TBHB 1945-01-25
Einführung
Der Artikel TBHB 1945-01-25 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 25. Januar 1945. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über drei Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] Gestern kam es leider infolge des Betragens Erikas wieder einmal zu einer höchst unerfreulichen Auseinandersetzung. Ich erzählte bei Tisch von der Lagebesprechung des Batteriechefs u. daß er gesagt habe, wir hätten den Krieg verloren, falls wir das oberschles. Industrierevier verlören. Ich erzählte das absichtlich, um Erika zu zeigen, daß Männer in verantwortlichen Kommandostellen, die noch dazu überzeugte Nazis sind, diese Tatsache, die ja im übrigen nicht bezweifelt werden kann, ihren Untergebenen mitteilen. – Erika erklärte darauf sehr schnippisch, es sei ja unerhört, daß der Batteriechef dergleichen sagen könne, die Soldaten würden doch diese Ansicht ihres Chefs weitererzählen. Ich antwortete ihr, daß der Batteriechef ja wohl selbst wissen müßte, was er sagen u. nicht sagen könne u. wenn die Soldaten das natürlich weiter erzählten, so diente das doch bloß der nun einmal unabänderlichen Wahrheit. Darauf antwortete sie noch schnippischer, daß man dergleichen eben nicht sagen dürfe, auch wenn es Wahrheit wäre. Nun wurde ich ärgerlich u. sagte mit betonter Schärfe, daß es nun endlich an der Zeit sei, die Dinge anzusehen, wie sie wirklich sind u. nicht den Kopf in den Sand zu stecken. Erika stand daraufhin vom Tisch auf u. verließ das Zimmer. –
Ich hätte selbst zu dieser Sache nichts weiter gesagt, aber Martha war über dieses Benehmen sehr aufgebracht u. es kam zu einer langen Aussprache zwischen Küntzels u. uns, wobei Grete, wie immer, zu begütigen u. zu [2] verharmlosen suchte, während Paul unseren Standpunkt vertrat. Diese ewige Verharmlosung der innerlichen Opposition Erikas sowohl gegen ihren Vater wie gegen uns konnten wir ja nicht einfach hingehen lassen. Wir versuchten, Grete klar zu machen, daß es Erikas Pflicht sei, wenn sie schon unsere Gastfreundschaft in Anspruch nimmt, sich in unsere Anschauungen einzufühlen. Es ist für uns jeden Tag eine sehr unangenehme Last, zu ertragen, daß jemand mit uns am Tisch sitzt u. fast jedes Wort, das gesprochen wird mit stiller Opposition begleitet, angefangen schon mit dem Tischgebet. Wir erklärten Grete, daß es auf die Dauer nicht anginge, mit einem Menschen am Tisch zu sitzen, der sich immer nur in oppositionelles Schweigen hülle. Erika wohnt bei uns, sie empfängt dauernd Vorteile für sich, ja, sie trägt sogar Fritzens Sachen, sie braucht unsere Kohlen usw. u. bei all dem hat ihr Mann es bisher noch nie für nötig befunden, auch nur eine Postkarte an uns zu schreiben oder einen Gruß an uns bestellen zu lassen. Sie selbst gibt sich freilich Mühe, mit uns nicht in Differenzen zu geraten, weil ihr dies ihre Klugheit gebietet, denn wo sollte sie hin, wenn wir sie rauswerfen; aber sie tut das nicht, indem sie sich irgendwie aktiv um uns bemühte, sondern nur passiv, indem sie schweigt. Wir haben dadurch natürlich das Gefühl, von ihr aus purer Klugheit ausgenützt zu werden. – Nun, all dies kam mit einem Male zur Sprache u. Grete, der es leider sehr an Sachlichkeit fehlt, fühlte sich angegriffen als Mutter ihres geliebten Kindes u. brach, wie üblich, in Tränen aus. –
