Spaziergänge durch das heutige Rom und durch die Campagna
Spaziergänge durch das heutige Rom und durch die Campagna.
„Hotel de la Minerve!“ sagte ich zu meinem schweigenden Kutscher, der mich auf dem Bahnhofe in Empfang nahm, und bald hielt der Wagen auf einem ziemlich großen Platze Rom’s, in dessen Mitte ein Elephant eine Pyramide auf seinem Rücken trug, vor einem erleuchteten Hause, über dessen Thore ich in glänzenden Metallbuchstaben den Namen des Gasthofs las. Ich war ja zum ersten Male in Rom, in der märchenhaften Siebenhügelstadt des Romulus und des Numa, in der Stadt der Gracchen, in der Hauptstadt der Erde, in deren Tempeln und Palästen lorbeergekrönte Imperatoren die Schätze Griechenland’s, Afrika’s und des Orients aufhäuften, in dem modernen Rom, wo sich der Titanengeist Michael Angelo’s und Raphael’s unsterblicher Genius ewige Denkmale von wunderbarer Schönheit geschaffen haben, in der tausendjährigen Residenz des Hohenpriesters der christlichen Kirche, aus der er ein Jahrtausend lang vermittelst des Bannfluchs und der Knechtung des Gedankens die Welt beherrscht hat. Welche Erinnerungen! Rasch ließ ich mir einen Lohndiener geben, um mich noch eine Stunde in der Stadt spazieren zu führen.
Wie war Alles still und öde in den Straßen! Ich kam über Plätze, auf denen Obelisken standen und Wasserstrahlen aus dem Munde von Tritonen rauschten, welche von Delphinen getragen wurden. Die Obelisken standen einst in den sonnendurchglühten Ebenen des Nilthals; die Brunnen waren Meisterwerke Bernini’s, des großen Baumeisters und Bildhauers zweier mächtiger Päpste. Todesstille Einsamkeit lagerte über den Obelisken und Tritonen, ich hörte die Millionen Tropfen, welche auf der Spitze der im Mondlicht glänzenden Strahlen in die Höhe flogen, in silberne Funken zerstieben und auf dem Spiegel der Wasser rauschten, in deren glänzendem Grunde sich Tritonen und Delphinen zunickten. Tropfen nach Tropfen hörte ich fallen; so [219] gespenstisch still war es. Und es war doch noch nicht zehn Uhr in der Hauptstadt der Welt!
Nun passirte ich den Corso, die reichste Pulsader römischen Lebens. Hellbeleuchtet im Mondlicht lag die Straße in ihrer ganzen Länge vom venetianischen Platze bis zu der Piazza del Popolo vor mir. Die reichste und belebteste Straße Roms glich der Straße einer ausgestorbenen Stadt. Alle Läden und Verkaufslocale waren geschlossen, alle Häuser waren dunkel, nur hie und da blickte ein matterleuchtetes Fensterauge aus einem der oberen Stockwerke in diese Einsamkeit hinab. Dann und wann warfen die Laternen ihre Streiflichter auf die rothen Hosen einiger französischen Soldaten, welche Arm in Arm, ein Liedchen aus dem Faubourg St. Marceau summend, nach ihrer Caserne schwankten, oder ein Schatten glitt an der Häuserreihe entlang, eilig, ängstlich, als wenn das unheimliche Gespenst der Einsamkeit hinter ihm herschliche und ihn nach befreundeten Menschen zu Hause triebe. Ich blickte in eine Querstraße. Am Ende derselben stieg eine hohe, imposante Treppe in drei verschiedenen Stufenabtheilungen in die Höhe. Auf einer der Stufenabtheilungen erhob sich ein Obelisk, an den sich eine französische Schildwache lehnte. Oben war die Treppe von einer Kirche gekrönt, an welche sich ein langes Klostergebäude anschloß. Die imposante Treppe war die berühmte spanische Treppe, welche nach dem ihr gegenüber liegenden Palaste der Königin von Spanien ihren Namen führt. Die Straße, welche zu der Treppe führte, war vollkommen dunkel und einsam; sogar die Mönche und die Bettlergestalten, diese nothwendige Staffage jedes Winkels im modernen Rom, waren aus der Straße verschwunden. Nur zwei Thüren waren offen in der ganzen Straße. Durch sie blickte ich in die noch erleuchteten Zimmer zweier Kaffeehäuser, welche zu den ersten Roms gehörten.
Das Innere der Cafés war ärmlich und schmutzig; mehrere schmale, enge Zimmer lagen hinter einander, die Wände waren ohne Schmuck, ohne Vergoldung, ohne Spiegel, ja ohne Tapeten, der Tabaksrauch hatte ihnen ein graudunkles Colorit gegeben. Schmale Divans, mit schwarzem Leder überzogen, zogen sich an den Wänden entlang. Auf den Divans saßen zwei, drei Menschen, welche sich flüsternd mit einander unterhielten, kein lautes Wort sprachen und dann und wann einen Blick scheu seitwärts warfen, als wenn sie sich von Spionen belauscht wähnten. Ich trat in eins der Cafés und bestellte mir Eis. Es gab in Rom kein Eis. Ich griff nach einer Zeitung; es war die officielle Zeitung des Papstes, das „Giornale di Roma“. Ich ließ den miserabeln Thee, das „Giornale di Roma“ und die „Augsburger Allgemeine“, die ich dort fand, im Stich, ich floh aus diesem miserabeln Kaffeehaus und eilte durch die todesstillen Straßen der Residenz Pius des Neunten nach Hause, so schnell, als wenn die Gespenster der Langeweile und der Einsamkeit hinter mir schlichen und mich vorwärts trieben. Niemand begegnete mir auf dem langen Wege; ich hörte nur das Echo meiner eigenen Tritte auf den schmalen Trottoirs. Der Mond hatte sich hinter einem großen, dunkeln Wolkenberg verborgen. Ich hatte Rom bei Abend gesehen, das schweigende, todesstille Rom, das Rom der Langeweile und Einsamkeit. Zwei Abende vorher fuhr ich zu derselben Zeit durch die Straßen von Neapel. Sie waren mit Lichterglanz, mit Musik, mit Evvivarufen und fröhlichen Menschenmassen erfüllt; es war das freie Neapel, welches den Sieg Garibaldi’s vor Capua feierte.
