunden des Gottesdienstes das Gebet in der Kirche. Die väterliche Gewalt ist unumschränkt; sie dauert das ganze Leben hindurch und der Vater verfügt über sein ganzes Vermögen nach Gutdünken, ohne schriftliches Testament, da die mündliche Erklärung seines letzten Willens immer beachtet wird. Vor kurzem starb ein Einwohner von Alagna und hinterließ sein für dieses Gegenden beträchtliches Vermögen (100,000 Lire) einem andern als seinem natürlichen Erben. Dieser begegnet nicht lange darauf in der benachbarten Stadt einem Advokaten von seiner Bekanntschaft und hört von ihm, daß die Gesetze, welche das Gewohnheitsrecht von Alagna nicht anerkennten, ihn bald – wenn er wollte – in Besitz der Erbschaft setzen würden, der er auf so harte Weise beraubt worden sey. Der Advokat bot zugleich seine Dienste an, die anfangs abgelehnt wurden; in der Folge verstand sich jedoch der enterbte Sohn dazu, die Sache näher zu überlegen. Drei Tage sah man ihn darauf unruhig und in Gedanken, beschäftigt – wie er seinen Freunden sagte – mit einer wichtigen Angelegenheit. Endlich ließ er den dienstfertigen Advokaten holen und sagte ihm einfach; „Das, was ihr mir vorschlagt, ist niemals bei uns geschehen und ich will der nicht seyn, der zuerst das Beispiel dazu gibt.“ – Die Untreue in der Ehe ist zu Alagna unbekannt, wenn auch vor ihrer Verheirathung die Frauenzimmer nicht immer keusch sind. Aber es ist nicht selten, daß sie einen Mann finden, der das Kind einer früheren unglücklichen Liebe statt des seinigen annimmt. Mitten unter allen den Umwälzungen, welche Italien seit zwanzig Jahren verheert (?) haben, haben diese Leute ihre alten Sitten und Gebräuche unverändert behalten. Als die Conscription sie traf und sie nicht dienen wollten, machten sie eine gemeinschaftliche Casse, um sich Stellvertreter zu verschaffen und stellten sich selbst nur in der äußersten Noth. Alle, welche das Schwert verschont hat, sind seitdem wieder zu ihrem Heerd zurückgekehrt; und selbst einen ausgezeichneten Arzt, der lange im Auslande gelebt hatte, sah man diesem Beispiele folgen. Zwei sehr alte Hochzeitkleider, das eine für den Bräutigam und das andere für die Braut, werden im Gemeindehause aufbewahrt, und die, welche sich verheirathen, arm oder reich, bedienen sich derselben für die Ceremonie der Trauung.“ Simond glaubte in der schönen länglichen Physiognomie der Bewohner von Alagna eine gewisse Familienähnlichkeit mit den Berner Oberländern zu erkennen, was ihm auf eine gemeinschaftliche Abstammung hinzudeuten schien; wie er dieß aber auch durch den Dialect bestätigt finden konnte, ist uns nur durch seine vermuthliche Unkenntniß desselben erklärlich.

Eine besondere Aufmerksamkeit hat Simond der Sitte zugewendet, die man diesseits der Alpen das Cicisbeat zu nennen pflegt. In Italien ist diese Benennung so ungewöhnlich, als – wenn man der Versicherung der Italiener glauben soll – die Sache selbst, wenigstens da, was man sich im Norden darunter denkt.

