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TBHB 1945-05

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Textdaten
Autor: Hans Brass
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Titel: TBHB 1945-05
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Entstehungsdatum: 1945
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Originaltitel: Mai 1945
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ungekürzte Tagebuchaufzeichnungen vom Mai 1945
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Einführung

Der Artikel TBHB 1945-05 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom Mai 1945. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über 44 Seiten.

Tagebuchauszüge

[1]
Dienstag, 1. Mai 1945.     

     Dieses neue Heft beginnt mit der Notiz, daß jetzt stündlich der Abschluß des Waffenstillstandes zu erwarten ist. So gab es jedenfalls heute früh der Soldatensender zu. Graf Bernadotte vom schwed. Roten Kreuz ist in der Nacht vom Sonntag zu Montag in Apenrade mit Himmler zusammengetroffen u. hat das erneute Angebot bedingungsloser Kapitulation an alle drei Verbündeten entgegengenommen. Er ist dann sofort nach Stockholm zurückgeflogen u. hat das Angebot weitergeleitet. –

     Ein Mitglied der schwed. Gesandtschaft in Berlin ist bis in die allerletzten Tage hinein in Berlin gewesen u. ist jetzt eben von dort zurück nach Schweden gekommen. Dieser Mann hat erklärt, er habe in Berlin mit den höchsten militär. Stäben engste Fühlung gehabt, doch habe er Hitler niemals zu Gesicht bekommen. Auch habe er keinen einzigen Offizier oder General oder sonst einen Menschen gesprochen, der Hitler gesehen hätte. Es wird somit bezweifelt, daß Hitler überhaupt in Berlin ist. – Es ist ja auch sehr merkwürdig, daß dieses Kapitulations-Angebot von Himmler ausgeht. Dieser muß doch irgend welche Dokumente vorlegen können, die beweisen, daß er zu solchem Schritt bevollmächtigt ist. Wer hat ihm diese Vollmacht gegeben, wenn Hitler nicht mehr da ist? Man sagt, daß Himmler den Hitler selbst umgebracht hätte u. seine Vollmacht sich selbst ausgestellt hätte. Jedenfalls will dieser Kerl, der noch vor wenigen Tagen jeden hängen ließ, der von Kapitulation sprach, sich nun mildernde Umstände verschaffen. Auch hütet er sich, in russische Hände zu fallen, er hält sich in Lübeck auf, das höchst wahrscheinlich von den Engländern besetzt wird.

     In Berlin sind inzwischen die letzten Reste dieser Stadt [2] völlig zerstört worden. Es ist zwar nicht besonders schade darum, denn was da zerstört ist, ist fast ausschließlich preußisch=militärische Tradition u. es ist nur zu begrüßen, wenn von all dem möglichst garnichts der Nachwelt erhalten bleibt, besonders nichts von den Protz=Bauten des Dritten Reiches wie Luftfahrt-Ministerium u. Reichskanzlei. Aber es sind ja auch schrecklich viele Wohnungen zerstört u. die Einwohner, die diese Tage des Kampfes erlebt haben, müssen Entsetzliches durchgemacht haben.

     Für uns war die Kapitulation der letzte Augenblick. Die Russen waren gestern bereits in Greifswald, sie werden heute in Stralsund sein u. morgen in Ribnitz. Es wäre immerhin möglich gewesen, daß es dann auch bei uns zu Kampfhandlungen gekommen wäre, da Kapitänlt. Dr. Krappmann nicht mehr hier ist u. der junge Kapitänlt., welcher aus Swinemünde mit seinen Soldaten im Kurhause liegt, ein etwas dummer Mensch ist, der am Ende Dummheiten gemacht hätte. –

     Eben um 10 Uhr kam Dr. Ziel, um die Dinge zu besprechen u. sich Rat zu holen, wie er sich verhalten solle, da er schon seit 2 Monaten keine Pension mehr bekommen hat. Ich beruhigte ihn u. meinte, daß er gewiß seine Pension wieder bekommen, würde, sobald die Lage geklärt sei. – Ferner wiederholte er, was uns schon vorher erzählt worden war, daß den Soldaten der Batterie gesagt worden sei, sie würden heute Mittag um 12 Uhr entlassen u. jeder solle zusehen, wo er bleibe.

     Während wir sprachen, kam Frau Ziel sehr aufgeregt u. sagte, es sei alles garnicht wahr, ein Soldat habe es gesagt, außerdem seien die Russen schon in Ribnitz, welches in Flammen stünde. Ich glaubte das nicht u. beruhigte die aufgeregte Frau. Zum Glück kam dann auch der treue Mehlis und gab uns richtige u. sachliche Auskunft. Danach ist die Batterie heute Nacht um 3 Uhr alarmiert worden, die Leute mußten angekleidet liegen. Heute sei ihnen nun bekannt gegeben worden, daß alle Geräte zerstört u. die Geschütze unbrauchbar gemacht werden sollten. Die 5. Kompanie, das ist die Kompanie, die im Kurhause liegt, würde tatsachlich um 12 Uhr entlassen, jeder soll sehen, wo er bleibt. Ihnen selbst, der alten Batterie, sei von der Entlassung noch nichts bekannt, was wahrscheinlich daher käme, weil sie eben noch die Zerstörungen vorzunehmen hätten. Dagegen sei die SS, die bisher ihr geheimnisvolles Wesen im Darss getrieben hätte, heute Nacht mit ihren vollgepackten Panzern abgehauen, sie wären an der Batterie vorbeigefahren. Auch die Soldaten in Zingst wären gestern schon entlassen worden. Mehlis selbst war eben im Begriff, den letzten Befehl nach Darsser Ort zu bringen. Er wird bei dieser Gelegenheit feststellen, ob der Darss noch immer gesperrt ist u. ob in Prerow noch Soldaten sind. Auf der Rückfahrt wird er uns Bescheid geben. Da Frau Ziel auch gehört hatte, daß das Batterie-Auto heute morgen nach Barth hätte fahren wollen, aber wieder zurückgekommen sei war es sehr gut, daß Mehlis auch dies dementieren konnte. Das Batterie-Auto fährt im Gegenteil eben jetzt nach Barth.

     Gestern Abend flogen hier uralte Flugzeuge an der Küste entlang Richtung Kiel. Wahrscheinlich wurden diese alten Kästen für irgendwelche Leute zur Flucht benutzt. Heute fahren die merkwürdigsten Fahrzeuge an der Küste entlang Richtung Kiel. Es scheint, daß alles, was schwimmen, kann benutzt wird, um nach dem Westen zu entkommen. Eben fuhr ein Lazarettschiff mit einer Rote-Kreuz-Flagge vorbei.

     Im Dorf stehen die Leute vor den Geschäften Schlange, um einzukaufen, was sie noch kriegen können. –

     Gestern kam ein Feldwebel von der 5. Kompanie, um zu bitten, daß unser Auto, welches bei Monheim steht, in die [3] Garrage von Mc Dornan gebracht werden könne. Wir gaben ihm den Autoschlüssel. Ich fürchte sehr, daß die Leute sich des Autos zur Flucht bemächtigen werden. –

Nachmittags 3 Uhr.

     Die SS fuhr Mittags mit Autos, Kübelwagen u. Lastwagen hier durch. Vier Kübelwagen standen lange vor der BuStu., die Offiziere, die darin saßen, hatten ihre Frauen oder Weiber mit sich. Die Lastwagen vollgepackt mit Mannschaften u. Weibern. Eines der Autos fuhr später wieder zurück, während die anderen Richtung Ribnitz weiterfuhren. Dieser eine Wagen ist eben wieder gekommen u. steht wieder vor der BuStu. Man hat nie geahnt, daß im Darss so viel SS steckt. Auch zu Fuß u. per Rad zogen Soldaten vorbei, manche mit kleinen Wagen, die aus alten Fahrrädern zurecht gemacht waren, denn alle schleppten viel Gepäck. Auch der Treck von Brandt, der nebenan im Hause Dohna gewohnt hatte, ist abgehauen mit zwei großen Lastwagen mit Zugmaschinen davor u. einer Kutsche mit seinen zwei Pferden. – Es war irgendwoher gesagt worden, daß die Kanonen der Batterie um 12 Uhr mittags zerstört werden sollten, ob es geschehen ist, weiß ich nicht.

     Eben aber kommt Agnes Borchers sehr aufgeregt von Bernh. Saatmann herüber u. gleich darauf Frau Daubenspeck noch viel aufgeregter. Sie erzählten, es sei bei Bernh. S. ein Zollbeamter gewesen, der berichtet hat, daß die Russen z. Zt. in Marlow seien u. daß die Batterie den Befehl bekommen habe, sich selbst zu verteidigen. Er habe gesagt: „Das hat euch grade noch gefehlt!“ – Nun, ich habe den beiden gesagt, sie sollten nicht auf jedes Geschwätz hören u. sich nicht überflüssig aufregen. – Herr Soehlke war Mittags auf der Straße u. sagte mir, daß zufällig ein neuer Marine-Oberlt. bei der Batterie sei, der hier dienstlich zu tun gehabt hat u. nicht wieder weggekommen ist. Dieser ist dienstälter als der Oblt. Quast, welcher jetzt die Batterie führt u. er soll ein verständiger Mann sein, der geäußert hat, er garantiere dafür, daß die Batterie keinen Schuß abgeben werde.

     Um 4 Uhr nachm. fahren immer noch hoch bepackte Lastwagen, anscheinend zur Flag in Zingst gehörend, durch den Ort, ebenso immer noch Kübelwagen der SS, auch ein großer, schnittiger u. sehr eleganter Personenwagen mit höheren Offizieren. Flag-Offiziere u. Soldaten gehen bescheiden zu Fuß, die Soldaten allerdings in übler Form, teilweise haben sie sich Zivil besorgt. Viele übel aussehende Weiber sind dabei. Frl. Reg. Treffer war bei Martha. Sie geht mit einer Kollegin zu Fuß nach Warnemünde, denn alle Helferinnen sind entlassen worden. Die Soldaten sind jedoch noch nicht entlassen.

Nachm. 6 Uhr.

     Mehlis war wieder da u. berichtete, daß der junge Kapitänlt. Wegener das Kommando übernommen habe. Er habe die Soldaten antreten lassen u. eine Rede gehalten, daß sie doch deutsche Soldaten seien u. das Vaterland lieben müßten u. was dergl. Phrasen mehr sind, – u. daß sie sich eben verteidigen müßten, wenn die Russen kämen. – Die Soldaten sind einschließlich der Unteroffiziere + Feldwebel außer sich vor Wut u. wollen alles tun, um einen Schießbefehl zu sabotieren. Er verriet mir, daß die Absicht bestünde, die Schlagbolzen ins Meer zu werfen. Man wird nun abwarten müssen u. hoffen müssen, daß dieser Narr irgendwie zur Vernunft kommt, bzw. daß ihn endlich ein Befehl seiner vorgesetzten Dienststelle erreicht, die Waffen niederzulegen. – Mehlis sagte, daß der ganze Darss noch voller Lastwagen stecke, die nach u. nach von Raupenschleppern herausgeholt werden müssen. Die Soldaten der Batterie sind natürlich wütend, denn [4] sie sehen ja die ganze Flag u. die SS an ihrem Lager vorbeimarschieren, während sie selbst da bleiben sollen, um eventuell sogar noch zu schießen.

     Der Bursche von Dr. Krappmann hat Sachen von Dr. K. zur Aufbewahrung gebracht, sowie den Kinderwagen, den wir für Eva leihen wollen.

Mittwoch, 2 Mai 1945.     

     9 Uhr Morgens. Der gestrige Abend verlief noch etwas dramatisch. Der Zug der flüchtenden Truppen aus dem Darss wurde gekrönt durch einen im Leichenzugtempo daherkommenden Zug der Strafgefangenen, die in Born untergebracht waren unter SS-Bewachung. Voraus fuhr ein hoch getürmter, verdeckter Wagen mit zwei kleinen, weißen Panje-Pferden. Oben auf dem Verdeck saß neben dem Kutscher ein Mensch mit blau-weiß gestreiftem Sträflingsanzug u. spielte sehr gut auf einer Ziehharmonika. Dann kamen die Sträflinge, alle in derselben Sträflingskleidung, den Beschluß machten SS-Leute als Bewachung, die ebenso gemein aussahen wie die Sträflinge selbst.

     Gegen 8 Uhr kam Regina Treffer sehr aufgeregt u. berichtete, daß alle Soldaten entlassen seien u. daß um 9 Uhr die Batterie gesprengt werden würde. Das war gewiß sehr erregend, denn wenn sich das bewahrheitet hätte, wären die Dörfer Alt= u. Niehagen u. Ahrenshoop zusammengestürzt. Zum Glück kam Mehlis auch noch u. sagte, daß nur die Geschütze unbrauchbar gemacht würden, die Munition würde nicht gesprengt. Allerdings wußte er es auch nicht genau, er hatte nur den Oberfeldwebel gefragt u. der hatte gesagt, er glaube nicht, daß die Munition gesprengt werden würde. Verrückterweise hatte nämlich die Batterie grade gestern neue Munition erhalten.