„Gennazzano,“ hatte er mir gesagt, der deutsche Maler, als wir auf dem Verdeck des französischen Dampfboots von einander Abschied nahmen, und die päpstlichen Marinesoldaten ihn in dem langweiligen Hafen von Civitavecchia an das Land ruderten, „in Gennazzano werden Sie mich treffen, wenn Sie nach Rom kommen.“
„Gennazzano,“ sagte ich am andern Morgen, als ich im Hotel de la Minerve die Treppen hinabstieg, und auf jedem Treppenflur ein Priester in schwarzer Kutte saß, den häßlichen, großen Hut mit den umgebogenen Krempen auf dem Kopfe, und mir mit einem Buche entgegenkam, in dem in drei verschiedenen Sprachen eine Aufforderung zu Beiträgen für ein Hospital geschrieben war, unter welche ich trotz allen Sträubens meinen Namen neben den Namen von Erzbischöfen, Bischöfen und Principes mit fünf Franken unterzeichnen mußte.
„Gennazzano,“ wiederholte ich nochmals in der verdrießlichsten Laune, als ich unten vor der Hausthür stand, und mein erster Blick in der ewigen Roma auf einen Bettelmönch fiel, der, mit kahltonsurirtem Haupte, den Strick um den Leib gegürtet, mir eine klappernde Blechbüchse entgegenhielt, „ich habe Rom bei Nacht gesehen, es war odiös, der Morgen fängt schön an, ich werde sofort nach Gennazzano in’s Gebirge fahren und Rom bei Tage später sehen.“
Nach einer Stunde fuhr ich mit einem Vetturin an den kolossalen Trümmerresten des Colosseums vorüber nach der Porta maggiore, um auf der alten Via Labicana nach Palestrina und nach Gennazzano zu reisen. Rechts erheben sich vor mir die Trümmer des alten Roms, die Thermen des Caracalla und des Titus, die epheuumrankten, grandiosen Bogen der Kaiserpaläste auf der breiten Scheitelfläche des palatinischen Hügels, Triumphbogen, gebrochene Säulenstümpfe, Reste von Einfassungsmauern von Bädern und Wasserleitungen, an denen wilder Wein heraufkletterte, zwischen weiten Raumflächen von Oliven-, Wein- und Gemüseanpflanzungen – jeder Fuß classischer Boden. Durch die Porta maggiore ging’s in die Campagna hinein, in diese eigenthümliche Wüste, welche in der Breite von vierzig Miglien ringsum die Stadt umschließt und in ihrer Sonderbarkeit und Oede gewiß nur einmal auf der Erde existirt. Ruinenhaufen und Grabmäler neben der Straße, auf der der Wagen in raschem Trabe dahinrollte. Zu beiden Seiten trat die Campagna in immer eigenthümlicherer Gestalt auf. Ein unabsehbar, wellenförmig bewegtes Land, grün, aber mattgrün, von einer mit gelben und grauen Tinten gemischten Farbe, wie ich sie nie auf der Erde gesehen, sich ganz sonderbar abhebend gegen die dunkelblauen Tinten des Himmels, welcher am Horizont auf der Ebene zu ruhen schien, ganz unbewohnt, nirgends von Häusergruppen belebt, ohne alle Bewohner. Ueberall ragten Mauertrümmer, Architekturreste von Tempeln, Bogen und Säulenstumpfe, Trümmer mittelalterlicher Castelle über die wellenförmig sich erhebenden Erhöhungen des Bodens empor, lange Pfahlreihen bezeichneten die wechselnden Grenzen gemietheter Prati; aus epheuumrankten formlosen Massen wirbelten Rauchwolken in die Höhe – es waren die improvisirten Wohnungen der Hirtenfamilien, welche die großen Rinderheerden in der Campagna weiden; dann stand hie und da ein Winzerhäuschen, malerisch von einigen Ulmen umringt, die Mauern mit gelbgrünem Weinlaub bekleidet, aus dessen niedriger Thür eine Frau in zerlumpter Kleidung hervortrat, neugierig meinem dahinrollenden Wagen nachschauend; neben dem kleinen Häuschen erhoben sich mittelalterliche Mauern mit Zinnen, über den Resten des Thores noch die Reste eines Wappens tragend. Nun zogen halbwilde Riderheerden vorüber, große, stattliche Thiere mit breiten Stirnen und langen Hörnern. Die Hirten, welche sie begleiteten, waren zu Pferde, in Schaffelle gehüllt, die Beine bis zum Knie in lederne Gamaschen gekleidet; jeder trug einen langen Stab in der Hand, an dem vorn eine lange Spitze befindlich war. Große, wilde Hunde umsprangen die Pferde. In hochgeschwungenen Bogen zogen sich in langen Linien die Trümmer der verfallenen Wasserleitungen in das Land hinein, plötzlich abbrechend, dann von Neuem beginnend, oft sich durchkreuzend. Oede, Vereinsamung, Belebung und Monotonie, classisches Alterthum, Mittelalter und moderne Ruinen wechselten in harmonischer Weise; sonnendurchglühte Brachflächen grenzten an mit den üppigsten Kräutern bedeckte Viehweiden. Dann kamen wir durch ein verfallenes Dorf. Es ist die Stelle, wo einst das alte Labicum stand. Hier beginnt der Schauplatz des Virgil in den letzten Gesängen der Aeneïde neben den Quellen der Acqua Felice.