„Sobald ein Ehemann in Italien einen oder ein Paar Söhne hat, – sagte Simond zu einem Florentiner, – wird er ungeduldig, seine gewohnte Freiheit wieder zu erhalten, und er gesteht dieselbe eben so stillschweigend seiner jungen Gemahlin zu, indem er sie fern von seinen Augen allen Verführungen blosstellt, denen sie, wie er wohl weiß, in einer Welt ausgesetzt ist, die er besser kennt als sie. In der Folge kommen Mann und Frau mit einander überein, jeden seinerseits seinen Neigungen ohne allen Zwang und Rückhalt nachgehen zu lassen. Wenn sich Streitigkeit zwischen der Dame und ihrem Cavaliere servente – denn dieß ist der Name, der an die Stelle des längst veralteten Cicisbeo getreten ist – erheben, so geschieht es nicht selten, daß der nachsichtige Gemahl sich einmischt, um die Aussöhnung zu bewirken und dabei selbst zu Gunsten des häuslichen Friedens und der Gerechtigkeit von seiner ehelichen Autorität Gebrauch macht, wenn er den Freund gemißhandelt glaubt. Bei einer solchen Lage der Dinge können die Kinder, nach dem erstgebornen, dem nicht besonders am Herzen liegen, der für ihren Vater gilt, und es ist daher natürlich, daß sie im höchsten Grade vernachlässigt werden. Die Töchter, im Kloster erzogen, bleiben darin und nehmen den Schleier aus Unzufriedenheit und Langeweile, wenn es den Eltern nicht gelingt, einen Mann für sie zu finden, was das Resultat von Unterhandlungen ist, bei denen nur das Interesse zur Grundlage dient. Die jüngeren Söhne leben von ihrem Pflichttheil und werden Priester oder Cavalieri serventi, ohne sich je zu verheirathen, und es findet sich selten, daß sie so viel Entschlossenheit haben, auswärts ihr Glück zu suchen. Die Ehe ist nie die Folge wechselseitiger Zuneigung; und da Alter wie Geschmack beider Theile verschieden sind, ist Liebe in der Ehe etwas unerhörtes. Die Weiber, welche aller Geistesbildung entbehren, können sich mit nichts beschäftigen, als mit Stadtklatschereien; der einzige Gegenstand ihrer Unterhaltung sind die Herzensangelegenheiten ihrer Bekannten, ohne daß sich indessen dabei die geringste Bosheit (malice) oder auch nur Plaisanterie zeigte. Dieß ist vielmehr eine Sache, mit der man sich auf das ernsthafteste beschäftigt und worin man nichts Lächerliches findet. Sie machen sich gegenseitig Condolenz-Besuche wegen des Verlustes eines Cavaliere servente.

Der Italiener antwortete: „Ein cavaliere servente ist nichts anders als ein amico della casa, (Hausfreund) [336] wie in Frankreich und England; ein Familienvertrauter braucht deshalb nicht immer der Liebhaber der Frau vom Hause zu seyn. Man ist in Italien mehr müßig als anderwärts; man hat wenig Vergnügungen und wenig Geschäfte; und selbst in den niederen Ständen arbeitet man weniger, als in andern Ländern. Man hat daher mehr Zeit für die Aufmerksamkeiten und Gefälligkeiten, welche Damen verlangen; und eine solche Verbindung hat ihre Annehmlichkeiten, ohne daß sie mit Unsittlichkeiten oder Ausschweifungen verknüpft zu seyn braucht.“

  1. Voyage en Italie et en Sicile par L. Simond, auteur des voyages en Angleterre et en Suisse. Paris 1828.
[425]
Zweiter Artikel.

Wenn wir das Selbstbewußtseyn als gleichbedeutend mit dem geistigen Leben und Seyn überhaupt betrachten dürfen – und dazu haben wir allerdings das Recht, da derjenige Theil unseres Seyns, welcher uns nicht zum Bewußtseyn kommt, natürlich keiner Betrachtung, also auch keiner Berechnnung unterliegen kann; so müssen wir wieder als den Kern und den innigsten Inhalt unseres Seyns die Erkenntniß des Schönen und Guten in uns, die Anerkennung und Behauptung unseres eigenen innern Werthes betrachten; und dieß ist das, was wir Ehre (honor, honestas) nennen. Zwar versteht man gewöhnlich unter Ehre nur jene Caricatur derselben, die den wahren Besitz geistiger Schönheit auf sich beruhen läßt, und nur den äußern Schein und die Voraussetzungen derselben von Fremden verlangt; aber jeder Lüge liegt ein Theil des Wahren zum Grunde, da der Irrthum selbst nur mangelhafte Erkenntniß der Wahrheit ist; und so ist auch jene Scheinehre mit allen den Verirrungen, zu denen sie führen muß – indem sie nicht in, sondern außer uns unsern Mittelpunkt setzt – doch nichts anderes, als die mangelhafte zeitliche Form, in welcher sich die vollkommene, ewige Idee der wahren Ehre kund gibt. Jeder Mensch trägt in seiner Seele die Abdrücke oder die Keime – wie wir es nennen wollen – aller göttlichen Ideen; denn das Unendliche – der Geist – ist untheilbar, und in jedem geistigen Wesen ist daher der ganze Geist und nicht etwa bloß ein Theil oder einzelner Ausfluß desselben. Jeder hat gleiche Ansprüche auf Anerkennung seines Werthes; und wenn wir dennoch gezwungen sind, einen Unterschied zwischen den einzelnen Individuen anzunehmen, so kann sich dieser nicht auf den geistigen Werth an sich, sondern nur auf die festere, kräftigere oder schwächere Behauptung desselben beziehen. Der höchste Ruhm des Menschen ist daher die Tapferkeit (virtus), oder die Kraft, mit der er seine Ehre, die Anerkennung seines Werthes behauptet; die tiefste Schmach die Feigheit, oder die Schwäche, welche, ungerecht gegen sich selbst, ihre Ansprüche auf jene Anerkennung aufgibt.