     Einesteils war diese Nachricht ja gut, weil dann eben nicht geschossen würde, andererseits konnte die Sprengung auch allerhand Unglück anrichten. Ich ging vorsichtshalber zu den Nachbarn u. sagte, daß alle Fenster geöffnet werden sollten. Inzwischen kamen drei Marine-Helferinnen vom Hause Monheim u. baten flehentlich um Unterkunft. Sie hatten Angst, alle 12 Helferinnen im Monheimschen Hause zu bleiben, weil der Russe ja dann sofort merken würde, daß sie Marine-Helferinnen waren. Nun wollten sie gern unauffällig untertauchen. Wir schickten sie zunächst zurück, da der Russe kaum in dieser Nacht ankommen würde u. bestellten sie für heute Morgen. –

     Inzwischen kamen viele der Autos der SS wieder zurück. Sie waren nur bis Ribnitz gekommen, der Russe war bereits im Anmarsch. Ein höherer SS-Offizier war arg zugerichtet. Es wurde erzählt, daß er in Ribnitz angeordnet hätte, Panzersperren zu errichten u. Ribnitz zu verteidigen, aber er habe von der Bevölkerung furchtbare Prügel bezogen.

     Um 1/2 9 Uhr hörte man dann die ersten Detonnationen von der Batterie her, wo sie anfingen, die Geschütze zu zerstören. Die Detonnationen waren nicht stärker als gewöhnliches Uebungsschießen. Da dann nichts weiter erfolgte, schloß ich um 1/2 10 Uhr wieder die Fenster. Martha u. ich saßen mit Paul im Seezimmer, als es einen starken Lichtschein gab u. darauf eine Detonnation, daß unser ganzes Haus schwankte wie ein Schiff. Dennoch waren nirgends Fensterscheiben kaputt gegangen. Am Himmel stand eine riesige schwarze Rauchsäule. Ich ging mit Martha runter, um zu sehen, ob auch an der BuStu. nichts passiert sei. Es war hier eine Schaufensterscheibe rechts neben dem Eingang kaputt gegangen, sonst war alles in Ordnung. Als wir noch dort standen gab es eine zweite Explosion von nicht minderer Heftigkeit, die der [5] Scheibe den letzten Rest gab, sonst aber auch keinen neuen Schaden anrichtete. –

     Das ganze Dorf war natürlich auf der Straße. Ich ging noch zur Dühne, um durch das Glas den Brand des Göring'schen Jagdhauses im Darss zu beobachten, der sich bedrohlich ausgedehnt hatte. Während der Nacht ist er dann aber doch erloschen, da es etwas zu regnen anfing u. das Holz überhaupt feucht war vom Regen der letzten Tage. – Der Brandt'sche Treck kam im Laufe des Abends auch wieder zurück.

     Ich legte mich schließlich halb angezogen schlafen. Man hörte noch lange Detonnationen bis nach Kiel hin u. immer noch Autos, aber sonst ereignete sich nichts mehr. Leider gab es aber auch keinen Strom mehr. Die letzten Nachrichten hatten wir gestern früh zwischen 4 – 6 Uhr, seitdem war es mit dem Strom aus.

Heute früh um 7 Uhr hieß es, daß Russ. Panzer kämen. Bei Reichert-Saatmann stand bereits eine lange Schlange, die sich sofort eiligst verflüchtete. Es kamen dann wieder die drei Helferinnen aus dem Monheimschen Hause, die wir zunächst in der BuStu unterbrachten. Inzwischen hat Martha sie wieder los werden können, da Ilse Schuster-König sich bereit erklärte, sie aufzunehmen. Regina Treffer kam ebenfalls mit einer Kollegin, beide brachten wir im kleinen Hause in der Schneiderei unter. Dann kam Mehlis, dem wir die Kammer im Dach anboten, dazu bekam er den blauen Anzug von mir, den ich bisher noch immer als Sonntagsanzug getragen habe u. abgelegt habe, seitdem ich den neuen Anzug von Frau Mazurek bekam. Mehlis erzählte, daß ein russ. Panzer-Spähwagen in der Nacht bei der Batterie vorgefahren sei u. sich sehr höflich erkundigt hätte, was los sei. Nachdem man ihm gesagt hatte, daß die Batterie gesprengt worden sei, hat er höflich gedankt u. ist wieder Richtung Ribnitz zurückgefahren.

     Die Bevölkerung hat in der Nacht die Essenvorräte der Batterie geplündert. Es soll dabei toll zugegangen sein.

11 Uhr Vorm. Frau Margot Seeberg war hier um mich zu bewegen, mit Herrn Dr. Ziel zusammen den Bürgermstr. Gräff abzusetzen u. die Geschäfte zu übernehmen. Zufällig kam Herr Ziel dazu. Ich hatte die Sache sofort abgelehnt u. Ziel tat dasselbe. So war diese Unterredung nur kurz. Frau Seeberg versuchte, uns noch zu überreden, aber wir sagten beide, daß wir garnicht daran dächten, unaufgefordert irgendetwas derartiges zu tun. Es wäre auch völlig sinnlos, denn Ziel wie ich sind in den Augen der Russen auch nur Bourgois. Der Bürgermeister soll von sich aus sehen, wie er mit den Russen fertig wird, – u. die Russen selbst können dann ja sagen, was sie wollen, – es läßt sich dann immer noch darüber reden. Vor der Hand werde ich mich hüten, auch nur das Allergeringste zu unternehmen, u. wenn etwas Derartiges an mich herantreten sollte, werde ich auch dann nur im äußersten Falle mich zur Verfügung stellen, also nur in dem Falle, wenn ich damit den ganzen Ort vor einer ernsten Gefahr retten kann.

     Sehr freute es mich, daß Ziel fragte, ob heute Abend der Vortrag stattfinden würde. Ich bejahte es, falls nicht höhere Gewalt den Vortrag verhindern sollte.

     Die Russen sind über Ribnitz nach Rostock weiter[1] vorgedrungen, vorläufig interessieren sie sich offenbar garnicht für uns.

     Frau Seeberg war über Nacht in Müggenburg, wo es elektr. Strom gab. Sie hat den hamb. Sender gehört, der bekannt gegeben haben soll, daß Hitler tot sei.

[6]
Donnerstag, 3 Mai 1945.     

     9 Uhr vorm. Heute früh sind die Russen hier durchgekommen. Gestern war der ganze Tag ruhig, nur unsere Soldaten, die sich irgendwie mit Civilkleidern versorgt hatten, zogen den Weg zurück in den Darss, bzw. verteilten sich sonst in den Häusern. Es waren viele SS-Leute darunter, die gefährlich aussahen. Nachmittags war ich noch kurz bei Frau Longard u. fand sie etwas ruhiger. Abends zum Vortrag waren nur Herr + Frau Ziel u. Frl. Wernecke zugegen, alle anderen brachten die innere Ruhe dazu nicht auf. Herr Ziel war am Tage in der Batterie gewesen, die von Soldaten u. Bevölkerung total ausgeplündert war. Es muß dort furchtbar ausgesehen haben, man hat dort wüst gehaust. Die Baracken sind total demoliert, alles ist kurz u kleingeschlagen, Lebensmittel sind geplündert. Ziel hat in der total zerstörten Apotheke allerhand kostbare Heilmittel u. Medikamente sicher gestellt, um sie der Apotheke in Ribnitz zu geben, die diese Sachen dringend braucht.

     Um 7 Uhr heute früh kamen die ersten Reiter durch das Dorf, dann ein bespannter Lastwagen u. allerhand Soldaten, die in die Häuser gingen u. Uhren klauten. Ich war noch beim Ankleiden. Sie waren bei uns im Hause, aber nur in der Diele, wo Paul mit ihnen verhandelte u. gleich seine Armbanduhr los wurde. Als ich runter kam, war das schon vorbei. Ein Soldat kam vom Boden des kleinen Hauses, wo Meiers wohnen, aber er hat dort nichts genommen. Ich schenkte ihm Cigaretten u. er war zufrieden. Andere waren in der BuStu gewesen, wo sie aber nichts fanden. Bei Bernh. Saatmann nahmen sie auch die Uhr weg, bei Papenhagen fanden sie nichts, wollten aber Gläser haben, um Schnaps zu trinken u. gaben auch Carl Papenhagen davon ab. Schließlich zogen sie weiter. Aber bald nacher kamen andere Kolonnen, Reiter, Beutewagen u. Pferde, Radfahrer. Räder werden den Leuten einfach abgenommen. Meist fahren die Kolonnen im scharfen Trabe durch, einige halten u. sehen zu, ob sie noch etwas klauen können, aber im allgemeinen sind es ganz gutmütige Kerle, wenn man berücksichtigt, daß Troßleute niemals u. in keiner Armee Elitesoldaten sind. Hier u. da kommt auch mal ein Auto, Beutewagen, Limousinen, aber selten, meist Pferdewagen u. alles sehr strapaziert Ueberhaupt sehen auch die Soldaten ziemlich wüst aus, aber es sind meist noch junge Leute unter 30 Jahren. – Einer der Soldaten hat zu Martha gesagt, sie führen jetzt wieder zurück nach Rußland. Zu Papenhagen haben sie gesagt, Hitler, Goering u. Goebbels seien erschossen. Andere sollen gesagt haben, daß sie hier wieder fortgingen, es kämen die Amerikaner hierher. Nun, das sollte mir nicht leid tun. Gestern ging das Gerücht, daß bei Barth amerikan. Fallschirm-Truppen abgesetzt worden seien u. daß es sogar zu Schießereien zwischen Russen u. Amerikanern gekommen sei, aber das ist wohl sehr unwahrscheinlich.

     Der Troß reißt aber kaum ab. Es kommen immer neue Abteilungen. Einige der Soldaten sind schwer betrunken, aber abgesehen vom Klauen ist es noch zu keiner Unregelmäßigkeit gekommen. Die Olga von Seebergs, die ja Russin ist, will wissen, daß diese Abteilungen alle nach Prerow fahren, wo die 2. russ. Armee stehen soll.

1/2 12 Uhr.

     Der Durchzug hat jetzt nachgelassen. Es kamen eben noch drei elegante Limousinen, die noch die SS-Abzeichen trugen. Es schienen höhere Offiziere darin zu sein.

     Herr v. Knesebeck, der Bruder von Frau Garthe, erzählte mir soeben, daß er gestern Abend noch im Kurhause den letzten Heeresbericht gehört habe, da sie im Kurhaus einen Akkumulator haben. Nach diesem Heeresbericht ist der Führer einer schweren Verwundung erlegen u. der Großadmiral Dönitz habe die [7] Führung übernommen, es würde weitergekämpft bis zum letzten Mann. In Berlin seien die Russen stellenweise in die Wilhelmstraße eingedrungen, außerdem wird noch von anderen Fronten tapferer Widerstand gemeldet. Von der Kapitulation Himmlers ist nirgends die Rede. –

     Es erhält sich hartnäckig das Gerücht, daß die Russen hier nur durchmarschieren u. wir von den Engländern besetzt werden sollen, die z. Zt. in Schwerin sein sollen. Demnach würden die Engländer Mecklenburg besetzen u. dann würden auch wir wahrscheinlich englisch werden, obgleich wir zu Pommern gehören.

     Eben war Herr Ziel hier, der gehört hatte, mir sei die Uhr abgenommen worden. Ich sagte ihm, daß das nicht der Fall wäre u. wir überhaupt bisher kaum Unannehmlichkeiten gehabt hätten. Bernh. Saatmann mußte seine Lederweste ausziehen, auch Herr Gerdes hat seinen Rock hergeben müssen, in dem seine Brieftasche mit Geld u. den Papieren war. Es ist das eine große Ungeschicklichkeit von Gerdes gewesen, er hätte seine Brieftasche sicher wieder bekommen können. – Der dumme Sohn von Frau Gess hatte einen Revolver gehabt, mit dem er renomiert hatte. Der ukrainische Schuster, den wir seit einiger Zeit im Dorfe haben, hat ihn denunziert. Der Bengel hatte den Revolver aber irgendwo ins Wasser geworfen u. das wurde ihm nun nicht geglaubt. Da er es nicht beweisen konnte, wäre es beinahe zu einem ernsten Zwischenfall gekommen, wenn nicht der Kutscher von Brandt, der russisch kann dazwischen gekommen wäre. – Auch Paul hatte übrigens eine altmodische Pistole, die er den Leuten gleich ausliefern wollte, aber sie wollten das alte Dings nicht haben. – Im Kurhause haben die dort wohnenden Soldaten grade beim Frühstück gesessen, als die Russen kamen. Die Russen haben ihnen aber nur gesagt, sie würden bald alle wieder nachhause fahren können, es würde bald wieder die Eisenbahn fahren u. elektr. Strom würde es auch bald wieder geben.

Freitag, 4. Mai 1945.     

     9 Uhr vorm. Gestern erschossen sich Herr + Frau Siegert auf ihrem Felde. So endete das Nazi=Leben dieser Frau, die uns alle hier seit 12 Jahren mit ihrem Fanatismus verrückt gemacht hat u. eine dauernde Gefahr war für jeden, der nicht Nazi war.