So fuhren wir während acht Stunden durch die Campagna. Die Erinnerungen von zweitausend Jahren umschwebten vor meinem geistigen Auge die Grabmonumente, die Zinnen mittelalterlicher Thürme und die verfallenen Bogen der altrömischen Aquaducte in bunten, immer wechselnden Gestalten. Die Stellen dieser sonnendurchglühten Brachfelder und dieser steinigen Ebenen nahmen einst Strecken des fruchtbarsten Landes ein; immergrüne Parkanlagen, Wildgehege, Teiche mit den seltensten Fischen, Triften mit den auserlesensten Viehheerden, mit Marmorstatuen und mit den kostbarsten Mosaiken geschmückte Villen, Marmorbäder und goldgeschmückte Tempel. Wo einst das Feuer der Vesta brannte, da steht jetzt in einer von Rauch geschwärzten Nische ein armseliges Muttergottesbild, und halbverwischte Arabesken und Fragmente der herrlichsten Musivbilder leuchten dem Wanderer aus mit Ginster umrankten Trümmerhaufen entgegen. Die Contraste des Heidenthums und christlicher Weltanschauung, die Gegensätze des üppigen Lebens und der einsamsten Verödung, die Denkmäler aller Stadien einer zweitausendjährigen Vergangenheit liegen dicht neben einander, oft von denselben Mauertrümmern umschlossen.
[220] Und was ist der Grund dieser grenzenlosen Verödung? Was würden die alten Römer sagen, wenn sie aus ihren Gräbern aufständen und sehen würden, was die päpstliche Regierung aus dem Paradiese gemacht hat, welches sie einst mit hunderttauscnd Sclavenhänden rings um die Hauptstadt der Welt geschaffen hatten? Die zwei Millionen der ewigen Roma sind auf nur hundertsiebenzigtausend Bewohner herabgesunken, und die Campagna ist nicht einmal im Stande, die Bewohner des modernen Rom zu ernähren. Die ungeheueren Gütercomplexe des alten republikanischen und kaiserlichen Roms sind in die Hände der Pfaffen und der Principi des heurigen Kirchenstaats übergegangen. Diese Pfaffen, diese Fürsten, diese geistlichen Congregationen haben keine Neigung und auch keinen Begriff von Ackerbau. Sie sind enorm reich, ihre Güter und Besitzungen liefern ihnen pecuniäre Mittel genug, um in Schwelgerei und in einem halb asiatischen Luxus zu leben; sie verpachten deshalb ihre großen Gütercomplexe in der Campagna an Mercanti, welche die weiten Strecken zu Viehzucht benutzen, weil sie kein Interesse und keine Lust daran haben, aus ihnen urbare und getreidetragende Ländereien zu machen.
Würden diese großen Gütercomplexe parcellirt, würde dann die Regierung des Papstes ihre Aufgabe verstehen, den Ackerbau, die Industrie, überhaupt alle commcrcielle und industrielle Verhältnisse in den römischen Staaten ebenso zu heben und zu fördern, wie sie dieselben von Jahr zu Jahr herunterdrückt und principiell vernachlässigt: so würden in der öden Campagna statt des gelbblühenden Ginsters wiederum Wein und Maulbeerbäume wachsen, und der Wind würde in den Halmen von Getreidefeldern rauschen, wo er jetzt an den Ufern mooriger Teiche und sumpfiger Ebenen in der riesigen römischen Canna (Rohr) flüstert. Aber die Parcellirung der großen Latifundien, die Hebung des Ackerbaues, die Handelsschiffe, die Eisenbahnen und die Straßenzüge, das Alles ist dem innersten Wesen der theokratischcn Regierung, welche über dem Patrimonium St. Petri waltet, vollkommen zuwider! –
Mittag war lange vorbei, und blaudüstere Schatten umhüllten die bewaldeten Höhen des Gebirges, welches ganz nahe an die Straße herantrat, mit ihrem schattigen Mantel, als ich an Palestrina vorüber fuhr. An den Felsen, wo jetzt die ärmlichen Häuser amphitheatralisch übereinander ragen, lehnte sich einst das uralte Präneste, lange vor Rom erbaut, einst Hauptstadt des lateinischen Bundes, in der Römerzeit und im Mittelalter vielfach erobert, zerstört und wieder aufgebaut. Dann rollten die Räder des Wagens auf antiker Römerstraße. Noch einige Miglien und Cavi erschien, die Häuser malerisch gruppirt auf ihrem Tufffelsen am Abhang des Monte di Montorella. Der Abend nahte, ein Meer dunkler Schatten lagerte sich über die zweitausendjährige Vergangenheit der Campagna hinter mir, aber heller und durchsichtiger wurde die Atmosphäre, da hielt ich vor dem Thore Gennazzano’s. Rauschend stürzten mir die Wellen des Rivorano entgegen, sapphirblaue Wellen, weiße, geträufelte Schaumwirbel auf ihren Häuptern. Geisterhaft blickte das uralte Schloß auf einsamer Höhe herab.