Wir glauben, nachdem wir diese Bemerkungen vorausgeschickt haben, kein Mißverständniß befürchten zu dürfen, wenn wir die unbedingte Verachtung eines einzelnen Individuums, und noch vielmehr als eines ganzen Volkes unter allen Umständen für ungerecht erklären, und selbst die Ausflucht zurückweisen, mit der man gewöhnlich diese Inhumanität zu beschönigen sucht: daß freilich jeder schlechte Mensch auch noch seine guten Seiten habe, und jedes noch so schlechte Volk ausnahmsweise einzelne ganz vortreffliche Individuen in seiner Mitte zähle. Es gibt keine absolut schlechten Menschen und keine schlechten Völker; aber es gibt Zustände, in denen der Mensch die Kraft verliert, das ihm angeborene Schöne und Gute äußerlich zur Erscheinung zu bringen, es gibt Lagen, in welchen das einem Volke inwohnende Gute zurückgedrängt und unterdrückt werden muß; daher gibt es tapfere und feige Menschen, tapfere und feige Völker.

Streng unterscheiden müssen wir aber von der Tapferkeit, die nur standhafte Behauptung des individuellen Werthes ist, unter allen Umständen, welche denselben gefährden könnten, jene Bereitwilligkeit zur Selbstaufopferung, die in der Unterordnung und Hingebung der Persönlichkeit für ein höheres Ganze besteht. Ein Volk kann die ausgezeichnetste moralische Kraft oder Tapferkeit besitzen, ohne deshalb der Aufopferung fähig zu seyn; und umgekehrt sehen wir Nationen, die auf einer Stufe der Bildung stehen, auf welcher von einer höhern Entwicklung der moralischen Kraft nicht die Rede ist, die größten Opfer der Hingebung bringen. Können wir es Tapferkeit, in unserem Sinne, nennen, wenn der Russe sich z. B. in der Schlacht von Zorndorf auf seinem Posten ohne Gegenwehr niedermetzeln ließ, um das Gebot des Feldherrn nicht zu verletzen? Aber eben so dürfen wir auch fragen: ist es Feigheit, wenn der Italiener sich nicht aufgefordert fühlt, für eine Sache zu fechten, die ihm fremd ist, die keine Bedeutung für ihn hat? Dieselben Lazzaroni, die den Truppen der französischen Republik den Besitz von Neapel drei volle Tage lang streitig gemacht hatten, weil sie Ketzer – Feinde des heil. Gennaro, ihrer Religion und Sitten in ihnen sahen, zeigten sich beim Einmarsche der Oesterreicher im Jahr 1821 als gleichgültige Zuschauer; waren sie deshalb seit jener Zeit etwa feige geworden?