     Der Nachmittag verlief gestern sonst ruhig, aber Abends gegen 9 Uhr traf wieder ein Tross ein, der genau vor unserem Hause anhielt. Das Haus war verschlossen. Zwei junge Burschen von 16 – 17 Jahren rüttelten an den Türen. Ich ging raus u. verhandelte mit ihnen. Sie wollten Schnaps. Ich gab ihnen Zigaretten u. wie sie schließlich begriffen hatten, daß kein Schnaps da war, zogen sie wieder ab. Ich hatte vorher mit Paul die Reste unseres Weines aus dem Keller geschafft, weil damit zu rechnen war, daß wir Einquartierung bekämen Es kam dann ein Leutnant, der sich aber nur etwas aufwärmen wollte. Er war enttäuscht, daß es nicht sehr warm war. Er setzte sich reichlich ungeniert u. etwas flegelhaft bei Paul ins Zimmer an das Fenster. Bald kam ein junger Soldat ans Fenster u. rief, daß der „Kapitan“ da wäre, worauf der Herr Leutnant eiligst verschwand. Es wurde dann drüben bei Permin die Einfahrt geöffnet u. der ganze Troß zog dort hinein. Es war dann bald Ruhe auf der Straße, nur einzelne Leute gingen dann u. wann umher. Ich selbst postierte mich ans Fenster in der Mansarde, wo ich bis 1/4 nach 12 Uhr Wache hielt. Da sich nichts weiter ereignete, ging ich dann schlafen, d.h. ich legte mich angezogen aufs Bett.

     Heute morgen war ein großes Gelaufe zum Geschäft von Reichert-Saatmann. Ich sah vier russ. Soldaten dort stehen. [8] Es hieß, die Russen verteilten Lebensmittel an die Bevölkerung, aber dann stellte sich heraus, daß die Russen den Laden nach Schnaps durchsucht hatten u. viele Flaschen Alkohol herausholten. Das war das Signal für die im Ort wohnenden Flüchtlinge, die mit Körben u. Säcken hinliefen u. den ganzen Laden ausräumten. Einheimische haben sich nicht daran beteiligt. Kapitän Krull kam zu uns, als wir am Gartenzaun standen. Er hatte die Nacht durchwacht u. erzählte mir, daß die Leute die ganze Nacht hindurch mit Karren + Wagen aus dem Lager der Batterie in Althagen Sachen geholt hätten, auch Frau Kahlig u. Herr Gerdes wären dabei gewesen. Er sagte auch, daß er gestern Abend um 10 Uhr noch im Hause Körte gewesen wäre u. gesehen hätte, wie die Russen dort alles geplündert hätten. Sie hätten Kofferweise die Sachen herausgeholt. Als wir dort standen, kam Frau Dettmann, die bei Permin wohnt u. erzählte, daß in der Nacht 30 Mann im Hause einquartiert gewesen seien, unter ihnen der Hauptmann des Trosses. Alle Leute hätten sich tadellos betragen. Eines der Flintenweiber sei bei Bernh. Saatmann einquartiert gewesen. Ihm hat man Eier fortgenommen, aber es sei alles ruhig zugegangen. Da aber kam Frau Wituchter dazu u. erzählte, daß die Russen weiter außerhalb des Dorfes, wo keine Offiziers-Kontrolle gewesen sei, sehr übel gehaust hätten. Sie hätten alles, was sie an Gold u. Schmucksachen gefunden hätten, gestohlen, auch bei Frau Longard sollen sie gestohlen haben. Im Haus von Dr. Lewerenz, wo ja eigentlich die Familie der Gauleiters Schwede-Koburg wohnen sollte, aber nicht gekommen ist, wohnte eine Frau Zimmermann mit ihrer Tochter u. dort soll es zu Vergewaltigungen gekommen sein. Die Russen sollen dort Mutter u. Tocher vergewaltigt haben u. bis 4 Uhr Morgens dort gewesen sein. – Man muß abwarten, ob sich das bestätigt. –

     Gestern Abend brannte es in Ribnitz. Frau Wituchter, die anscheinend immer sehr viel weiß, wollte auch wissen, daß gestern in Ribnitz zwei russ. Generale erschossen worden u. ein Leutnant durch einen Steinwurf am Kopfe verwundet worden sei. Die Russen hätten daraufhin Geiseln festgenommen, von denen 15 erschossen werden sollten, falls die Täter nicht ermittelt würden. Auch das ist noch unbestätigt. Spangenberg scheint seine Pferde irgendwo in Sicherheit gebracht zu haben, aber die Russen haben im Heu einen Koffer gefunden, den sie mitgenommen haben.

     Positive Nachrichten sind natürlich nicht zu bekommen. Es heiß, daß Hamburg ziemlich kampflos in englischen Besitz gekommen sei, aber sonst weiß man nichts, besonders weiß man nicht, ob denn nun Waffenstillstand ist oder nicht. – Die Russen sind heute morgen gegen 9 Uhr weitermarschiert in Richtung Prerow. Die deutschen Soldaten, die noch hier im Kurhause waren, haben sich auf Anraten der Russen auf den Weg gemacht, unter ihnen auch Herr Sittarz, der als Soldat bei der 5. Kompanie war u. in der Schreibstube beschäftigt war. Er ist 59 Jahre alt. Er kam vor einigen Tagen u. bat um einen Rock, den er auch aus dem Volksopfer erhielt. Heute Morgen verabschiedete er sich, schwerbeladen mit Gepäck u. brachte mir den Korrekturabzug seines letzten Buches: „Wenn die Mittagshöhe des Lebens überschritten“, Untertitel: „Vom Aelterwerden, ohne zu altern“, verlegt bei Ernst Reinhardt in München 1944. Er gab mir seine Anschrift u. bat, daß ich ihm die Korrekturbogen später schicken möchte.

1/4 4 Uhr Nachm. Eben sagt mir Grete, Frl. Wernecke habe erzählt, daß sich auch Prof. Reinmöller u. Herr v. Knesebeck [9] der Bruder von Frau Garthe, der sich auf des Flucht hier befand, ebenfalls erschossen haben sollen. – In der Nacht scheinen sich noch andre üble Dinge abgespielt zu haben, besonders im Hause Hoffmann, wo die Russen Frauen mißbraucht haben sollen. Heute soll es auch zu Plünderungen in der Pension Charlottenhof von Frau Bertsch gekommen sein. Dieses sowohl wie die Plünderung des Ladens von Reichert geht offenbar zurück auf Anstiftung von Flüchtlingen, die die Russen dazu aufgefordert haben, weil Saatmanns wie auch Frau Bertsch bei diesen Flüchtlingen sehr unbeliebt sind, wohl nicht ganz ohne Grund.

     Mittags um 1 Uhr kam wieder Tross hier durch. Bei all diesen Wagen habe ich bisher noch nicht einen einzigen heereseigenen Wagen gesehen, es sind alles requirierte Bauernwagen, Droschken, Kutschwagen, Jagdwagen usw.

     Nach Tisch schlief ich etwas. Als ich eben aufwachte sah ich zwei Russen von hinten her aus dem Hause kommen. Grete kam rauf u. sagte mir, die beiden Kerle wären einfach ins Zimmer eingedrungen, hätten sich umgesehen u. sich übel benommen. Paul habe sie mit einigen Zigaretten abwimmeln können. Beide Kerle waren auf Fahrrädern, u. trugen Maschinenpistolen, wie fast alle Russen.

     1/2 7 Uhr Abends. Am Nachmittag fingen die Russen an, einzelne Schützenlöcher in der Düne zu bauen, mit je 2 Mann Besatzung. Grade vor uns an der Grenze zwischen Schorn u. uns haben sie sich eingegraben, mit der Front zur See. Was das für einen Sinn hat, ist unerfindlich.

     Es wird gesagt, daß die Engländer in Müritz-Graal seien u. es erhält sich weiter das Gerücht, daß die Russen hier wieder abziehen würden. Die Russen erzählen das offenbar selbst.

     Mehlis, der furchtbar unentschlossen ist, macht uns ziemlich nervös, da er nicht weiß, ob er bleiben soll, oder nicht. Einige Soldaten sagen, die Russen hätten verbreitet, daß alle Soldaten die Gegend verlassen müßten, andere wieder sagen, es hieße, sie könnten die Gegend verlassen. Die Russen haben noch keine offiziellen Bekanntmachungen erlassen. Es heißt zwar, daß in Wustrow ein Kommissar wäre u. in Althagen ein höherer Stab läge, aber zu sehen ist nichts. Frau Meisner war heute in der BuStu u. erzählte, daß ihre Mutter. Frau Geh Rt. Miethe, sehr schlecht von Russen behandelt worden sei. Frau Meisner wollte sich bei einer höheren Dienststelle, die in der Hoffnung untergebracht ist, beschweren. Dort befindet sich auch ein deutscher Kriegsgefangener als Dolmetsch u. dieser hat zu Frau Meisner gesagt, der General wohne in Ahrenshoop. Aber hier weiß niemand etwas von einem General.

     Um Mehlis aus seiner Unentschlossenheit herauszureißen, habe ich ihm zugeredet, los zugehen u. zu versuchen, nach Müritz zu den Engländern zu kommen. Er will das nun auch tun. Es hat für ihn ja keinen Zweck, hier herumzuliegen. Er fühlt sich hier unsicher u. diese Unentschlossenheit ist schlimm. Er muß irgend etwas tun, entweder gehen oder bleiben u. wenn er nicht mit innerer Sicherheit bleiben kann, ist es besser, wenn er geht, dann hat er wenigstens einen Entschluß.

     Es scheint nun so, als sei der Durchzug des Tross beendet. Die einzelnen Soldaten, die man jetzt sieht, scheinen richtige Infantristen zu sein.

[10]
Sonnabend, 5. Mai 1945.     

     Gestern ereignete sich nichts mehr. Auch die Nacht war ruhig. Ich saß bis 11 Uhr unten in der Diele Wache, aber es ereignete sich nichts, sodaß ich dann ruhig schlafen ging. Gefährlich sind wohl nur die Tross-Züge, die hier durchgekommen sind u. die ja bei allen Armeen der Welt aus Soldaten minderer Qualität bestehen. – Was jetzt hier ist, sind Infanteristen, die an der ganzen Küste entlang einzelne Doppelposten aufgestellt haben, die sich dort eingegraben haben. Am Hohen Ufer, wo unsere Batterie gestanden hat, haben sie zwei Geschütze aufgestellt, wie mir Mehlis sagte. Gestern Abend sah ich vom Seezimmer aus, wie Papenhagen sich an den Posten heranmachte, der hier vor uns sich in die Düne eingrub. Papenhagen brachte den Leuten dann etwas Baumaterial, damit sie sich vor Regen schützen konnten. Das war sehr geschickt. Als es dämmerig war, ging auch ich hin u. brachte ihnen ein paar Zigaretten. Der Mann, dem ich sie gab, war ein großer, blonder u. nett u. gutmütig aussehender Soldat, nicht so jung, wie die Troß-Soldaten meist waren, so etwa 30 Jahre. Er freute sich über die Gabe u. sagte auf deutsch „Danke schön“. So war die Freundschaft geschlossen. Ich werde das öfter tun, damit die Leute uns wohlgesinnt bleiben.

     Die Aufregung der gestrigen Nacht u. des gestrigen Tages macht sich nun doch bemerkbar. Alle im Hause sind etwas nervös, auch Paul. Ich habe noch am meisten meine Ruhe bewahrt.

     10 Uhr Vorm. Frau Müller aus dem Geschäft Saatmann kam u. sagte, die Leute erzählten, die BuStu sei ausgeräubert worden. Wir gingen sofort rüber u. stellten fest, daß jemand von der Westseite, vom Hause Dohna her, durch die Scheibe, die dort kaputt ist u. die wir bloß notdürftig vernagelt hatten, eingestiegen war. Es war alles sehr durchwühlt, aber offenbar haben die Leute nicht viel gefunden, was sie interessierte. Aus dem Turm haben sie wenigstens eine große Puppe herausgeholt u. heute früh haben mehrere Leute einen Russen mit einer Puppe unterm Arm auf der Straße gesehen. Was sonst noch fehlt, läßt sich schwer feststellen.

Sonntag, 6. Mai 1945.     

     Gestern Vormittag sah ich Prof. Reinmöller auf der Straße gehen. Sein Selbstmord war also wieder einmal ein falsches Gerücht. Dagegen wurde mir der Selbstmord des Herrn v. Knesebek durch dessen Nichte bestätigt.