Was ist das für ein wunderbarer Zug, der da langsam aus dem Thore hervorschreitet und die Stufen des steilen Weges hinabsteigt? Voran wurde das Kreuz getragen, von Priestern in ihren weißen, goldgestickten Gewändern umgeben, dann eine Reihe sonderbarer, unheimlicher Gestalten. Sie waren alle in aschfarbene Kutten gehüllt, vom Kopf bis zu den Füßen vermummt, die Kapuzen durchlöchert, aus deren ausgeschnittenen Augenhöhlen die Augen gespenstisch hervorleuchteten. Ein eintöniges, unheimlich klingendes Grablied singend, schritten sie vor der Bahre vorher. Vier von ihnen trugen die Bahre, welche mit schwarzsammtnem Teppich bedeckt war, auf dessen Grunde silberne Rosen blühten, auf ihren Schultern. Auf der Bahre lag, ganz in weiße Mullkleider gehüllt, die Leiche, ein junges Mädchen, über deren schwarze Locken kaum achtzehn Frühlinge vorübergerauscht waren, ein sanftes Lächeln auf den Friede und Ruhe athmenden Zügen. Junge Märchen sterben so leicht; ohne Schmerz und ohne Qual schwingt sich der Geist auf zum Aether, und lächelnd blickt ihm das Antlitz der Gestorbenen nach. Ein goldgestickter Schleier fiel über die zarten, weißen Schultern hinab, und ein Kranz von weißen Rosen und Tuberosen umschlang das duftige Haar. Hinter der Bahre schritten wieder die vermummten Gestalten, das Sterbelied singend, gespenstisch mit dunkeln Augen aus den Löchern der Kapuze hervorblickend. Es waren die Mitglieder der Confraternita, einer [221] Brüderschaft des Städtchens, aus den vornehmsten Bewohnern desselben bestehend, wie sie in den meisten Städten Mittelitaliens und Süditaliens sich gebildet haben. Die Confraternita sammelt in den Straßen und in den Häusern milde Beiträge für die Armen und für die Gefangenen, sie bestattet die Gestorbenen zu Grabe, ihre Zwecke und ihre Tendenzen sind Demuth und Wohlthun; die Leichenzüge in den offenen Särgen, die bunten Farben derselben, die vermummten Gestalten sind Alles noch Reste antiker Sitte.
Den Strohhut abnehmend, grüßte ich die langsam vorübergetragene Todte. Mein Kutscher betete ein Ave Maria. Noch lange schaute ich dem sonderbaren Zuge nach, bis der eintönige Grabgesang in der Ferne verhallte. Dann fuhr ich ein in das Städtchen. Die Straßen des berühmten Wallfahrtsortes der Madonna del buon Consiglio im Sabinergebirge, zu deren Kapelle in den Marientagen die Menschen aus der Umgegend und selbst aus dem Neapolitanischen zu Tausenden wallfahrten, waren heute Abend einsam und öde, bis ich auf den Platz kam, an dem der ehrwürdige Palast des einst in diesen Gegenden so mächtigen Geschlechts der Colonna steht: da war Alles voll Leben und Bewegung. Mitten auf dem Platz hielt ein mit zwei Pferden bespannter Wagen. Der Kutscher saß, die Peitsche und die losen Zügel in der Hand, auf dem Bocke. Im Wagen stand aufrecht, eine Flasche in der einen Hand, mit der andern Hand in der Luft gesticulirend, ein Mann, etwa in der Mitte der Vierziger, und redete zu der den Wagen umgebenden Menge.
Was redete der sonderbare Mann? Er pries der gaffenden Bevölkerung des Städtchens die Medicin an, welche in der Flasche enthalten war. Es war kein Heilmittel für ein einzelnes Uebel, etwa für Rheumatismus, oder für Magenbeschwerden oder gegen das Fieber. O nein, mit der Bereitung solcher Kleinigkeiten hatte sich der Mann im Wagen niemals abgegeben. Es war eine Universalmedicin, ein Heilmittel für alle und jegliche Uebel, ein wunderbares Elixir, welches er in dem Decoct von seltenen Pflanzen fand, die nur in den afrikanischen Wüsten wachsen. Dort hielt er sich Jahre lang auf, nicht, wie seine Collegen, sich üppiger Muße hingebend, sondern den ernstesten Studien obliegend. Jetzt bereiste er Europa, von Sicilien anfangend, um mit seinem Wunderelixir alle Schmerzen und alles Elend der leidenden Menschheit zu heilen, nicht um Schätze zu erwerben, nein, sondern nur der leidenden Menschheit wegen. Deshalb forderte er auch keinen Goldscudo für sein Wundermittel, nicht einmal einen Silberscudo – der Werth des Elixirs sei ja mit Hunderten von Goldscudi nicht bezahlt –, sondern er bot es an – für nur einen einzigen Paolo.
Dann erzählte er unter den lebhaftesten Gesticulationen lange, schreckliche Krankheitsgeschichten. Immer erschien er zum Schluß als rettender Engel, sein Universalelixir, wie heute, in der Hand, welches noch niemals seine Urkraft verleugnete. Ich kehrte mich um und lachte. Da saß er ja, mir gerade gegenüber, auf einem abgebrochenen Säulenstumpf, seine Zeichenmappe vor sich auf den Knieen, der Freund, den ich in Gennazzano suchte, der auf dem Verdecke des französischen Dampfschiffes in dem langweiligen Hafen von Civitavecchia von mir Abschied genommen hatte! Er zeichnete den gesticulirenden Mann in dem Wagen mit seinem Wunderelixir. Mit einem fröhlichen „Guten Abend“ streckte ich ihm die Hand entgegen.
„Was ist denn das für ein sonderbarer Kerl, da in dem Wagen?“
„Das ist der Römische Charlatano oder Heilkünstler“, erwiderte er, „doch passen Sie auf, jetzt kündigt er die Operationen an. Nun, über das Herausreißen eines Zahnes geht er selten hinaus!“
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Spaziergänge durch das heutige Rom und durch die Campagna.
„Wollen Sie heute ein Eselwettrennen und die Ausspielung einer Tombola (Lotterie) sehen, so lassen Sie uns nach Albano fahren; es ist Sonntag, und am Sonntag ist Rom noch langweiliger, als an einem Wochentage.“
So sagte zu mir der Doctor J. P. Baude, Arzt der großen Oper in Paris, der sich alljährlich das sonderbare Vergnügen macht, auf vier Wochen über Marseille nach Rom zu reisen, am Morgen eines warmen und sonnigen Octobersonntages, als wir, wie gewöhnlich, in der via Condotti vor dem Café greco saßen, den Kaffee getrunken und das Journal des Debats und die Augsburger Allgemeine gähnend durchblättert hatten.
