TBHB 1945-04-20
Einführung
Der Artikel TBHB 1945-04-20 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 20. April 1945. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über drei Seiten.
Tagebuchauszüge
[1] Nach dem schweren Nachtangriff auf Helgoland ist ein Tagesangriff gefolgt, der wohl noch das Letzte eingeebnet hat. Aber eine Landung der Engländer ist bisher nicht erfolgt. Südlich Hamburg haben sie bei Lauenburg die Elbe erreicht. Leipzig ist gefallen, nachdem der dortige Oberbürgermeister, der zugleich SS=Obergruppenführer war, totgeschlagen worden ist. Im Donautal sind die Amerikaner jetzt auf 50 km. an Regensburg herangekommen.
Im Osten sind die Russen jetzt etwa 35 km. vor Berlin u. weiter südlich in der Gegend Cottbus sind sie in Richtung Dresden weiter vorgedrungen. An dieser Stelle sind die Fronten jetzt nur noch 50 – 60 km. voneinander entfernt.
Sonst sind keine wesentlichen Veränderungen. Die Rede, die Dr. Goebbels gestern Abend aus Anlaß des heutigen Geburtstages des Führers gehalten hat, hat bei uns niemand hören können, weil kein Strom da war. – Wie ich dem Soldatensender entnommen habe, war es eine übliche Phrase u. Aufforderung, weiter Wiederstand zu leisten bis zum Endsiege.
Paul war gestern Abend allein bei uns u. sprach sich aus über seine Tochter Eva. Es ist sehr traurig. Er hat diese Tochter sehr geliebt u. er empfindet mit Recht ihr Verhalten als einen Angriff auf seine bürgerl. Ehre, seinen Namen, seinen Ruf u. seine Familie, um so schmerzlicher, als es so scheint, daß Eva das garnicht begreift u. es ganz belanglos findet, daß sie ein Kind hat, u. dieses, wie sich gestern herausstellte noch von einem verheirateten Mann. Grete ist gestern nämlich von Rostock zurückgekommen mit der Nachricht, daß Eva inzwischen das Kind bekommen hat, – ein Mädchen. – Grete sieht darin nichts anderes, [2] als eine Frage der Etikette. Ihre seichte u. oberflächliche Lebensauffassung offenbart sich hierin in einer höchst fatalen Weise. – Paul, der gewiß auch nicht besonders tief veranlagt ist, leidet doch sehr, nachdem ihm bereits seine Tochter Erika völlig entglitten ist u. auch Inge kein besonders gutes Verhältnis zum Vater hat. An diesen Dingen ist Grete schuld, die in ihrer Eitelkeit ihre Töchter an sich gezogen hat auf Kosten des Vaters. Sie hat es im Leben verstanden, durch eine ununterbrochene Kette von kleinen, unmerkbaren Gehässigkeiten die Töchter gegen den Vater einzunehmen u. das ist heute garnicht mehr gut zu machen, um so weniger, da sie auch garnicht den Willen dazu hat. Sie fühlt sich in ihrer Eitelkeit ja hoch über Paul erhaben u. versucht immer, ihn als minderwertig hinzustellen. Auch mir gegenüber hat sie das ein paarmal versucht, doch habe ich ihr dann stets deutlich über den Mund gefahren, sodaß sie sich jetzt hütet. Ueberhaupt ist sie mir gegenüber sehr vorsichtig, bei Martha spricht sie sich eher aus u. läßt dann stets ihre seichte Lebensauffassung erkennen, – eine Seichtheit, der sie mit albernen, okkultistischen Ausdrücken gern ein Mäntelchen umhängt, um eine Tiefe vorzutäuschen, an die sie übrigens selbst glaubt. Sie hält sich selbst für besonders edel u. tief, doch ist das alles dieselbe widerliche Eitelkeit, die sie leider vom Vater geerbt hat, der genau so seicht war. – Weil es ihr gelungen ist, ihre Töchter durch Verzärtelung u. Verwöhnung an sich zu fesseln u. zugleich dem Vater abspenstig zu machen, – u. weil die Töchter deshalb mehr an ihr hängen u. den Vater nebensächlich behandeln, glaubt sie nun, daß sie eine besonders gute u. liebevolle Mutter wäre u. sie sonnt sich in dieser Liebe ihrer Töchter, die für sie um so schöner ist, als diese Liebe ein Triumpf über Paul bedeutet. – Die Dinge lassen sich leicht analysieren. Grete ist seit ihrer Mädchenzeit ein sehr eitles u. erotisch neugieriges Mädchen gewesen. Schon in Hannover hat das angefangen, als sie noch zur Schule ging. In Dieuze hat es bereits gefährliche Formen angenomen. Eine Baronin v. Crailsheim, die Frau eines bayr. Rittmeisters, hat da einen üblen Einfluß auf sie gehabt u. da es in der kleinen Garnison an jungen Damen mangelte, machten die