     Ich versuchte gestern Vormittag, irgendwo einen Offizier aufzutreiben. Es hieß, es solle einer im Kurhaus wohnen, doch bestätigte sich das nicht. Ich wollte ihn gern bitten, die Soldaten vor weiteren Plünderungen zurückzuhalten. Ferner wollte ich nach Frau Longard sehen u. Frau Garthe besuchen, doch waren so viel einzelne Soldaten im Dorf, daß ich nicht bis dorthin kam. Sie gingen in die Häuser u. klauten besondes Schuhzeug u. Herrengarderobe. Bei uns war aber keiner. Mittags oder bald danach kam eine Limousine mit einem Hauptmann u. zwei Soldaten. Sie kamen ins Haus, besichtigten die Räume unten, ohne sonst etwas zu untersuchen. Der Hauptmann ging dann nach oben, einer der Soldaten ging mit, anscheinend ein Unteroffizier, jedenfalls hatte er Schulterklappen. Sie gingen durch alle Zimmer, öffneten alle Türen, jedoch nur, um zu sehen, was da wäre. In meinem Schlafzimmer interessierte sich der Hauptmann für den Kleiderschrank. Er tastete zwischen den Anzügen herum u. griff in das obere Bord in die Wollsachen, die dort lagen, anscheinend wohl, um zu sehen, ob dort eine Pistole läge. Die Geldkassette interessierte ihn. Da er sie nicht aufbekam, [11] half ich ihm u. zeigte ihm den Inhalt. Die Geldscheine, die darin lagen, interessierten ihn nicht. Die zweite Nickel=Kassette hat er entweder nicht gesehen, oder sie interessierte ihn nicht weiter. In der Droguerie, in der es sehr dunkel ist, leuchtete ich ihm mit einer Kerze. Dort stehen sehr viele verschlossene Behältnisse, aber er griff nur nach einem Kasten, der obenauf stand. Ich öffnete sie ihm u. er war zufrieden. Dann ging er wieder runter, besichtigte auch noch den Keller. Der andere Soldat, der unten geblieben war, stellte inzwischen fest, daß das Telephon außer Betrieb war. Als die Leute wieder gehen wollten, versuchte ich, dem Hauptmann zu sagen, daß geplündert würde, doch verstand er kein Wort. Er war sonst sachlich u. korrekt, sprach kein Wort, grüßte nicht, war weder freundlich noch unfreundlich. Er war ein großen, ungeschlachter Kerl mit einem rohen Gesicht u. einigen Karbunkeln im Nacken, ein richtiger Knoten. Alle drei fuhren dann in ihrer Limousine weiter, kamen dann aber nach etwa 10 Min. wieder zurück u. fuhren in Richtung Althagen davon. Ich habe nicht feststellen können, ob sie inzwischen noch ein anderes Haus besichtigt haben. Diese Besichtigung durch einen Hauptmann kann ja nur den Zweck haben, ein Haus zu suchen, daß sich für ein Stabsquartier eignet, u. da unser Haus sicher für ein solches geeignet ist, haben wir sofort begonnen, unsere Sachen auszuräumen. Vor allem habe ich meine Kleidungsstücke u. die von Fritz verborgen, denn danach herrscht offenbar starke Nachfrage. Es zeigt sich, daß alle diese Bolschewisten große Neigung zur Bürgerlichkeit haben u. erpicht sind auf Herrengarderobe, Schuhzeug, Schmuck u. vor allem Armbanduhren. Die meinige besitze ich immer noch, obgleich ich sie immer trage. Auch aus der BuStu. haben wir gestern mit Hilfe von Frau Schwerdtfeger alles ausgeräumt, was Wert hat, nachdem Papenhagen uns die zerschlagenen Fenster mit Brettern vernagelt hat. Im Geschäft ist jetzt nur noch wertloses Zeug. Viel gestohlen haben sie in der vorgestrigen Nacht nicht, nur haben sie alles durcheinander geworfen, denn sie haben wohl hauptsächlich nach Zigaretten u. Schnaps gesucht. Martha meint, daß sie von Fritz Anzüge mitgenommen haben, die in Zimmer 4 im Schrank gehangen haben, aber das ist nicht sicher. Sie müssen wohl auch in meinem Atelier gewesen sein, da die Türe ja aufstand, aber sie haben nichts angerührt. Im Büro standen die Pakete von Dr. Krappmann, deren Umhüllung sie teilweise aufgerissen haben, aber anscheinend haben sie nichts herausgenommen. Auch die Koffer von Regina Treffer u. ihrer Kollegin, die dort standen, sind unversehrt.

     Paul war gestern um 2 Uhr im Kurhaus, wo sie einen Radio-Appadat mit Akku haben. Er hörte, daß der Waffenstillstand in Nordwestdeutschland, Dänemark u. Holland abgeschlossen sei, nur noch in der Tschechei wird anscheinend noch an einigen Stellen gekämpft. Den Doppelposten in der Düne hinter unserem Hause haben sie anscheinend wieder eingezogen, es gehen jetzt nur noch Patrouillen an der Düne entlang zum Schutze einer Telephonleitung, die sie dort gelegt haben. Auf dem Hohen Ufer stehen zwei Kanonen, die eifrig schießen, sobald sich draußen auf See Fahrzeuge sehen lassen. Es fahren manchmal solche vorbei, kleine Segelboote mit Hilfsmotor. Sie bleiben aber sehr weit draußen. Da die See meist ruhig ist, können sie das. Es werden wohl Flüchtlinge aus Kurland sein.

     Im Ort ist seit gestern Nachmittag ein Feldwebel als Ortskommandant installiert, der im Gemeindeamt sein Büro aufgeschlagen haben soll. Ich sah diesen Mann [12] gestern vom Fenster aus. Er machte einen recht guten Eindruck. Anscheinend trug er einen deutschen Soldatenmantel u. gab sich offenbar Mühe, proper u. ordentlich auszusehen. Er hat gestern seine erste Verfügung erlassen, daß die Einwohner ab 10 Uhr abends ihre Häuser nicht verlassen dürfen. Heute ist, wie Paul eben sagt, eine neue Verfügung angeschlagen, daß sofort alle vorhandenen Waffen im Haus von Wilh. Helms abzuliefern seien. Daraus schließe ich, daß der Feldwebel dort wohnt, da das Haus dem Gemeindeamt gegenüber liegt.

     Es scheint so, als wollte nach u. nach eine Beruhigung eintreten. Das Geschäft haben sie heute Nacht in Ruhe gelassen, nachdem sich wahrscheinlich herumgesprochen hat, daß dort nichts zu holen ist. Ich selbst habe mich heute Nacht ins Bett gelegt u. geschlafen, seit dem 1. Mai zum ersten Male ohne Kleider. Gestern sind einzelne Soldaten noch in einigen Häusern gewesen u. haben Essen verlangt. Da es aber nirgends etwas gibt außer Eiern, haben sie sich damit begnügt. Sie haben dann selbst Butter u. Speck geholt u. Rotwein oder Schnaps u. Brot u. haben sich die Eier braten lassen. Bei Frau Noelle in Althagen waren sie auch u. haben Zigaretten verlangt. Frau N. soll gesagt haben, daß sie selber gerne eine Zigarette hätte, worauf sie ihr eine Zigarette angeboten hätten. Außerdem haben sie ihr angeblich 50,– Rm. in Interalliiertengeld geschenkt. Dergleichen hört man öfter, ob's stimmt, weiß ich nicht.

     Paul war heute früh beim Bauer Paetow, um sich anzubieten ihm in der Arbeit zu helfen, da der polnische Knecht gestern mit allen polnischen u. russischen Hausgehilfinnen in einem requirierten Wagen mit requirierten Pferden abgefahren ist. Typisch ist, daß der polnische Knecht keinen Wagen u. auch nicht die Pferde von Paetow requiriert hat. Wagen u. Pferde waren mir ganz fremd, er muß sie sonst woher besorgt haben. Paetow ist sehr bedrückt gewesen u. hat es abgelehnt, sich helfen zu lassen, er meint, daß er das Vieh allein versorgen könnte. Man hat ihm alle Milchkühe gelassen, nur eine Starke hat einer der durchgekommenen Trosse mitgenommen. Auch Pferdegeschirr haben sie mitgenommen, aber immerhin doch altes Geschirr dafür dagelassen. –

     Die Patrouillen am Strande schießen zuweilen, wohl nur zum Spaß. Es macht diesen Russen Spaß, Lärm zu machen. So lassen sie die Motoren ihrer Beutewagen gern im Leerlauf laufen. Motorräder fahren sie kaputt u. verstehen nicht, den Motor wieder in Gang zu bringen, wenn er mal versagt. Sie reiten gern im Gallopp auf dem Bürgersteig, weil das so schön klappert. –

     Heute haben wir die Andacht ausfallen lassen. Zwar hatte ich mich darauf vorbereitet, aber gestern Abend war ich doch so müde, daß ich es aufgab. Es wäre wohl ohnedies niemand gekommen.

     Man sagt, daß Feldmarschall Paulus mit einigen Generalen aus russ. Kriegsgefangenschaft in Deutschland eine provisorische Regierung bilden werde, was also dem entsprechen würde, was ich immer vorausgesehen habe.

     2 Uhr nachm.

     Frau Dr. Umnus war mit ihrem Sohn hier. In Ribnitz sind nach ihrer Angabe alle Männer zwischen 17 u. 50 Jahren aufgerufen worden, sich zu melden. Diese Männer sollen heute auf dem Markt zusammengerufen sein, sollen in Lastwagen verladen worden sein u. mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden sein. So hat ihr der Autovermieter Johannsen erzählt, den sie auf dem Wege zwischen hier + Wustrow getroffen hat. Dummerweise hat sie nicht gefragt, warum denn nicht auch er abtransportiert worden wäre, da er doch auch zwischen 17 – 50 Jahren ist. Jedoch haben auch die Männer dieser Jahrgänge [13] in Wustrow Befehl bekommen, sich zu melden u. ihr Sohn, der 19 Jahre alt ist, hat es nicht getan, da die Eltern ja das Bauerngut in Althagen haben u. er sagen kann, daß er dort war. Man kann aber annehmen, daß auch die Männer aus Nie= u. Althagen u. aus Ahrenshoop sich melden müssen. Der junge Umnus will flüchten u. will versuchen, die Amerikaner, bzw. Engländer zu erreichen. Ich habe davon abgeraten, es ist unwahrscheinlich, daß er durchkommt.

     Frau U. wußte allerhand Nachrichten über Unstimmigkeiten zwischen Russen u. Anglo-Amerikanern insbesondere über die Besatzungszonen. Danach hätten die Russen eigentlich nur bis zur Westgrenze Pommerns besetzen dürfen u. sie wollen nun nicht mehr aus Rostock raus. Aber das alles sind ja Gerüchte u. ganz unkontrollierbar. Es wird furchtbar viel erzählt u. wenn man näher hinsieht, ist alles nicht wahr. So hat man erzählt, die Russen hätten den Hof unseres Bauern Paetow völlig ausgeplündert u. den alten Mann zum Schluß erhängt. Nichts davon ist wahr. Nur das stimmt, daß bis heute Nachmittag 4 Uhr alle Waffen abgegeben sein sollen. Martha u. ich haben eben vorsichtshalber Fritzens Zimmer durchsucht, haben aber nichts gefunden. Ich entsinne mich auch nicht, bei Fritz je eine Waffe gesehen zu haben.

Montag, 7. Mai 1945     

     9 Uhr morgens. Die Lage beruhigt sich mehr u. mehr. Gestern Nachmittag ging ich zu Frau Longard, die ich ganz wohl fand. Nachdem sich nun alles ereignet hat, ist sie viel ruhiger geworden. Sie hat natürlich auch mehrfach Besuch gehabt von den durchziehenden Tross=Soldaten, die Uhren, Ringe u. a. Schmucksachen geräubert haben u. auch den Frack-Anzug ihres Schwiegersohnes Pof. Kemper, den Frau Kemper neben anderen Sachen mit viel Mühe von Berlin hierher geschleppt hat, aber es ist sonst nichts geschehen. Es ist ja typisch, daß diese Bolschewisten grade einen Frack-Anzug klauen, darin offenbart sich die proletarische Sehnsucht nach der Bürgerlichkeit.

     Am Spätnachmittag kamen Frau Korsch u. Frau Masurek, die von ihren Erlebnissen erzählten. Auch ihnen ist nichts geschehen. Dann kam Herr Deutschmann, der sich nun wohl erhöhte Mühe gibt, mit uns gut zu stehen. Er wußte aber sonst auch nichts Neues. Während er hier war, kam die aufgeregte Frau Daubenspeck, die natürlich einen Korb voll Neuigkeiten wußte, aber alles belanglose Geschichten. Es sind gewiß hier u. da üble Dinge passiert, besonders im Hoffmannschen Hause, bei Knecht u. auch bei unserem Nachbar Brandt, aber was sonst erzählt worden ist, stellt sich gewöhnlich als maßlose Uebertreibung heraus. Spangenberg haben sie allerdings fast die ganze Garderobe gestohlen.

     Abends holte ich die letzte Flasche Wein, es war der Met-Wein, den wir vor einem Jahre zu Weihnachten von Betty Thomas aus Thorn bekamen. Wir haben nun bloß noch drei Flaschen franz. Sekt u. vier Flaschen Cognac. Paul u. Grete waren bei uns bis etwa 9 Uhr. Martha u. ich beteten dann noch gemeinsam einen Rosenkranz u. gingen dann schlafen.

     Sehr dumm ist es, daß man fast garkeine Nachrichten hört. In Swinemünde soll noch immer gekämpft werden u. auch sonst noch soll es einzelne Widerstandsnester geben, aber im großen Ganzen scheint doch überall Waffenruhe zu herrschen. Ob Paulus oder sonst jemand eine Regierung gebildet hat, ist nicht bekannt. Sobald das der Fall sein wird, wird doch wohl auch sofort der endgültige [14] Friede geschlossen werden, da ja irgendwelche Verhandlungen dazu nicht in Betracht kommen. – Es verlautet nichts darüber, wo unsere Bonzen geblieben sind. Diejenigen, welche Rundfunk hören können, weil sie einen Akku haben, erzählen, daß die Engländer an den Tod Hitlers nicht glauben, da noch niemand seine Leiche zu Gesicht bekommen hat. –

     Soeben sagt mir Paul, daß Frl. Wernecke bei unserem Kommandanten gewesen sei, um sich über die Ausreise=Möglichkeiten zu erkundigen. Er habe ihr gesagt, sie solle noch 2 – 3 Tage warten, dann käme eine Zivilverwaltung hierher, die dann die entsprechenden Anordnungen treffen werde. Unter dieser Zivilverwaltung wird man wohl einen polit. Kommissar zu verstehen haben. Es ist anzunehmen, daß dann das Militär weitgehend zurückgezogen werden wird u. vielleicht nur ein kleines Wachkommando hier bleibt, wahrscheinl. für mehrere Dörfer zugleich. Von einer Besetzung durch Anglo-Amerikaner scheint aber keine Rede mehr zu sein.