„Ja, Doctor,“ rief ich und warf die Augsburger Allgemeine auf den Tisch und dem nächststehenden Bettler den Rest der Kupfermünzen in den Hut, welche mir Angelo, der Kellner mit den schmachtenden Augen und im abgeschabten Frack, der mir zuweilen heimlich vertraute, daß er eigentlich zum Kammerdiener eines vornehmen Herrn geboren sei, herausgegeben hatte, „fahren wir nach Albano, sehen wir Esel wettrennen, hören wir den ganzen Spectakel einer Tombola und tanzen wir mit den schönsten Mädchen im ganzen Patrimonium des heiligen Petrus, dessen Stuhl jetzt gewaltig wacklig steht.“
Gesagt, gethan!
Wieder flog die eigenthümliche Oede der Campagna mit ihren mittelalterlichen und altrömischen Trümmerstätten, mit ihren Ginsterbüschen, mit ihren hügeligen Weiten, mit ihren Büffelheerden und den Hirten zu Pferde mit den eisenbeschlagenen Stöcken, mit ihren farbigen Tinten, mit den gebrochenen Wasserleitungsbogen, mit den rauschenden Rohrfeldern vorüber, und als die brausende Locomotive still stand und mit einem langen, gellenden Pfiff den Dampf aus seinem Gefängnisse entließ, da erblickten wir gerade über uns, von waldigen Gebirgsketten umkränzt, auf dem nordwestlichen Abhange der Albaner Berge das schöne Frascati mit seinen weißen Häusern und seinen prächtigen Villen, den Sommeraufenthalt des römischen Adels und der hohen römischen Geistlichkeit.
„Wollen wir Pferde oder Esel für unsere Tour miethen?“ fragte der Doctor, als wir auf dem Marktplatz des Städtchens standen, umringt von mehr als zwanzig Eseltreibern, welche die Vorzüge ihrer „somari“ mit der den Römern eigenen Würde und Wichtigthuerei uns auseinander zu setzen sich bemühten. Gerade fuhr eine Equipage, mit vier schönen, schwarzen Pferden bespannt, über den Platz. Im Wagen saßen zwei Damen, ihnen gegenüber der unvermeidliche Priester im schwarzen Talar, den häßlichen Hut mit der umgebogenen Krempe auf dem Kopfe. Die Eseltreiber zogen ihre Hüte. „Wer sind die Damen?“ fragte ich.
„Die Fürstin Borghese, Signor,“ sagte ein Bursche, der zwei ziemlich stattlich aussehende Pferde am Zügel hielt und sie uns zu unserer Tour anbot, „sie fährt nach der Villa Aldobrandini.“
„Die Nobili und die Priester,“ brummte der Doctor, „nie sieht man Einen ohne den Andern.“
„Das ist ja das conservative Element in Rom, Doctor, das einzige und das letzte; soll Einer von ihnen auch noch zur Revolutionspartei übergehen? Haben Sie noch nicht revolutionäre Elemente genug in den Staaten des Statthalters Christi auf Erden? Aber nehmen wir die Pferde und reiten wir nach Albano.“
Und an der prächtigen Villa Torlonia vorüber, gefolgt von zwei halberwachsenen Burschen, welche munter neben den Pferden einhertrabten, ritten wir den Felsweg aufwärts durch einen herrlichen Laubgang italienischer Eichen nach der Villeggiatura des alten Rom, nach dem auf dem Hochlande des Bergplateau’s gelegenen Tusculum. Ueberall rieselten silberhelle Quellen aus den Felsen, [278] welche mit der üppigsten Laubvegetation bedeckt waren; zuweilen wechselte das schattige, fast undurchdringliche Dach der Eiche mit Pinien und Olivenbäumen, um deren Stämme sich malerische Festons von Weinlaub schlangen, ab; links hatten wir den Blick über die Campagna und auf das Häusermeer der ehemaligen Hauptstadt der Welt, auf deren Kuppeln die Funken der Mittagssonne glühten. Durch einen uralten, im cyklopischen Baustyl construirten Thoreingang kamen wir auf die Scheitelfläche der Höhe, wo einst das alte Tusculum lag. Trümmer römischer Villen, die hochgelegene, noch in einzelnen Resten erkennbare Ruine der Stadtburg und das kleine Amphitheater mit seinen wohlerhaltenen Sitzreihen waren die einzigen Reste dieser vergangenen, zweitausendjährigen Herrlichkeit. Die Fernsicht war unbeschreiblich schön in ihrer wechselvollen Mannigfaltigkeit von Gebirgsformen, üppiger Vegetation, glänzenden Villen und weißen Städtebildern, in der zauberischen, sonnendurchglühten Beleuchtung des Südens.
Im Schatten uralter Kastanien und Steineichen ritten wir an der andern Seite des Berges abwärts. Die Natur im Albanergebirge ist außerordentlich kräftig und reizvoll. Wir sahen Castell Gandolfo, das durch seine reine Luft berühmte Lustschloß der Päpste, auf seiner waldigen Höhe, hoch über dem smaragdgrünen, stillen Albaner-See, wir ritten am Monte Cavo vorüber und kamen durch das freundliche Marino, welches auf den Trümmern der Villen Murena’s und des Marius erbaut ist, dann traten wir in die obere Gallerie, in diesen wunderbar herrlichen Laubgang uralter Bäume; rechts am Horizont, am Rande dieses mit Villen und Dörfern bedeckten, grünen Hügellandes, schimmerte ein breiter, glänzender Streifen, der Streifen war das mittelländische Meer. Glühend stand die Sonnenscheibe nahe über seinem blaufunkelnden Spiegel, da ritten wir in Albano ein.