Feigheit ist der Mittelpunct aller jener Schwächen, die man gewöhnlich unter dem Ausdruck der moralischen Schlechtigkeit zusammenfaßt; es ist daher nicht zu verwundern, wenn bei den sehr verschiedenartigen und oft einander widersprechenden Klagen der Fremden über die Erbärmlichkeit der Italiener, – indem der eine ihnen Hang zur Liederlichkeit und zu Ausschweifungen, der andere Habsucht und Geiz, der eine knechtische Unterwürfigkeit und Falschheit, der andere Hochmuth und ungezähmte Rachsucht [426] vorwirft, – dennoch alle in dem Vorwurfe der Feigheit übereinstimmen. Es liegt gegenwärtig außerhalb unseres Planes, in eine Untersuchung der zufälligen Umstände einzugehen, welche jene so allgemeinen Klagen veranlaßt haben können; in den meisten Fällen dürfte überdieß zur Erklärung derselben, bei den überspannten Erwartungen, mit welchen die Reisenden aller Nationen „den classischen Boden von Italien“ zu betreten pflegen, die natürliche Folge dieser Ueberspannung, die Täuschung der darauf gegründeten Erwartungen, hinreichend seyn.

Aus der ganzen Schaar der Reisebeschreiber, die in der neuesten Zeit über Italien geschrieben haben, dürfte vielleicht Simond derjenige seyn, den wir als den unparteilichsten Beobachter und Beurtheiler der charakteristischen Sitten und Gewohnheiten des Landes betrachten dürfen; wenn er indeß dem allgemeinen Vorurtheil gegen den Nationalcharakter der Italiener nichts anderes entgegen zu setzen weiß, als daß sie überhaupt keinen Nationalcharakter hätten, weil sie keine Nation wären, sondern in eine Menge völlig von einander verschiedener Völkerschaften zerfielen, so wollen wir statt aller Widerlegung, nur darauf aufmerksam machen, daß ja auch die Dialecte der verschiedenen Provinzen von Italien unendlich verschieden, und abweichend von einander sind, ohne daß sie deßhalb aufhörten italienisch zu seyn, anderen Sprachen gegenüber ein selbstständiges Ganzes, ein einziges, nach gemeinschaftlichen Gesetzen organisirtes Sprachsystem zu bilden. Die Italiener sind ein Volk, wie die Deutschen ein Volk sind, wenn auch durch die politischen Verhältnisse in noch so viele verschiedene Staaten zerrissen; und es fragt sich weniger darum, ob man ein Recht habe, sie als ein ganzes zu beurtheilen, als um die Gerechtigkeit dieses Urtheils, wie es fast überall gefällt wird.

Wenn wir uns auf den Grundsatz berufen dürfen, daß jeder nur das, worin er selbst die Meisterschaft erreicht hat, am schärfsten zu beurtheilen vermöge, so kann von dem Vorwurfe der Feigheit, so allgemein er auch den Italienern gemacht wird, eigentlich kaum mehr die Rede seyn, seitdem der Mann, der als der größte Feldherr und Krieger unserer Zeit anerkannt wird, sie von demselben frei gesprochen hat. „Die Tapferkeit der Italiener – sagte Napoleon noch in den letzten Tagen seiner Gefangenschaft – die Tapferkeit der Italiener hat sich zu allen Zeiten gleich rühmlich bewährt. Man darf zum Beweis nur das alte Rom anführen, und die Condottieri des Mittelalters, und aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die Truppen der cisalpinischen Republik und des Königreiches Italien.“

Im Lager zu Agaponowszchyzna bei Witepsk hatte Napoleon sein Zelt mitten unter der italienischen Garde. Als er einen Offizier derselben um die Stärke und den Zustand seines Regimentes und den Verlust desselben auf dem Marsch befragte, antwortete dieser: „Sire, wir haben Compagnien, die von Italien bis hieher nicht einen Mann verloren haben.“ Der Kaiser, jedoch ohne sich darüber verwundert zu zeigen, erwiederte: „Wie? Sie sind noch immer von derselben Stärke, wie sie aus Mailand ausmarschirt sind?“ – „Ja, Ew. Majestät!“ waren die Worte des Offiziers. Nach einer kurzen Pause fuhr Napoleon fort: „Euer Regiment hat sich noch nicht mit den Russen gemessen?“ – „Nein, Sire, aber es wünschte dieß auf das lebhafteste.“ – „Ich weiß, unterbrach ihn der Kaiser, es hat sich mit Ruhm bedeckt in Spanien, in Dalmatien, in Deutschland, wo es immer gewesen ist!“ – „Ah! ah! siehe da die alten Schnurrbärte von Austerlitz (indem er mit Wohlgefallen auf die wachthabenden Grenadiere wies) – die Italiener sind tapfer, sie müssen es seyn – sie haben so viele schöne Erinnerungen, – und das Blut der Römer, das euch durch die Adern läuft – ihr könnt es nie vergessen!“ [1]