     3 Uhr nachm. Habe am Vormittag Gartenbeete eingeteilt, um Dahlien zu pflanzen, bin aber nicht sehr weit gekommen. Es strengte mich sehr an u. es fehlt die Lust. Später saß ich in meinem Zimmer am Fenster, als Eva von unten heraufrief. Ich ging rasch runter. Es stand ein Mongole an ihrer Tür u. wollte rein, der Kerl muß von hinten her durch den Garten gekommen sein. Ich ging, durch die Küche hinaus u. begrüßte den Burschen. Da er sich nicht vom Fleck rührte, versuchte ich es mit Zigaretten. Er wollte die ganze Schachtel haben, die ich ihm aber nicht gab. Dann wollte er eine Uhr haben, ich zuckte bedauernd die Achseln. Aber der Kerl ging nicht weg. Indessen ritten vorm Hause auf der Straße einige Russen umher, anscheinend Offiziere. Ich ließ den Kerl stehen, um nachzusehen, was es gäbe. Als ich wieder zurück kam, war der Kerl verschwunden, wahrscheinlich über die Düne.

     In die Russen ist heute etwas Bewegung gekommen. Fünfzig Mann Infantristen marschierten in Richtung Prerow, auch mehrere Wagen fuhren dorthin, einer mit einer angebundenen Kuh. Auch zwei Geschütze fuhren durch das Dorf. Radfahrer fahren viel nach beiden Richtungen, auch einige Autos.

     Eben kommt Paul vom Kurhaus, wo er den Sender gehört hat. Danach ist die endgültige Kapitulation der gesamten deutschen Wehrmacht jeden Augenblick zu erwarten. Es gibt nur noch einige kleine Widerstandsnester. Auf Rügen scheint bis jetzt noch gekämpft worden zu sein. Die gelegentlichen Flüchtlingsboote, die hier vorbeigefahren sind, dürften demnach von Rügen gewesen sein. In Norwegen, Dänemark u. Holland sollen die deutschen Formationen unter Führung ihrer eigenen Offiziere sich den Amerikanern stellen. Dönitz hat die Einstellung des U-Bootkrieges befohlen. Am Donnerstag begeht Churchill sein fünfjähr. Regierungsjubiläum u. man erwartet, daß bis zu diesem Tage der Krieg endgültig beendigt sein wird. – Von San-Franzisko hat es gehießen, daß die Russen die Regelung der polnischen Frage vertagen wollen. Der Sprecher im Rundfunk hat das „eine flagrante Verletzung der Abmachungen der Krim-Konferenz“ genannt, jedoch hat er gesagt, daß trotzdem die Verhandlungen weiter gingen, jedenfalls daß man dem Sinne nach die Beziehungen zu Rußland nicht abbrechen werde. Es bestehen demnach da sehr ernste Differenzen, die man bloß im Augenblick nicht auszutragen wünscht. Sie bleiben aber bestehen, bis zur gegebenen Zeit. Wenn ich [15] mir diese russischen Soldaten ansehe, wie sie hier herumlungern, so kann für mich kein Zweifel sein, daß die Anglo-Amerikaner diese Bande leicht besiegen könnten, wenn sie wollten. u. eines Tages werden sie es wollen. –

     Sonst wußte Paul nichts weiter. Von Himmler ist überhaupt nicht mehr die Rede, nur, daß ein Befehl von ihm aufgefunden worden ist, nach dem die Insassen des Konzentrationslagers Dachau keinesfalls lebend in die Hände der Anglo-Amerikaner fallen dürften. Es werden dort 30 – 40000 Insassen gewesen sein, der Befehl ist aber zum Glück nicht ausgeführt worden. – Ja, und noch dieses: die Amerikaner sind in Prag einmarschiert. Ich hatte bestimmt angenommen, daß man die ganze Tschechei den Russen überlassen würde. Wo hier oben bei uns die Anglo-Amerikaner eigentlich stehen, ist bisher immer noch nicht bekannt geworden.

Dienstag, 8. Mai 1945.     

     Von denen, die Radio hören können, hörten wir gestern Nachmittag, daß gestern früh 245 Uhr die bedingungslose Kapitulation der gesamten deutschen Wehrmacht unterzeichnet worden ist. Unterzeichnet haben Generaloberst Jodl u. ein Admiral, ich glaube mit Namen Freudenberg. Damit ist nun also endlich dieser furchtbare Krieg zu Ende, u. wenn man sich dieses Endes auch nicht besonders freuen kann, da wir weiterhin in Furcht u. Schrecken leben, so ist es doch wenigstens ein Lichtblick in eine bessere Zukunft. – Gestern Abend hörte man von Dänemark herüber lange anhaltende u. sehr schwere Detonnationen, es sind dort wohl alle Wehrmachts-Anlagen in die Luft gesprengt worden. Der ganze Horizont war verhangen von grauem Dunst, in dem die Sonne blutrot u. merkwürdig deformiert unterging.

     Nachmittags war Heinr. Dade, Trudes Vater, da u. berichtete, daß es bis jetzt allen gut ginge. Sie verstecken die Tochter bald hier, bald da. Er erzählte, daß die flüchtenden SS-Banden alle Boote vom Strande gestohlen hätten. Da sie aber nicht wußten, daß jedes Fischerboot im Boden ein Loch hat, das zugepfropft werden muß, ehe man das Boot zu Wasser bringt, sind die Boote voll Wasser gelaufen. Die Fischer haben ihre Boote am nächsten Morgen draußen auf See schwimmen sehen. Da das Boot von Fischer Meyer nicht gestohlen war, konnten sie sich alle Boote wiederholen. Von den SS-Leuten war nichts mehr zu sehen, sie werden wohl alle ertrunken sein.

     Gestern Morgen um 10 Uhr wurden, wie ich ebenfalls erst am Nachmittag hörte, die Leichen von Herrn + Frau Siegert auf dem Friedhof beigesetzt oder richtiger verscharrt. Budde hatte sich geweigert, Särge zu machen u. von ihren früheren Nazi=Freunden ist niemand dabei gewesen. Alle diese Weiber beteuern jetzt, daß sie niemals richtige Nazis gewesen wären, sie wären nur gezwungen worden. Es ist ein widerliches, gesinnungsloses Pack, wie es das immer gewesen ist.

     Die Engländer geben bekannt, daß sie im Konzentrationslager von Dachau u. a. aufgefunden hätten: den ehemaligen Reichsbank-Präsidenten u. Finanzminister Dr. Schacht, den Wehrmachts-Oberbefehlshaber in Belgien Generaloberst v. Falkenhausen u. den Pastor Niemöller.

     Im Dorf scheint sich die Lage weiter zu beruhigen. Die Russen haben am Dorfeingang nach Althagen zu einen Schlagbaum errichtet, dessen Zweck mir nicht verständlich ist. In Wustrow haben sie, so viel ich bisher gehört habe, zwei Häuser in der Strandstraße beschlagnahmt [16] u. zwar das Strandheim u. das Haus Lettow. Natürlich wurde gestern hier erzählt, die ganze Strandstraße sei „enteignet“ worden. Abends kam Dr. Ziel u. stellte die Sache richtig. Frau Dr. Hahn war in Wustrow gewesen u. hatte die Nachricht mitgebracht. Es scheint demnach so, als würde nun im Strandheim eine Ortsunterkunft für russ. Soldaten eingerichtet u. im Hause Lettow für den Stab eine Unterkunft geschaffen. Das ist alles. Ich habe mich nun aber darauf eingerichtet, daß auch unser Haus vielleicht beschlagnahmt werden könnte. In diesem Falle müßten wir alles an Wäsche u. Kleidung usw. aus den Fenstern werfen, da die Räumung sehr schnell vor sich gehen muß. In diesem Augenblick kommt Martha u. sagt, daß am Grenzwege bei uns ebenfalls heute ein Haus beschlagnahmt sei. Ich weiß nicht, welches, aber man hat den Leuten zwei Stunden Zeit gelassen, was vollauf genügen kann.

     Frau Dr. Hahn war in Wustrow beim Kommandanten, um einen Ausweis zu bekommen, daß sie ungehindert nach Wustrow fahren könne. Der Mann war höflich, wenn auch eiskalt, u. hat ihr gesagt, sie brauche dazu keinen Ausweis, sie könne ungehindert überall hingehen, aber es empfehle sich, nicht mit dem Rade zu fahren, da ihr dieses leicht von Soldaten abgenommen werden könne. Zu Fuß aber könne sie überall hingehen, wo russische Besatzung sei.

     Fischer Meyer fischt jeden Morgen, aber es ist nicht ungefährlich. Ich sah heute morgen vom Fenster aus, daß sein Boot unter Maschinengewehrfeuer genommen wurde. Die beiden Insassen warfen sich auf den Boden u. banden rasch ein Taschentuch an ein Ruder, mit dem sie winkten. Das Feuer hörte dann auf.

     Die Lebensmittel-Knappheit nimmt mehr + mehr zu, es kann das sehr schlimm werden. Gestern Nachmittag war Frau Nickstedt da, die dauernd in einer furchtbaren Angst lebt um ihre Tochter Brigitte. Die sonst so groben Züge dieser Frau sind durch diese Angst sehr veredelt worden, sodaß sie direkt schön aussieht. Auch Frau Beichter war vorgestern da, die ebenso Angst hat. Ich konnte diesen Frauen nur sagen, daß sie eben nun die Zähne aufeinanderbeißen müssen, zu helfen ist jetzt nicht mehr mit menschl. Hilfe. Ich habe ihnen gesagt, daß Martha u. ich täglich wenigstens einmal den Rosenkranz beten. Wir sind besorgt, haben aber keine Angst. Jetzt kann uns eben nur noch Gott selbst helfen, – u. wer sich bisher nicht um Gott gekümmert hat, der ist nun natürlich schlecht dran. – Auch Paul macht mir Sorge, er leidet sehr.

     5 Uhr Nachm. Es hat sich nichts von Bedeutung ereignet. Frau Margot Seeberg klagte mir, daß sie die Garderobe von Erich u. von ihrem Sohn Ando im Garten vergraben hätte, die Russen aber, die in ihr Haus garnicht gekommen sind, haben alles ausgegraben u. mitgenommen. Ich hatte ihr immer abgeraten, Sachen zu vergraben, nun klagt sie, daß sie meinem Rat nicht gefolgt ist. Sie sagte mir ferner, daß unser Auto vor der Garrage von Mc. Dornan steht u. nur 3 Räder hat. Damit ist also auch das erledigt. – Herr Bachmann will mit einem Russen gesprochen haben, der ziemlich gut deutsch sprach. Dieser soll gesagt haben, es käme noch eine Besatzung von 300 Mann hierher, aber in absehbarer Zeit würden sie abziehen u. wir würden amerikanisch werden. Es wird wohl kaum jemand etwas dagegen haben, aber es scheint mir doch sehr zweifelhaft. Sabine Klein hat einen durchziehenden amerikan. Kriegsgefangenen [17] gesprochen u. ihm einen Brief an ihren Vater nach Amerika mitgegeben. Sie erzählte das überglücklich Martha in dem Augenblick, als die Tochter von Frau Stricker da war, die mit ihrer ganzen elterlichen Familie von je her wütende Nationalsozialistin u. Judenhasserin war. Sie ist nun dauernd auf der Flucht vor den Russen, denn sie ist sehr hübsch. Sabine Klein, die Judentochter, nahm sich ihrer sofort an, bot ihr Quartier an u. einen anderen Mantel, da der Mantel, den sie trägt, auffällig u. den Russen schon bekannt ist.

     Paul hat um 2 Uhr im Kurhause wieder Nachrichten gehört. Churchill wird heute um 3 Uhr sprechen. Es ist sehr schade, daß man von all dem nichts hört.

     Die Russen sollen heute Nachmittag draußen auf der Kuhweide eine Siegesfeier veranstalten. Sie werden dann wieder schwer besoffen sein. Hoffentlich passiert nichts.

     Heute Vormittag bereitete ich mich auf den morgigen Vortrag vor, nachher pflanzte ich Dahlien.

     Bei Dr. Helms am Grenzweg sind 5 Offiziere einquartiert u. auch draußen in der Kolonie soll es viele einquartierte Offiziere geben. Ich weiß nicht, was die vielen Offiziere hier tun, nachdem nirgends einfache Soldaten einquartiert sind. Diese scheinen alle in Althagen untergebracht zu sein, u. vor allem in Wustrow. Die Bevölkerung dort hat viel mehr zu leiden, als wir hier. Aber daß unser Haus bisher so völlig verschont geblieben ist, ist wirklich wie ein Wunder.

Mittwoch, 9. Mai 1945.     

     Martha u. ich versuchten gestern Abend, Radio-Nachrichten bei Frau Sperling im Hause von Paepke zu hören, da dort der Apparat gewöhnlich funktioniert; aber grade gestern Abend war der Strom so schwach, daß auch dort nichts ankam. Ich wollte gern etwas über die Rede hören, die Churchill gestern Nachmittag gehalten hat. Wir gingen dann gleich wieder nachhause, denn man kann nicht ohne Sorge von Hause fortgehen.

     Die sog. Siegesfeier, die die Russen gestern veranstaltet haben sollen u. von der ich mit Besorgnis eine allgemeine Besoffenheit erwartet hatte, ist sehr ruhig verlaufen. Hier u. da hörte man Russen singen, bzw. gröhlen u. vereinzelt wurden Leuchtraketen geschossen, aber schon um 10 Uhr war alles ruhig. Ich blieb vorsichtshalber bis 12 Uhr am Fenster sitzen u. betete den Rosenkranz, aber dann ging ich schlafen. Ich habe bis jetzt, 9 Uhr Morgens, nicht gehört, daß sich irgendwo etwas ereignet hätte.