Das Städtchen hatte seinen Festtagsrock angezogen. Alle Straßen waren voll Leben und Bewegung. Die Bewohner waren im Feiertagsschmuck, das weiße, tellerartig über den Kopf geformte Tuch, die weißen, bauschigen Mieder und die bunten, faltigen Röcke standen den Mädchen, welche bekanntlich unter die schönsten Frauen Italiens zählen, vortrefflich. Alles drängte sich durch die Hauptstraße, welche Albano von Norden nach Süden durchschneidet, nach dem andern Ende des Ortes zu. Wir ließen die Pferde nach dem Albergo führen und folgten unbewußt dem Menschenstrome. „Das Wettrennen findet jetzt wahrscheinlich statt,“ sagte der Doctor. „Wo giebt es ein Fest in Italien ohne Wettrennen? Pferderennen! Eselsrennen! Mit oder ohne Reiter! Vedremo!“
Und wir sahen! Auf der andern Seite des Städtchens war die Feierlichkeit des Wettrennens, das allgemein beliebte römische Volksvergnügen, im vollen Gange. Die Pferde sind selten im Gebirge, man hatte also das edle Roß auch hier durch den somaro, nämlich durch den Esel, ersetzt. Die ganze Bevölkerung war auf dem Platze versammelt. Es war eine Scene voll Leben und Bewegung. Die Esel, auf deren knöchernen Rücken halberwachsene Buben saßen, waren gerade im Abreiten nach dem Ziel begriffen.
Zwei Esel waren glücklich im Gange und sprengten unter ihren Reitern auf dem ziemlich holprigen Pfade vorwärts, verfolgt von dem Geschrei der versammelten Menge, welche durch die lebhaftsten Gesten ihre Theilnahme bezeigte. Alles war in Aufregung, Alles in Bewegung. Wenn es sich auf dem Platze um die Abstimmung gehandelt hätte, ob Albano von nun an zu dem Königreich des neuen Italien gehören oder unter der Herrschaft des Papstes verbleiben solle, die Theilnahme und der Lärm hätte nicht größer sein können. Zwei Esel wollten durchaus nicht vorwärts. Mit der diesen Thieren eigenen Störrigkeit schienen sie es darauf abgesehen zu haben, nicht vom Platze zu gehen; der eine wandte sich sogar um, und wollte den Weg nach Albano in seinen Stall einschlagen. Die beiden Reiter schienen in Verzweiflung zu sein. Mit Gerte und Zügel gaben sie sich alle erdenkliche Mühe, die störrigen Thiere vorwärts zu bringen, aber vergebens: Eigensinnig standen sie noch, wie angenagelt, auf dem Platze, als die andern bereits, im Galopp am Ziele angelangt waren und von einem hundertstimmigen Jubelgeschrei der versammelten Menge empfangen wurden.
Wir gingen zurück in das Städtchen. Noch waren die Nummern der Tombola, welche gewonnen hatten, in ellenlangen Ziffern an dem Hause zu sehen, wo Nachmittags die Ziehung stattgefunden hatte; die breite, lange Straße war voll Leben, Bewegung und Jubel. Mit Musik wurden die Glücklichen, welche gewonnen hatten, durch die Straße geführt. Eine Abtheilung französischer Soldaten ging dem Zuge vorher und beschloß denselben in Paradeuniform, das Gewehr im Arm. Es war währenddem Abend geworden. Die goldene Sonne war schlafen gegangen in das blaue Bett des unendlichen Meeres und hatte die Wogen mit einem letzten purpurnen Schimmer vergoldet, tiefblaue Schatten lagerten über Hügeln und Flächen. Die letzte Feierlichkeit des Tages wurde in Scene gesetzt. Ein Luftballon sollte aufsteigen. Noch wurde er an Stricken festgehalten, das Feuer wurde angezündet und die Gaze blähte sich auf. Jetzt war der Moment des Steigens gekommen, die Flamme brannte lichterloh, die Stricke wurden durchschnitten, und gerade stieg er in die Höhe, in den dunkelblauen Nachthimmel, bis er endlich als ein kleiner, leuchtender Punkt erschien, und der leuchtende Funken über dem Gebirge verschwand. Endlos war der Jubel und das Geschrei. Dann füllten sich alle untern Räume des Albergo, wo wir eingekehrt waren, mit der fröhlichen Menge. Der Doctor und ich saßen mit den schönen Albaner Mädchen, mit ihren Vätern und Brüdern und mit den französischen Soldaten an einem der langen Tische und tranken mit ihnen Wein von Orvieto. Das allgemeine Band der Fröhlichkeit hatte auch die armen französischen Soldaten umschlungen; man sah in ihnen heute nur die Streiter von Solferino und Magenta, nicht die Soldaten, welche den Stuhl des heiligen Vaters stützten, daß er nicht umfalle vor dem Sturm der Revolution, welcher über Italien braust, und als der Doctor „Evviva l’Italia!“ rief, ertönte es durch den ganzen Albergo hundertstimmig: „Evviva l’Italia, Evviva Garibaldi!“
Nur in einer Ecke des großen Saales saßen ein halbes Dutzend Menschen, einsam, die Langeweile auf den Gesichtern; ein Kreis von Oede und Leere war rings um sie gezogen, Niemand trat in diesen Kreis, als wenn der Hauch des Fiebers in ihm wehte. Niemand stieß mit ihnen an, Niemand sprach mit ihnen. Wer waren diese von der allgemeinen Fröhlichkeit Ausgestoßenen? Ich kannte sie recht gut. Sie sprachen die Sprache meiner Heimath, die deutsche Sprache. Es waren „Soldaten des Papstes“.
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Spaziergänge durch das heutige Rom und durch die Campagna.