Wenn wir in diesen Worten auch nur die natürliche Absicht eines Feldherrn sehen, seine Truppen zu ermuthigen, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß sie diesen – nach allem, was wir von dem Benehmen derselben, in dem darauffolgenden Feldzuge wissen, nur die verdiente Gerechtigkeit wiederfahren ließen. Als nicht lange nach dem Aufbruch aus dem Lager der Vicekönig Eugen von einem zahlreichen russischen Convoi Nachricht erhielt, das auf dem rechten Ufer der Dwina zog, entsandte er vier Bataillons Infanterie und 300 Reiter von der italienischen Armee, um denselben aufzuheben. Die Russen, so wie sie die Annäherung des Feindes bemerkten, obwohl in überlegener Zahl, schlugen sogleich in einer sehr vortheilhaften Stellung eine Wagenburg. Fünfmal wird dieselbe angegriffen, und fünfmal werden die Italiener zurückgeworfen; endlich wenden sich die Offiziere der letztern zu ihren Truppen, und rufen ihnen zu: „Wie, brave Jäger? wollen wir zum Vicekönig zurückkehren, ohne unsern Auftrag erfüllt zu haben? Heran! Wer das Herz eines Italieners hat, folge uns!“ Und unter dem Rufe: Viva l’ Italia! werfen sie sich in das feindliche Feuer, dringen durch die Wagen in das Viereck der Russen, zersprengen dasselbe und nehmen, mit geringem Verlust, den ganzen Transport.

Die Schlacht bei Walutina-Gora wurde vorzüglich durch die Tapferkeit des 127ten Regiments entschieden, das, fast ausschließlich aus Conscribirten von dem italienischen Departement des Alpes zusammengesetzt, bisher ohne Adler marschirt war, weil es sich denselben nach Napoleon’s Grundsatz erst auf dem Schlachtfelde verdienen mußte. Der Kaiser übergab dem Regimente nach der Schlacht den Adler mit eigner Hand, und sagte: „An der Spitze solcher Soldaten, kann man die Welt erobern.“ (Alla testa di tali soldati, si va in capo al mondo.)

Daß die Italiener übrigens sich ihres Werthes auch vollkommen bewußt waren, und die Anerkennung desselben, wo sie ihnen ungerecht entzogen wurde, sich auch wohl erzwangen, zeigt das eines Römers würdige Benehmen des Generals Pino, der, als der Vice-König von seinen [427] italienischen Truppen mit geringer Achtung sprach, seinen Degen vor ihm niederlegte, indem er sagte: „Gut, wenn Ew. königl. Hoheit den Italienern die Gerechtigkeit nicht wiederfahren lassen wollen, die sie verdienen, so muß ich zum Kaiser eilen, um sie von ihm zu erhalten.“

Aber was beweisen wir durch alle diese Einzelnheiten? Wenn wir hundert Fälle anführten, in denen die Italiener ihre Tapferkeit gezeigt hätten, so könnte man uns immer noch entgegnen: Hier mögen die Italiener freilich einmal brav gewesen seyn; aber in unzähligen anderen Fällen haben sie sich eben so feig benommen: und unsere Untersuchung käme auf diese Art zuletzt auf ein Rechnungsexempel hinaus, das zu einem Addiren und Subtrahiren ohne Ende führen müßte. Wir sehen uns daher genöthigt, diejenigen, die sich von der Richtigkeit unserer Behauptungen nicht überzeugt fühlen, aufzufordern, die Geschichte der Kriege der neuesten Zeit zu studiren und dabei dem Antheil der italienischen Truppen an denselben einige Aufmerksamkeit zuzuwenden.

  1. Wir entlehnen diese und alle übrigen Thatsachen, die wir hier aus dem russischen Feldzuge anführen, aus einem vor zwei Jahren erschienenen Werke; Gli Italiani in Russia, memorie d’ un Uffiziale Italiano etc. Italia, 1826, 4to.