     Gestern im Laufe des Tages erhielten wir durch irgend einen Boten ein Briefchen von Carmen Grantz, nach dem es ihr u. ihrer Mutter noch gut geht. Die Russen haben ihr, wie üblich, eine Uhr weggenommen, eine Flasche Parfüm u. ein Paar lederne Handschuhe, doch ist es ihr gelungen, die letzteren wieder aus den Manteltaschen der Russen zurückzustehlen. –

     Es ist im allgemeinen ruhiger geworden, aber es gibt immer noch einzelne herumlungernde Soldaten, die in die Häuser eindringen, alles durchwühlen u. mitnehmen, was ihnen grade gefällt.

4 Uhr nachm. – Es heißt, daß die sog. Siegesfeier gestern garnicht stattgefunden habe, sie soll erst heute Abend stattfinden, aber nicht bei uns, sondern bei Schütz in Althagen. –

     Nun ist auch noch die Möglichkeit, Radio-Nachrichten zu hören, die bisher im Kurhause bestand, verloren gegangen. Der Apparat ist mitsamt dem Akku gestohlen worden. Wir sind nun ganz auf Gerüchte angewiesen. Eines davon besagt, daß Himmler in Gelbensande aufgefunden [18] worden sein soll. Die Leiche Hitlers soll immer noch nicht gefunden sein, aber der Vergiftungstod von Goebbels u. seiner ganzen Familie scheint sicher zu sein. Paul meint, man sollte wenigstens noch seine Leiche aufhängen. Es will ihm nicht in den Kopf, daß dieser Kerl so billig davongekommen sein sollte. Ich glaube aber, daß er doch ein sehr schlimmes Ende gehabt haben muß, denn er war doch zu intelligent, um selbst an all das zu glauben, was er dem Volke vorgelogen hat. Er muß dieses Ende doch schon lange vorausgesehen haben, u. es wird schon eine Höllenqual gewesen sein, jede Woche einen Artikel von der Gewißheit des Sieges schreiben zu müssen. Er soll ja wohl sieben Kinder gehabt haben, dazu er u. seine Frau. Er ist also mit neunfachem Mord belastet in die Ewigkeit gegangen, abgesehen von den zahllosen Mord= u. Greueltaten, die ihm indirekt zur Last fallen. Die Hölle macht jetzt reiche Ernte. – Ueber den Verbleib der anderen Halunken hört man nichts. Es heißt ja, daß irgendwo in den Alpen noch von letzten SS=Verbänden gekämpft wird. Die Kerle besitzen sogar noch einen Sender u. geben einen Heeresbericht heraus.

     Heute Vormittag pflanzte ich weite Dahlien. Es ist heute sehr schönes, warmes Wetter. Auch Gladiolen-Zwiebeln habe ich gepflanzt.

Donnerstag, 10. Mai 1945.     
Christi Himmelfahrt.     

     Gestern Abend kurz vor Beginn des Vortrages, kam wieder ein Russe ins Haus. Er kam von hinten her in die Küche. Es war wohl ein Pole. Ich weiß nicht, was diese Burschen eigentlich wollen. Er erbat sich Trinkwasser, das er bekam, aber es war wohl bloß ein Vorwand. Er sah sich mit dem etwas verlegenen u. dummdreisten Gesicht des Knechtes, der den Herrn spielt, um, ging in die Diele, interessierte sich für das Telephon. Ich zeigte ihm, daß es außer Betrieb sei. Dann wollte er ins Eßzimmer. Ich konnte ihm verständlich machen, daß dort Eva's Kind schliefe u. da ließ er es. Dann deutete er auf die Treppe u. sagte etwas, was ich nicht verstand. Zur Probe nickte ich mit dem Kopfe, worauf er die Treppe hinaufgehen wollte. Ich vertrat ihm den Weg u. schüttelte nun zur Abwechslung den Kopf u. er gab seine Absicht auf. Dann ging er langsam raus, besah den Hintergarten u. kam wieder zurück. Ich gab ihm zwei Zigaretten u. dann zog er langsam ab. Nach kurzer Zeit erschien er aber wieder mit einem Radfahrer. Beide gingen an die Tür des kleinen Hauses u. rüttelten daran, dann gingen sie zum Seiteneingang der BuStu u. rüttelten u. schließlich zogen beide ab u. verschwanden im Strandweg. – Es passiert ja nichts, aber es ist jedesmal eine arge Nerven-Erregung. Gestern waren solche Leute auch bei Bernh. Saatmann, der schon wiederholt ausgeplündert worden ist, u. haben wieder alles durcheinandergewühlt.

     Paul hat gestern Abend um 5 Uhr bei Frau Sperling Rundfunk gehört. Der Strom ist etwas stärker geworden, aber bei uns reicht er noch nicht aus, weder für den Rundfunk, noch für die Pumpe. Er hat gehört, daß die bedingungslose Kapitulation nun endgültig von der Interalliierten Kontrollkommission im Beisein von Generalfeldmarschall Keitel in einem Vorort Berlins, ich glaube in Kaulsdorf, ratifiziert worden ist. Damit ist nun der Waffenstillstand endgültig Tatsache. Es ist weiter gesagt worden, daß Herm. Goering mit Frau u. Kind in Gefangenschaft gekommen sei. Goering habe erklärt, daß er den Führer aufgefordert habe, die Regierungsgeschäfte an ihn [19] abzugeben. Daraufhin habe der Führer in verhaften lassen u. habe ihn zum Tode verurteilt. Die Luftwaffe habe ihn aber aus den Händen der SS befreit. –

     Nach dem Vortrage gestern Abend, an dem Herr + Frau Ziel u. Herr Dr. Hahn teilnahmen, berichtete Dr. Ziel von einem Gang nach Wustrow. Er hat Herrn Zelk besucht, der beim Kommandanten von Wustrow war u. dem er gesagt hat, wer er sei u. daß er von den Nazis viel zu leiden gehabt habe u. auch in Haft war. Er hat gefragt, ob er einen Passierschein nach Hamburg bekomen könne. Der Kommandant sei sehr freundlich gewesen, habe ihm einen Passierschein ausgestellt für ihn u. seine Frau u. ist beim Abschied sogar aufgestanden u. hat Herrn Zelk die Hand gegeben. Das ist angesichts der eisigen Kälte, der man sonst begegnet, immerhin sehr viel.

     Ueber die Zustände in Wustrow sagte Dr. Ziel, daß die ganze Strandstraße vom Strandheim ab abgesperrt sei. Die Hausbesitzer haben die Häuser räumen müssen, es mögen das etwa 15 Häuser sein, u. diese Häuser sind mit Soldaten belegt worden, sodaß dort nun alle Soldaten zusammen wohnen. Es ist ihnen streng verboten, andere Häuser zu betreten. Auch Nachts dürfen die Soldaten ab 10 Uhr nicht mehr auf der Straße sein. Es gehen Nachts zwei Patrouillen. Der Bürgermeister hat vorgeschlagen, daß diese Patrouillen von zwei Bürgern begleitet werden sollen u. der Kommandant hat dem zugestimmt. Die Läden sind dort wieder geöffnet u. das Leben fängt an, wieder normal zu sein. Die vier Barnstorfer Bauern, die ihre Gehöfte verlassen mußten, da sie von Soldaten belegt wurden, konnten ihre Gehöfte wieder in Besitz nehmen. Die Männer von 18. – 60 Jahren sind zusammengerufen worden u. man hat, wenn ich mich recht besinne, die Soldaten unter ihnen herausgenommen u. sie nach Ribnitz gebracht die übrigen konnten wieder nachhause gehen, ohne daß sie registriert worden wären. Es scheint also, als ob in Wustrow das Leben wieder anfängt, normal zu werden, es wird also wohl auch bei uns bald wieder normal sein.

     Die sog. Siegesfeier der Russen ist ebenfalls ruhig verlaufen, so weit ich bis jetzt sehe. Ich hatte deshalb Sorge u. blieb bis 12 Uhr wach, aber es ereignete sich nichts. Nur Leuchtraketen sah ich am Himmel stehen.

     Gestern Nachmittag war auch Herr Heide bei uns, der Schwiegersohn der Frau Lange, der selbst ein großer Lümmel ist. Ich gab ihm Zigaretten, da er uns versprach, uns Gemüse, Kartoffeln u. Butter zu bringen. Bei ihm im Hause ist der Strom schon stark genug, daß er Radio hören kann.

     Das Gerede, daß wir schließlich doch englische Besatzung erhalten würden, will nicht verstummen. Es geht offenbar von den Russen selber aus, die gern hier fort wollen, teils, weil sie überhaupt nachhause wollen, teils, weil ihnen unser Land zu arm ist u. sie sich hier auf die Dauer nicht ausreichend ernähren können. Sie räubern ja auch die Gegend aus u. es kann das auf die Dauer nicht gut gehen. – Man hört auch heute morgen noch immer schwere Sprengungen aus dem Südwesten u. Westen.

Freitag, 11. Mai 1945.     

     Borchers hat unser Radiogerät so eingestellt, daß wir nun auch trotz des schwachen Stromes empfangen können. Die endgültige Kapitulation hat nicht in Kaulsdorf, sondern in Karlshorst stattgefunden, in Berlin selbst gibt es kein Haus mehr, in dem dergleichen stattfinden könnte. Jetzt ist auch die Leiche des Halunken Bormann in Berlin aufgefunden worden, aber von Himmler, Ley [20] u. Rosenberg fehlt noch jede Spur. In der Tschechei gibt es noch Kampfverbände, die immer noch weiter kämpfen trotz der Kapitulation, man muß diese Banden einzeln totschlagen.

     Gestern Nachmittag besuchten uns Herr + Frau Soehlke, aus Althagen. Die Zustände dort scheinen immer noch sehr böse zu sein. Es gibt dort keinen Kommandanten, wie in Wustrow u. bei uns, anscheinend deshalb, weil dort die Russen im Gelände der Batterie einquartiert sind. Die Soldaten räubern dort noch sehr viel u. plündern die Bauern aus, deren Aecker zertrampelt werden. Diese Räubereien dehnen sich dann auch bis an unsere Grenze aus, sodaß der Grenzweg viel zu leiden hat. Dort sind neuerdings Vergewaltigungen von Frauen vorgekommen. Auch Radiogeräte werden jetzt gestohlen. Bei Soehlkes, bei denen jetzt auch Frau Kuhnke wohnt, ist bis jetzt alles ziemlich glimpflich abgelaufen, aber die Frauen müssen dauernd bereit sein, in der Nacht auf die Wiesen zu fliehen, wenn Russen kommen.

     Später war Frau Longard da. Sie war überaus nervös. Bei ihr sind zwei Offiziere mit ihren Burschen einquartiert, wodurch sie zwar einigermaßen geschützt ist, aber sie selbst hat nun bloß noch ihr kleines Schlafzimmer zur Verfügung u. es ist viel Unruhe im Hause. Sie brachte mir eine Beschreibung der Stellen ihres Grundstückes wo sie Wertsachen vergraben hat, damit ich später ihrer Tochter diese Beschreibung geben soll, falls sie selbst bis dahin gestorben sein sollte. Die alte Dame sehnt sich danach, daß sie diese Erde verlassen darf.

     Im Dorfe selbst, d.h. in der Hauptstraße, ist gestern nichts weiter passiert, nur die weiter zurück liegenden Grundstücke von Triebsch, Seeberg, Reinmöller usw. werden jetzt noch heimgesucht. Ich entnehme daraus, daß die Soldaten jetzt doch anfangen, sich zu scheuen, ihr Räuberhandwerk öffentlich zu betreiben. Nicht weniger schlimm sind die ortsfremden Flüchtlinge. Sie haben die Einrichtung des Kaffee Namenlos ausgeplündert. Sie gehen zu den Bauern u. wenn sich diese ihren Forderungen widersetzen, drohen sie damit, daß sie mit Russen wiederkommen würden. Der Bauer Paetow, dessen Frau allerdings schon immer im Rufe großen Geizes stand, ist total ausgeplündert worden, nachdem er den Russen, die Brot, Eier u. Butter gefordert hatten, dies verweigert hatte. Sie haben das Haus durchsucht u. sollen in der Räucherkammer die Produkte von zwei ausgeschlachteten Schweinen mitgenommen haben. Auch alle Kartoffeln u. alles Heu haben sie genommen. Den Bauern in Althagen ist es ebenso ergangen. Es wird eine furchtbare Hungersnot geben.

     Frau Longard erzählte, daß der eine der Offiziersburschen ein Bettlaken zerschnitten hat u. daß er von ihr verlangt habe. Säcke daraus zu machen, damit er darin Sachen nachhause schicken könne. In der Tat sah ich gestern einen Wagen vorbeifahren, auf dem mehrere Pakete lagen, die in weiße Leinewand eingenäht waren. Die Soldaten schicken in dieser Art das geraubte Gut nachhause.

     Wir haben alle Garderobe u. Wertsachen auf dem Boden verborgen, auch das Radiogerät von Paul, das nicht auf den schwachen Strom umgestellt ist. Unseren Apparat verbergen wir im Seezimmer. Bisher haben wir ja so gut wie keine Verluste gehabt, aber man ist nie sicher.