Ich schlenderte umher in den Straßen der „ewigen Stadt“, ohne bestimmtes Ziel und ohne bestimmten Zweck, wie ich es so gern thue, die Physiognomien der Häuser und der Menschen betrachtend. Ich befand mich im schönsten Theile Roms, in der Nähe des spanischen Platzes, aber auch hier blickten mich die Häuser oft mit dunkeln, abgeschlagenen Fensteraugen an, in denen schmutzige halbgewaschene Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, die Atmosphäre war voll üblen Geruchs, alle zehn Schritte streckte mir ein zerlumpter Bettler die schmutzigen Hände entgegen, und eine todte Katze verweste mitten auf dem Platze, wo die Säule steht, welche der Papst als Erinnerung an das von ihm eingeführte Dogma der unbefleckten Empfängnis, der heiligen Jungfrau Maria hat aufrichten lassen. Auf allen Plätzen Roms stehen dergleichen Säulen und Obelisken. Sie waren ehemals mit den Statuen römischer Helden und Imperatoren gekrönt. Die Regierungen der Päpste haben die Statuen der Helden und Imperatoren abnehmen und sie durch Heilige und unbekannte Märtyrer ersetzen lassen, welche gesenkten Hauptes, die Köpfe mit vergoldeten Reifen und Strahlenkränzen geschmückt, auf „das Rom der Päpste“ hinabblicken. Die todte Katze verpestete ringsumher die Luft. „Wenn doch die Regierung des Papstes sich statt dessen mit Einführung einer guten Straßenpolizei beschäftigte!“ dachte ich unwillkürlich. Aber davon ist keine Rede. Ich würde Niemandem rathen, Abends allein vor den Thoren spazieren zu gehen. In den Ruinen des alten Roms ist die Unsicherheit so groß, daß die französische Commandantur an den Eingängen des Coliseums Schildwachen aufgestellt hat, und man diese grandiosen Reste des Alterthums bei Mondschein nur gegen einen besondern Erlaubnißschein betreten kann. Ermordungen mitten auf der Straße kommen sogar zuweilen bei Tage vor. Es sind das ja bekannte römische Zustände.
Mit diesen Gedanken ging ich mitten über den Platz und betrat eine der auf denselben mündenden Seitenstraßen, um nach dem Corso zu gehen. An der Ecke der Straße vor dem verfallenen Thore eines Palastes saß an einem alten, wackligen Tische unter einem Baldachin von Segeltuch ein Mann in etwas schäbigem Anzuge, einen ebenso schäbigen Hut auf dem grau gewordenen Kopfe, eine Hornbrille auf der Nase, und schrieb eifrig. Neben ihm stand ein hochgewachsenes, schönes junges Mädchen in der Tracht einer römischen Bäuerin aus der Campagna. Sie schien ihm häufig das zu dictiren, was er zu Papier brachte. Wahrscheinlich war es ein Liebesbrief. Ich trat hinzu und horchte. Richtig, es war ein Liebesbrief an ihren Verlobten, und der Liebesbrief handelte vom Heirathen. Ich hatte einen „öffentlichen Schreiber“ vor mir, eine jener charakteristischen Figuren, wie man sie in Mittelitalien und Sütitalien auf allen öffentlichen Plätzen in größern und kleinern Städten findet. Die Kunst des Lesens und Schreibens ist bei dem geringern Theile sowohl der städtischen als der ländlichen Bevölkerung in den römischen Staaten noch nicht sehr zu Hause, und die öffentlichen Schreiber sind Vertrauenspersonen, denen Jedermann seine Geheimnisse ungenirt anvertraut, damit sie sie zu Papier und so an ihren Mann bringen.
Stets ist der öffentliche Schreiber ein Mann von gesetzten Jahren, Ende der Vierzig oder Mitte der Fünfzig, die Brille scheint bei allen eine unvermeidliche Zuthat, ihr Aeußeres hat immer etwas Würdiges und Wichtiges, wenn es auch oft etwas schäbig ist. So saß auch der öffentliche Schreiber hier vor mir mit würdiger und wichtiger Miene auf seinem Stuhl, und schrieb ungestört von dem schreienden Kinde, welches ein halberwachsenes Mädchen neben ihm auf seinem Schooße hielt, von dem „Ahoi!“ des Eseltreibers, der gerade vorüberzog, und von dem ganzen rauschenden [429] Straßenlärm. Der Brief war zu Ende. „Rita“ hieß das schöne Mädchen mit Vornamen, wie ich im Vorübergehen hörte.
Ganze Züge von Priestern kamen mir entgegen, in Kutten von allen Farben. Sie gingen zu zehn, zu zwanzig und zu dreißig, immer paarweise, schwarze Priester, rothe Priester, grüne, graue und violettfarbene. Alle denselben häßlichen schwarzen Hut mit den umgebogenen Krempen, welche durch Schnüre gehalten werden, auf den tonsurirten Köpfen. Tausende von Priestern sind aus Umbrien und den Marken, aus der Romagna und aus Süditalien in den letzten Monaten nach Rom gekommen. Wenn das so weiter geht, wird die Regierung die Armee aus Priestern rekrutiren können. In Süditalien und in Sicilien haben die Priester tapfer gefochten, für und gegen die Revolution. Ich passirte den Corso. Der Corso sah heute recht unsauber aus. Das schmale Trottoir war von einer Menge Detailverkäufer besetzt, welche den Vorübergehenden ihre Schwefelhölzer, Fleckseife, Stiefelwichse und dergleichen Quark zum Verkauf anboten. Dazwischen schrieen umherziehende Männer und Weiber mit kreischender Stimme Fische und sonstige Nahrungsmittel aus. Eine Buchhandlung gab es auf dem ganzen Corso nicht, dagegen Buchbinderläden und Papierhandlungen in Menge. Vor den Fenstern standen zahlreiche Gebetbücher, grobgemalte Heiligenbilder und schlechte Copien guter Gemälde. Die Kaffeehäuser waren überfüllt von Gästen, welche dicht aneinander gedrängt auf den schmalen Divans saßen. Drinnen war eine unheimliche Stille; ich hörte nichts als die Stimme des Cameriere, der die Bestellungen der Gäste dem Büffet zurief; und es wehte da drinnen eine Luft – wie die Atmosphäre einer Wachtstube. Ueber mir lachte der blaue italienische Himmel im goldnen Sonnenschein; warum gingen die Leute, welche in diesen räuchrigen Conversationshöhlen saßen, denn nicht lieber „in’s Freie“? Man kann in Rom nicht in’s Freie geben, draußen vor den Thoren ist nichts als eine sandige, baumlose Wüste, und in der Stadt giebt es keinen Spaziergang, als immer und immer wieder der Monte Pincio.