Abends fand dann der Mittwoch-Vortrag statt, um 8 Uhr. Um 1/4 vor 8 Uhr, – Paul war gerade bei uns, – rief Grete von unten: „Martha.“ – Martha ging runter u. wir hörten Erikas Stimme u. dann sehr erregte Worte von Martha, die dann bald wieder herauf kam u. offensichtlich sehr erregt war. Bald darauf kam auch Grete u. machte M. den Vorwurf „das Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu haben“. Sie habe den ganzen Nachmittag über ihrer Tochter Erika gut zugeredet u. nun sei sie so weit gewesen, mit bestem Willen zu Martha zu kommen u. die Differenz beizulegen; aber Martha sei gleich so ausfallend geworden, daß nunmehr alles wieder verdorben sei. Aus dem nun folgenden Gespräch ergab sich, daß Erika gesagt hat, sie wolle sich in Zukunft mehr zusammennehmen u. mehr schweigen, jedoch könne sie mit ihrem Vater sich eben nicht verstehen. Besonders über diese letzte Bemerkung scheint sich Martha geärgert zu haben, jedenfalls gab es anstatt einer Versöhnung scharfe Worte u. Martha hat wohl Mutter u. Tochter stehen lassen u. ist wieder zu uns heraufgekommen. Nun war natürlich der Krach erst richtig da. Martha ist in solchen Fällen ja zweifellos sehr unbeherrscht, aber der Sache nach war sie im Recht. Es genügt eben nicht, wenn Erika einfach in ihrer stillen Opposition gegen uns nur schweigt. Wir können schon verlangen, daß ein junger Mensch, der sich täglich an unseren Tisch setzt u. mit uns ißt, sich mindestens Mühe gibt, auf unsere Anschauungsweise einzugehen u. versucht, uns zu verstehen. Wir verlangen ja nicht, daß sie eine fromme Christin wird, – das könnte sie garnicht, – von [3] Paul verlangen wir das ja auch nicht, – aber wir können auf die Dauer nicht eine nur mühsam verheimlichte Opposition von einem Menschen vertragen, der praktisch von unserer Freundlichkeit lebt. – Es war schwer, Grete dies klar zu machen. Sie meinte, wir verlangten von Erika, daß sie ihre sogenannte nationalsozialistische Weltanschauung von heute auf morgen ablegen u. eine Christin werden solle – u. das sei doch unmöglich. Es war ja nicht allzuviel Zeit, denn meine Hörerinnen mußten jeden Augenblick kommen, u. ich weiß nicht, wie weit Grete zur Einsicht gekommen ist. –
Nach dem Vortrag kamen Paul u. Grete wieder herauf, um die Nachrichten zu hören. Grete hatte sich inzwischen beruhigt. Paul sagte mir nachher, daß sich inzwischen eine neue Unannehmlichkeit ereignet habe: Erikas Mann hat einen SS=Mann auf Urlaub geschickt mit einem Paket für Erika. – Abgesehen davon, daß kein Soldat seit vielen Monaten mehr Urlaub bekommt, aber dieser SS=Mann des Herrn Oberleutnant mit einem Paket nach Ahrenshoop fahren kann, – ist es uns höchst unangenehm, einen solchen Menschen hier überhaupt zu sehen. Als Erikas Mann hier war, haben wir zur Bedingung gemacht, daß er in Civil ginge u. haben ihm zu diesem Zweck Fritzens Sachen zur Verfügung gestellt. Wir haben ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, daß wir einen SS-Mann in Uniform keinesfalls in unserem Hause zu sehen wünschen, – u. nun schickt uns dieser Mensch noch einen SS-Mann extra auf den Hals, den Erika im Baltischen Hof untergebracht hat. Es ist das ein neuer Beweis dafür, daß weder Erika noch ihr Mann gewillt sind, unserer Ablehnung des Nationalsozialismus, u. vor allem der SS, die geringste Rechnung zu tragen. – Wenn sich das nicht ändert, muß von uns aus eine Änderung vorgenommen werden. Es scheint aber, als wolle Erika die Konsequenzen ziehen, jedenfalls hat sie heute früh ein Ferngespräch mit Berlin geführt. Ich weiß nicht, mit wem. Auch Grete sagt nichts darüber, – sie hat ja immer ihre Heimlichkeiten. Es ist schon so, wie Eva mir einmal vor vielen Jahren sagte: „Bei uns hat jeder seine heimlichen Gedanken“. –
Die Russen scheinen eine Atempause zu machen. Breslau scheint jetzt von drei Seiten eingeschlossen zu sein, jedenfalls ist die Verbindung nach dem Industrierevier unterbrochen, es gibt nur noch Nebenverbindungen. Dafür scheint nun Rundstedt im vollsten Rückzuge aus den Ardennen zu sein. Auch bei Kolmar wird gekämpft.
Über Nacht hat er wiederum geschneit. Auch eben schneit es wieder etwas. Ich mußte darum heute wieder schippen, doch hat Paul viel geholfen.