     Auch Frau Boroffka war gestern Nachmittag bei uns. Man hat ihr einen Fotoapparat genommen. Die russischen Offiziere wollen nun gern photographiert werden, aber [21] sie tut es nicht, da sie den zweiten Apparat verborgen hat u. ihn nicht zeigen will.

     Ich pflanzte gestern wieder Dahlien. Ich habe jetzt die meisten Knollen in der Erde, aber es sind immer noch welche da.

     Herr Soehlke erzählte mir von den Verwüstungen am Wustrower Strande, als die SS am 1. Mai mit ihren Lastwagen dorthin u. nicht weiter kam. Sie haben dort alle ihre Wagen vernichtet u. den Inhalt verteilt oder umhergeworfen. Es gab dort Massen von Wein, Schnaps, Schokolade, Bohnenkaffee usw., lauter Dinge die die Bevölkerung schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Diese Bande hatte alles zusammengestohlen. Die Herren Offiziere sind dann mit dem Vermessungsboot geflüchtet.

     In Wustrow sollen mehrere Selbstmorde vorgekommen sein: der Mann der Frau Woehrmann soll sich die Schlagader aufgeschnitten haben, Frau W. hat sich die Pulsadern geöffnet, jedoch soll sie daran nicht gestorben sein. Auch der Gendarmerie-Wachtmeister soll sich mit seiner Frau erhängt haben. Alle diese Leute waren Nazis. So traurig es ist, darf man doch nicht vergessen, daß alle diese Leute im Falle eines Sieges der Nazis uns unfehlbar ans Messer geliefert hätten.

     1/2 3 Uhr nachm. Die Russen sind heute früh aus Ahrenshoop abgerückt. Der sog. Kommandant ist nicht mehr im Hause von Wilh. Helms u. auch das Gemeindeamt ist frei. Auch aus der Kolonie draußen höre ich, daß dort alle Offiziere fort sein sollen u. auch die Soldaten, die draußen im Kinderheim waren, sind fort. Zwar fahren durch's Dorf noch einzelne Wagen u. Autos, zuweilen auch ein Reiter, aber sonst ist von den Soldaten nichts mehr zu sehen. Heute morgen wurde am Strande noch hier u. da geschossen, wie sie es ja anscheinend zum Zeitvertreib immer getan haben. Besonders gestern war diese Schießerei sehr wild, aber auch das ist nun schon seit einigen Stunden verstummt. Die erste Nachricht, daß die Russen fort wären, brachte mir Herr Dr. Ziel gegen 11 Uhr. In Althagen u. Wustrow dagegen sind sie noch alle da. Evi Schönherr u. Frl. v. Tigerström waren Mittags hier, besonders erstere war furchtbar deprimiert. Sie ist auch ziemlich ausgeplündert worden, aber es ist beiden sonst nichts passiert. Irgend ein Russe soll gesagt haben, daß sie bis zum 15. Mai die ganze Gegend hier geräumt haben würden.

     Leider ist es aber auch mit dem elektr. Strom wieder vorbei, sodaß man heute Nachmittag um 2 Uhr die Nachrichten nicht hören konnte.

Sonnabend, 12. Mai 1945.     

     Es ist immer noch kein Strom da. – Die Russen sind tatsächlich aus Ahrenshoop abgezogen, nur die Offiziere liegen noch draußen in der Kolonie im Quartier. Sie scheinen außer sehr viel Essen u. Trinken nichts zu tun zu haben.

     Herr Gräff hat durch Anschlag am Schwarzen Brett bekannt gemacht, daß er die Geschäfte des Bürgermeisters „im Einverständnis mit dem Kommandanten“ wieder übernommen habe. Dieser einverstandene Kommandant ist aber nicht mehr da.

     Gestern Abend war Herr Brandt bei uns. Er, Paul u. ich besprachen, was zu tun sei, um der zu erwartenden Hungersnot entgegenzutreten. Gräff ist dem nicht gewachsen, er besitzt keine Initiative u. es taucht immer öfter die Idee auf, daß ich die Geschäfte übernehmen soll. Ich weigere mich jedoch entschieden. Ein Anderer ist nicht da. Also spreche ich dafür, daß man Gräff ruhig im [22] Amte lassen soll, nur soll man ihm Männer zur Seite geben, die Initiative besitzen u. den Kram machen. So wäre Paul für die ganze Verwaltung ausgezeichnet geeignet u. er könnte dann später, wenn sich die Verhältnisse geklärt haben, auch das Amt übernehmen. Herr Brandt wäre sehr geeignet, Lebensmittel von den Gütern jenseits des Bodden heranzuschaffen u. vor allem könnte er den Paetow'schen Hof, der ja nicht erst jetzt schlecht bewirtschaftet wird, ertragreich machen. Jedenfalls sind drei Maßnahmen dringend erforderlich. 1) Es müssen diejenigen Lebensmittel, die in den Geschäften noch vorhanden sind, so sichergestellt werden, daß sie an die Allgemeinheit ausgegeben werden u. nicht bloß an einzelne Freunde der Ladeninhaber. Bei Reichert=Saatmann soll noch immer etwas vorhanden sein, trotz der Plünderung, doch werden diese Lebensmittel unter der Hand an die guten Freunde abgegeben. 2) Es müssen neue Lebensmittel zugeführt werden. In Wustrow ist z.B. ein Dampfer mit Mehl angekommen. Was für Wustrow möglich ist, muß auch für uns möglich sein. Der Schlachter muß in die Lage versetzt werden, Schlachtvieh heranzuschaffen. Herr Brandt ist ebenfalls bereit, nach Ribnitz zu fahren. Man muß notfalls den hier einquartierten Offizieren die Sache vorstellen u. sich von ihnen beraten lassen. 3) Es muß der Hof von Paetow sachgemäß bewirtschaftet werden, wozu Herr Brandt ebenfalls bereit ist. Ferner müssen die Russen veranlaßt werden, in Althagen ihre Pferde nicht auf die Aecker zu treiben. Es sollen dort 300 Pferde auf den Aeckern stehen u. den jungen Roggen abweiden.

     Ich will nun heute zu Gräff gehen u. ihm dies alles vorstellen u. ihn fragen, was er zu tun gedenkt. Falls er nichts unternimmt oder unternehmen will, will ich zu Deutschmann gehen u. zu Kapitän Krull u. will beide zu einer Besprechung einladen mit Paul, mir u. Herrn Brandt. –

     Gestern Abend um 10 Uhr beobachtete ich, daß ein geschlossener Kutschwagen, vom Darss her kommend, vor den Eingang zum Strandweg hielt. Ein Mann lief in den Strandweg hinein. Gleich darauf ertönte Lachen u. Weibergekreisch aus der Holzbaracke hinter Dohnas Haus, wo Flüchtlinge aus Ostpreußen oder Stettin wohnen. Unter ihnen sind drei junge Mädchen, von denen man mir erzählt hat, daß sie sehr enge Beziehungen zu unserem bisherigen russischen Kommandanten gehabt hätten. Eine Mädchenstimme rief einen Namen u. sagte „Dein Liebster ist schon da!“ Dann war viel Gekreisch u. Gelache. Nach einiger Zeit kam jener Mann, der in den Strandweg gelaufen war, wieder heraus in Begleitung von zwei Mädchen. Die eine der beiden stieg mit dem Mann in den Kutschwagen, die andere blieb zurück. Der Wagen wendete u. die Zurückbleibende rief „Alles Gute!“ Darauf fuhr der Wagen in raschem Tempo in Richtung Darss zurück, die Zurückgebliebene ging wieder in den Strandweg. – Es wird also wohl unser bisheriger Kommandant gewesen sein, der sich das Mädchen abgeholt hat.

     Nachm. 4 Uhr. Ich war morgens bei Gräff. Ich fand ihn an einem Tischchen in der kleinen Veranda vor seinem Hause, wo er Lebensmittel-Bezugscheine ausgab. Es war ein immerwährendes Kommen u. Gehen, teils Deutsche, teils [23] Russen. Die Leute erzählten, daß jetzt bei der Batterie in Althagen ein großer Anschlag sei, nach dem sich alle Männer zwischen 17 – 50 Jahren zu melden hätten, ferner, daß alle Flüchtlinge bis zum 14. Mai, also Montag, den Ort zu verlassen hätten, u. endlich, daß alle Radiogeräte abzuliefern seien. Es ist zu erwarten, daß dieselbe Anordnung auch für Ahrenshoop erfolgen wird. Die Flüchtlinge sollen nach Ribnitz transportiert werden, wie sie von dort weiterkommen werden, weiß niemand. u. wenn sie weiterkommen, weiß niemand, wohin sie gehen sollen, denn meistenteils existiert ihre Heimat ja nicht mehr. Mitnehmen können sie natürlich garnichts. – Die Ablieferung der Radio-Geräte ist völlig unbegreiflich.

     Gräff wußte mir nichts zu sagen. Er zeigte mir die Verfügung, daß er die Bürgermeister-Geschäfte wieder zu übernehmen habe u. die vom Kommandanten in Wustrow ausgefertigt ist. Er weiß aber nicht, wer denn nun eigentlich als Behörde zuständig ist. Er hat Passierscheine vorbereitet für den Schlachter Leplow u. a. Leute, aber da er ja nicht mit jedem solchen Schein nach Wustrow laufen kann, muß er warten, bis irgend ein höherer Offizier einmal kommt, um solche Scheine zu unterzeichnen. Dann aber ist solch ein Passierschein von zweifelhaftem Wert, da kein russischer Soldat sich daran kehrt. Die Leute werden unterwegs trotzdem ausgeplündert. Leplow würde niemals mit Schlachtvieh bis hierher kommen, auch wenn er irgendwo solches noch auftreiben würde. Bisher hat Gräff solche Unterschriften wenigstens von den Majoren bekommen, die bei Frau Longard wohnten, aber diese sollen nun auch fort sein. Alles Bettzeug haben sie mitgenommen. Gräff wartet nun auf den Kommandanten von Dierhagen, der bisher jeden Tag mit dem Auto nach Ahrenshoop gekommen sein soll u. der nach Gräff's Beschreibung ein Mann ist, mit dem sich reden läßt. Jedenfalls sind die Schwierigkeiten ungeheuer u. man kann Gräff keinen Vorwurf machen, wenn keine Ordnung ist. Ich sagte ihm, daß in Wustrow ein Schiff mit Mehl angekommen sei, wovon er nichts wußte. Von Reichert=Ribnitz wollte er wissen, daß er total ausgeplündert sei u. deshalb Lebensmittel nicht hierher schicken könne. Von Saatmann meinte er, daß es dort keine Lebensmittel mehr gäbe, außer etwas Zucker. Ich bezweifelte das, konnte es aber nicht beweisen. Vom Paetow=Hof sagte er, daß dieser total ausgeplündert sei. Nach dem, was Herr Brandt gestern abend sagte, müssen aber doch noch Saatkartoffeln da sein u. auch noch anderes Saatgut, denn Brandt sagte, er habe Paetow u. auch Waterstradt geholfen, Kartoffeln zu pflanzen u. zu säen. Ich konnte Gräff nun auch nichts weiter sagen, als daß Paul bereit wäre, ihm zu helfen. Es schien, als ob er bereit wäre, sich helfen zu lassen. Paul muß sich ihm notfalls aufdrängen. Vorläufig hat das zwar noch kaum Zweck, denn das Gemeindeamt ist total demoliert. Die Russen haben sämtliche Schränke u. Schreibtische erbrochen, Stühle zerschlagen u. mit den Akten ihre Feldküche geheizt. Alle Grundstücks-Akten sind vernichtet.

     Martha ist eben zu Deutschmann gegangen, um ihn zu interessieren, daß Paul in die Gemeinde-Geschäfte eingeführt wird. Auch Küntzels sind ja Flüchtlinge u. müssen Ahrenshoop räumen, wenn hier ein solcher Befehl erlassen werden sollte, was bestimmt zu erwarten ist.

[24]      Ich pflanzte weiter Dahlien u. einige junge Zwiebelpflanzen, die uns Frau Schuster heute früh brachte. Um 3 Uhr hatten wir ein kurzes, heftiges Gewitter mit minimalem Niederschlag.

     Vormittags waren Frau Soehlke u. Frau Kuhnke da u. erzählten von den Zuständen in Althagen, die noch viel unsicherer sind als bei uns. Es ist eine furchtbare Not. Man muß lachen, wenn man an die vier Freiheiten denkt, die Herr Roosevelt versprochen hat u. unter denen die Freiheit von Furcht die begehrenswerteste war. Wir kommen Tag u. Nacht nicht aus der Furcht heraus. Dazu kommt, daß es jetzt überhaupt keinen Strom mehr gibt, sodaß man keine Nachrichten hört. Wenn man uns dann noch die Radio-Geräte fortnehmen wird, dann weiß man überhaupt nichts mehr. Heute hat es bei Leplow Fleisch gegeben. Die Leute haben stundenlang angestanden. Beinahe hätte es aber auch dies nicht gegeben, da die Russen heute früh bei Leplow eingedrungen sein sollen, um das Fleisch fortzunehmen. Es konnte schließlich noch verhindert werden. Spangenberg haben sie zwar bis jetzt noch seine Pferde gelassen, – ein wahres Wunder, denn die Pferde sind gut, aber sie haben ihm heute auch noch den zweiten Wagen fortgenommen, nachdem der erste schon vor mehreren Tagen fortgenommen wurde. Wenn wir über Wustrow Lebensmittel bekommen sollten, werden keine Wagen dasein, um sie abzufahren.