oberflächl. Leutnants ihr übermäßig den Hof. Grete neigte stets zu solchen Männern, deren Charakter etwas zweifelhaft war. Es war da besonders ein Leutnant v. Zech, ein junger Mann, der bereits eine bewegte Vergangenheit hatte u. in keinem guten Ruf stand. Als die Eltern dann nach Magdeburg zogen, verstärkte sich diese Anlage u. sie hatte allerhand Flirts. Schlimm wurde es, als dieser Herr v. Zech ebenfalls nach Magdeburg zum Train versetzt wurde, zu einer Truppe, die in der Armee kein Ansehen genoß, deren Offiziere sich aber in eitler Weise als Kavalleristen aufspielten. Ich nehme an, – u. habe Grund dazu, – daß Grete eine Zeitlang das regelrechte Verhältnis dieses Herrn gewesen ist. – Dann kam die Katastrophe, von der ich ja erst viel später, nach dem Weltkriege, erfuhr. Grete bekam ein Kind. Sie wurde von den Eltern irgendwohin geschickt, wo sie heimlich entband. Das Kind wurde irgend einer Frau übergeben u. Grete kam wieder. Bald danach heiratete sie Paul. – Dieser verheimlichte Fehltritt kam nach dem Weltkriege plötzlich ans Tageslicht dadurch, daß dieser Sohn, der nun inzwischen groß geworden war, sich eines Tages an unseren Vater [3] wandte mit einem ziemlich ungeschickten Versuch der Erpressung. Da er drohte, sich an Paul wenden zu wollen, wenn er kein Geld bekäme, war die Situation unangenehm. Grete tat das Beste u. beichtete ihrem Mann. Für ihn war es ein böser Schlag. Er löste zwar die Ehe nicht, aber der Riß war nicht mehr zu reparieren. – Grete mußte nun ihrerseits etwas aus der Sache machen. Sie war grade damals ganz befangen in ihren ebenso eitlen wie dummen u. oberflächlichen okkultistischen Interessen u. hielt damit ihre Umgebung in Atem. Sie machte sich interessant. Nun zog sie bei der Familie ihres Mannes herum, um sich als öffentl. Büßerin aufzuspielen. Sie erzählte allen, was sie garnicht nötig gehabt hätte, daß sie einen Fehltritt begangen hätte u. eigentlich ein ganz sittenloses u. verächtliches Geschöpf wäre. Die Triebfeder dazu war Eitelkeit. Es war ja auch das interessant. Und dazu kam noch die erotische Triebfeder: ein seelischer u. moralischer Exhibitionismus. – Paul dagegen schaffte sich eine Freundin an, die er gewiß gern geheiratet hätte, doch tat er es nicht, vorwiegend wohl aus Rücksicht für die Töchter. Wenn Grete wirklich reuig gewesen wäre, dann hätte sie das alles ganz in Ordnung gefunden; aber es kam offenbar zu Zank zwischen den Eheleuten u. sie nannte Pauls Freundin „Hure“. – Kurz u. gut, das ganze Familienleben war nun zerrüttet u. sie benutzte diese Gelegenheit, die Töchter dem Vater zu entfremden u. an sich zu fesseln, – genau so, wie meine eigene Frau es getan hat. Jetzt nun ist ihr auch noch das uneheliche Kind Evas ein Anlaß, sich selbst zu rechtfertigen. Sie empfindet das so, daß sie denkt: wenn solche Sache sogar der Tochter Eva passiert, die von aller Welt als ein besonders wertvoller Mensch anerkannt wird, dann ist der eigene Fehltritt doch um so mehr zu entschuldigen. Er ist dann so bedeutungslos wie ein Etikettenfehler. –
Ich sprach s. Zt. mit Mama über ihre Sache. Ich habe ihr den Vorwurf gemacht, daß sie, besonders aber der Vater, – diese ganze Geschichte in dieser Weise vertuscht u. damit den Grundstein zu einer Lüge gelegt hätten, deren Opfer doch schließlich Paul geworden sei. Mama wußte darauf nichts weiter zu sagen, als: „ja, was hätten den die Leute gesagt, wenn Grete ein uneheliches Kind bekommen hätte!“ Es war also auch schon für die Eltern eine „Etikettenfrage“, u. nicht mehr. Das ist um so erstaunlicher, als Mama mir auf meine Frage, warum denn jener Rechtsanwalt, der der Vater dieses Kindes war, Grete nicht geheiratet hätte, antwortete: „Der Vater ist zu ihm gegangen u. hat dies verlangt; aber er hat abgelehnt mit der Begründung, er sei ja nicht „der Erste“ gewesen.“ –
So wie mit Paul, so hat sie es ja auch lange Jahre mit mir gemacht. Paul stellt sie als einen ungeistigen u. oberflächlichen Menschen hin, um sich selbst herauszuheben. So hat sie jahrelang über mich vor den Eltern Lügengeschichten verbreitet, um mich zurückzudrängen u. selbst um so mehr zu gelten. Das ist nun jetzt freilich endgültig aus.