Es war schmutzig und langweilig auf dem Corso; ich bog wieder in die Via Condotti ein, welche unter verschiedenen Namen vom spanischen Platz mitten durch die ganze Stadt an der Tiber entlang bis zum Ponte San Angelo zur Peterskirche führt. Je weiter ich mich vom Corso entfernte, desto schmutziger und unreinlicher wurde die Straße und desto ärmlicher und miserabler wurden die Häuser. Vor dem Hause eines Schlächters saß eine abschreckend aussehende Megäre, umtobt von einem halben Dutzend zerlumpter Kinder. Dann mündete die schmale Straße auf einen kleinen Platz. Vor einer höchst unsaubern Garküche hatte ein öffentlicher „Bartkünstler und Haarschneider“
sein Atelier im Freien aufgeschlagen. In jeder römischen Stadt, in größeren und in kleineren Orten kann man auf den öffentlichen Plätzen dergleichen Bartkünstler sehen. Das beste Geschäft machen sie am Montag Morgen, wo die ländliche Bevölkerung in die Stadt kommt und sich rasiren oder auch das Haar zustutzen läßt. In Rom ist an jedem Sonntag die Piazza Montanara dieser allgemeine Haarschneide- und Rasirplatz für die Bewohner der Campagna, welche zur Stadt kommen. Auch hier, in der Via della Fontanella, ging die Bartoperation ganz ungenirt vor sich. Ein Bauer saß, die Hände gefaltet, auf einem Stuhl, seine Frau hockte, den unvermeidlichen Regenschirm von grüner, lackirter Leinwand in der Hand, daneben, auf einem Stein. Der Patient war bereits eingeseift, und die Operation, welche einen halben oder ganzen Bajocco kostet, nahm ihren Anfang.
Zwei Kinder gafften die wichtige Handlung an, der Knabe mit dem unverkennbaren Gesichtsausdrucke, als wenn er an die Zeit dächte, wo auch er vor dieser Garküche säße und eingeseift und barbiert würde. Hinter dem Stuhle stand ein bereits abgefertigter Patient in Hemdsärmeln, und wischte sich die Seife mit einer sehr unsauberen Serviette ab. Die Staffage war, wie immer, verfallen aussehende Häuser, Wäsche zum Trocknen in den Fensterlöchern und der unvermeidliche Bettelmönch in der braunen Kutte mit dem Korb am Arm, langsam vorüberschlendernd.
Es ist das heutige Rom, welches ich schildere, das moderne Rom, und es ist so, wenn man es nicht durch die falsche Brille eines schwärmenden Kunstenthusiasten anschaut. Es giebt ja auch Menschen, deren Gehirn für die öde, heiße Wüste der Campagna schwärmt. An jedem andern Fleck der Erde würden sie diese Wüste [430] verabscheuen, aber hier dorrt dieser Sand und dieser magere, grüngelbe Rasenboden ja im zweimeiligen Belagerungskreise der ewigen Stadt.
Wiederum kam mir eine ganze Heerde von Priestern in violettfarbenen Röcken entgegen, da stand ich an der gelben Tiber, vor der Brücke, welche zur Engelsburg führt. Drüben stieg die imposante Masse des Grabmals des Trajan in die Höhe, wie ein ungeheurer Riese, dem der Kopf fehlt, und auf der Mauer saßen französische Soldaten, und die rothen Beine baumelten in der Luft. Da kam ein Wagen über die Brücke gefahren, der Wagen kam vom Vatican; es war eine glänzende, rothe Carosse, über und über vergoldet, mit vier schwarzen Pferden bespannt, welche rothes Zaumzeug hatten. Voran ritten zwei Stallmeister, auch auf schönen, schwarzen Pferden, neben und hinter der vergoldeten Carosse päpstliche Nobelgardisten in ihren glänzenden Uniformen, den blinkenden Helm auf dem Haupte. In dem Wagen saß der Papst, Pio Nono, allein im Fond, ihm gegenüber zwei Priester in violettfarbenen, seidenen Gewändern; der Papst trug ein weißes, goldgesticktes Gewand, auf dem Haupte ein kleines goldgesticktes Käppchen. Der Wagen fuhr ganz nahe an mir vorüber. Pio Nono sah blaß, alt und bekümmert aus. Sein Gesicht erschien dick und aufgedunsen.
Armer, alter Pio Nono! Er dachte wohl an jene Zeit, wo sein Name zum Stigma der italienischen Nationalitäts- und Freiheitsbestrebungen geworden war, wo der Jubel von Tausenden fröhlicher Herzen ihn umbrauste, wenn er ausfuhr, wo „Evviva Pio Nono!“ und „Evviva l’Italia!“ dasselbe war. Und heute? Gleichgültig sahen ihn die Bewohner der Via Fontanella vorüber fahren. Niemand grüßte ihn, kein „Evviva!“ erschallte, nur hie und da kniete ein zerlumpter Bettler auf dem schmalen Trottoir in den Staub.