Sonntag, 13. Mai 1945.     

     Wir holten heute in der Andacht das Himmelfahrtsfest nach. Die Beteiligung war natürlich schwach. Außer Martha u. Brigitte Nickstedt waren nur die vier Damen aus Stettin da. Dennoch war es sehr schön u. es herrschte eine gute u. lebendige Gebetsgemeinschaft. Die Stettiner Damen waren in Sorge wegen der drohenden Anordnung, wieder nach Stettin zurückkehren zu müssem. Zwar möchten sie es ganz gern, aber sie haben Sorge, wie sie dorthin kommen werden. Ihre Stettiner Bekannten, die in Althagen gewohnt haben, sind teilweise schon gestern abgereist. Sie sind mit dem Dampfer nach Ribnitz gekommen, aber weiter weiß man nichts. Sie müssen all ihr Hab u. Gut hier lassen, in der Hoffnung, daß man es ihnen später nachsenden wird. –

     Grete nimmt an den Andachten nicht mehr teil, auch an den Mittwoch-Vorträgen nicht. Sie sagt, sie wäre jetzt dazu „nicht in Stimmung“. Daraus ergibt sich die grenzenlose Oberflächlichkeit ihres sog. Christentums, das für sie nur ein Komfort für gute Tage ist u. in ernsten Zeiten nicht standhält. Daß der Glaube grade in den Zeiten der Not u. Gefahr eine Stütze u. Hilfe u. ein Schutz ist, das ist ihr offenbar noch nie aufgegangen. Alles fromme Gerede ist bei ihr nur dummes Geschwätz.

     Der gestrige Tag u. die Nacht sind ganz ruhig verlaufen. Gestern war in Wustrow eine große Truppenschau. Es soll ganz militärisch dabei zugegangen sein, sogar Militärmusik soll es gegeben haben.

     Unser Auto steht auf der Straße mit drei Rädern u. mit abmontiertem Motor. – Herr Dr. Hahn war gestern Abend da. Er trägt sich mit der Absicht, nach Berlin zurückzukehren. Er hat kein Geld mehr u. hofft, in Berlin bei einer neuen Regierung wieder beschäftigt zu werden, aber vorerst ist von einer deutschen Regierung noch keine Spur zu sehen. Allerdings haben wir ja keine Nachrichten, da es immer noch keinen Strom gibt.

[25]      Paul zeigte mir eben einen Aufruf an die Bevölkerung, den er entworfen hat u. den der Bürgermstr. unterschreiben soll. Der Aufruf ist sehr gut. Paul ist eben zu Gräff gegangen, um ihm den Aufruf zu zeigen. Ich hoffe, daß Gräff so intelligent sein wird, u. einsehen wird, daß die Hilfe, die er von Paul haben kann, für ihn u. die ganze Gemeinde von Wert ist.

     Zwei junge Frauen im Dorf erwarten dieser Tage ihre Niederkunft: Frau Pilster=Hoffmann u. die Tochter von Rechtsanw. Vogt. Dr. Meyer weigert sich, von Wustrow hierher zu kommen, u. er kann es auch nicht, da er von 10 Uhr abends die Straße nicht betreten darf. Ebenso ist es mit der Hebamme aus Wustrow. Ich bin zwar der Meinung, daß die Russen dem Arzt u. der Hebamme einen Passierschein geben würden, wenn sich Dr. M. darum bemühen würde. Die jungen Frauen sind natürlich in großer Sorge deshalb.

     Wir haben herrliches Frühlingswetter, von den Tücken der drei gestrengen Herren ist nichts zu spüren. Wir schmückten heute den Altar mit den ersten Tulpen.

Montag, 14. Mai 1945.     

     Gestern war ein richtig heißer Sommertag. Heute ist ebenfalls klares Wetter, aber windig.

     Am Spätnachmittag kamen Frau Denzien aus Althagen, die Frau des Ribnitzer Rechtsanwalts, der ehemals ein großer Nazi war. Mit ihr kam Frau Meyer, die Frau eines Oberleutnants, der bei der aus Swinemünde hierher gekommenen Marine-Artillerie-Abteilung war. Sie selbst war die Führerin der Nachrichten-Helferinnen derselben Abteilung. Beide Frauen wohnen in Althagen im Hause Smith, in der Wohnung von Dr. Krappmann. Auch der Oberleutn. Meyer selbst ist noch dort, sowie der Kapitänleutnant Wegener, der Führer dieser Abteilung u. dessen Frau. Da nun heute alle Flüchtlinge Althagen verlassen u. alle Männer zwischen 17 – 50 Jahren sich melden müssen, will der Oberlt. Meyer mit seiner Frau heute früh Althagen per Rad verlassen, um zu versuchen, sich nach dem Westen durchzuschlagen. Frau Denzien will zurück nach Ribnitz. Der Kapitänlt. Wegener bleibt mit seiner Frau da u. meldet sich. Seine Frau, die erst vor wenigen Tagen ein Kind bekommen hat, könnte eine so anstrengende Reise nicht machen. Uebrigens ist sie von einem russischen Soldaten vergewaltigt worden.

     Frau Denzien wollte wissen, daß die Russen in Ribnitz u. Rostock fürchterlich gehaust haben, bzw. noch hausen Es sollen sich dort einige achtzig Personen das Leben genommen haben, unter ihnen die Frau des Zahnarztes Mayn. Dr. Thron soll mit seiner Frau gut durch alle Fährnisse hindurchgekommen sein. Dr. Wessel soll geflüchtet sein, aber man will wissen, daß die Russen ihn dann doch geschnappt hätten. Alles das sind aber bloß Gerüchte. Man sagt, daß die Russen in ganz Mecklenburg viel schlimmer gehaust hätten, als hier bei uns. Abends kam noch Agnes Borchers u. ihr Mann. Sie erzählte, daß die Russen weitere Häuser in Niehagen=Fulgen beschlagnahmt hätten, die Bewohner hätten angeblich in einer halben Stunde die Häuser räumen müssen, unter ihnen auch der alte Koch=Gotha. Es sollen nach Alt= u. Niehagen wieder neue Truppen gekommen sein. Ich kann mir nur denken, daß das vorübergehende Maßnahmen sind, bis all diese Truppen nach Rußland zurück transportiert werden. –

Auch Herr Brandt kam am Spätnachmittag. Der Mann [26] entwickelt ein gewaltiges Interesse am Wohl unserer Gemeinde, – ein Interesse das bestimmt nicht ohne Eigennutz ist. Er bemüht sich sehr, zu beweisen, daß er nie Nazi war.

     Der alte Papenhagen ist gestern Abend erst aus dem Darss zurückgekommen. Die Russen haben ihn nach Ibenhorst geholt, wo er Reparaturarbeiten an Wagen u. Geräten machen muß. Sie bauen dort behelfsmäßige Unterkünfte u. es scheint so, als ob dort eine stärkere Abteilung läge. Es ist sehr sonderbar, daß die Russen die ganzen Fischlanddörfer so stark belegen u. sich im ganzen Darss bis Prerow u. Zingst festgesetzt haben, während Ahrenshoop völlig frei von Truppen ist. Auch am Tage sieht man verhältnismäßig wenig Soldaten durch das Dorf gehen, das Plündern hat fast ganz aufgehört, nur Nachts kommen immer einige Soldaten her, schlagen gegen Haustüren u. begehren Einlaß auf der Suche nach jungen Frauen u. Mädchen. Dennoch bleibt immer die Sorge über uns schweben, daß sie auch bei uns Häuser beschlagnahmen u. mit Soldaten belegen.

     Sehr unanständig fand ich gestern die Frau des Oberlt. Meyer, die den Unfall von Dr. Krappmann als beabsichtigt hinstellte, um sich auf diese Weise vor den Russen in Sicherheit zu bringen. Wenn es der Fall wäre, was ja immerhin möglich ist, dann wäre das sehr geschickt gemacht worden, aber man könnte ihm nicht den geringsten Vorwurf daraus machen. Er war ja nicht Chef der Batterie, sondern nur Kursusleiter u. wenn er sich der russischen Gefangenschaft entziehen konnte, dann wäre er dumm gewesen, es nicht zu tun. Er hatte keine Verpflichtung, bei der Batterie zu bleiben. Frau Meyer aber machte ihre Bemerkungen so, daß man daraus ein abfälliges Urteil entnehmen mußte. Herr Oberlt. Meyer hat sich ja bisher selbst der russ. Gefangenschaft entzogen, indem er sich in Civil im Hause Smith verborgen gehalten hat. Um das Schicksal der Mannschaften hat sich ja keiner dieser Herren gekümmert. Keiner der Soldaten hat gewußt, wo ihre Vorgesetzten geblieben waren. Ebensowenig hat sich die Frau Meyer um die Nachrichten-Helferinnen weiter gekümmert. Alle diese Mädchen sind einzeln unter dem unzulänglichen Schutz einzelner Soldaten auf die Wanderschaft gegangen, was aus ihnen geworden ist, weiß niemand.

     3 Uhr nachm. Heute Vormittag brachte ich die letzten Dahlien-Knollen in die Erde. Ich habe sie diesmal alle ohne Komposterde eingepflanzt, sie werden dürftig werden, aber wenigstens verfaulen die Knollen nicht im Keller.

     In der Nacht sind Flüchtlinge wieder im Geschäft von Reichert-Saatmann gewesen u. haben noch von dem herausgeschleppt, was noch da war. Es sollen hauptsächlich die Leute gewesen sein, die im Haus am Meer untergebracht sind u. die wirklich übelster Pöbel sind. Seit heute Vormittag steht nun bei Saatmann alles an, was stehen kann, denn er verkauft nun die Reste. Eben kommt Herr Borchers, der für uns mit angestanden hat, u. bringt, was er bekommen hat: Zucker, Erbsen, Gries.

     Susi Lappe hat Martha erzählt, daß ihre Verwandten aus Born gestern mit einem Boot von dort herübergekommen seien. Sie haben gesagt, daß in Born kein einziger russischer Soldat sei. Es ist wirklich merkwürdig, wo doch Ibenhorst voll Soldaten ist. Herr Gerdes, der freilich viel schwätzt, wollte heute bestimmt wissen, daß die Russen bald abziehen. Ich glaube es nicht.

     Paul ist heute zum ersten Male in der Gemeinde [27] tätig gewesen. Er hofft, daß er morgen einen Lebensmittel-Transport nach Ribnitz u. zurück organisieren kann, doch hängt das davon ab, was Herr Niemann, der heute nach Ribnitz zur Erkundung gefahren ist, für Nachrichten bringen wird. Dieser Herr Niemann stammt aus Stralsund. Er tauchte hier am 1. Mai Abends plötzlich auf. Er war mit seiner Familie von Stralsund im Auto geflohen u. kam dann hier nicht weiter.

     Gestern starb in Althagen Frau Elly Abeking am Herzschlag.

Dienstag, 15. Mai 1945.     

     Keine besonderen Ereignisse. Paul war gestern in Althagen u. traf unsere Trude, die ihm erzählte, daß die Eltern Dade Einquartierung von zwei Russen bekommen hätten. Bisher haben Dades die Tochter gut verbergen können, nun wird das sehr viel schwerer sein. Heute ist trübes u. windiges Wetter, aber bisher nur sehr geringe Niederschläge. Gerüchtweise wird erzählt, es sei nun endlich eine provisorische Regierung unter Generalfeldmarschall Paulus gebildet worden. Hoffentlich stimmt das, damit endlich wieder Post, Eisenbahn u. Stromversorgung in Betrieb kommen. Es ist lähmend, daß man überhaupt nicht weiß, was in der allernächsten Umgebung vor sich geht.

     5 Uhr nachm. Paul sagt mir eben, daß er mit jenem Herrn Niemeier (oder Niemann?) aus Stralsund gesprochen hat, der von seiner Mission in Ribnitz zurückgekehrt ist. Danach sollen in Ribnitz lauter rote Fahnen wehen u. die Kommunisten sollen die Lage beherrschen. – Er hat berichtet, daß Mehl, Kartoffeln u. a. Lebensmittel zur Verfügung stehen, doch müssen wir sie selbst abholen, was morgen geschehen soll, teilweise allerdings aus Rostock. Es ist ein Förster hier aus Ostpreußen, der eine Holzgas-Zugmaschine u. einen Wagen hier hat u. der bereit ist, mit entsprechendem Ausweis zu fahren. Die Ausweise sind vorhanden. In der Molkerei Wustrow sollen die Russen 60% der Milch beschlagnahmt haben, sodaß nur 40% für die Bevölkerung übrig bleibt. Infolgedessen will die Molkerei nur noch Mecklenburg beliefern, wir in Ahrenshoop bekämen dann nichts. Da wir dann aber auch keine Milch abzuliefern brauchen, wäre das ja nicht schlimm.

     Paul meint, daß die Erzählungen des Herrn Niemeier vielleicht nicht so ernst zu nehmen sind. Immerhin wird die russ. Verwaltung den Kommunisten ja keine Schwierigkeiten machen u. solange keine deutsche Regierung da ist, können sie natürlich nach Moskauer Muster tun u. machen, was sie wollen. – Alles Gerede, daß die Russen abziehen u. die Engländer herkämen, verstummt mehr u. mehr.

Mittwoch, 16. Mai 1945.     

     Der arme Paul ist furchtbar deprimiert. Ich holte gestern Abend eine Flasche franz. Cognag herauf u. gab ihm zu trinken, um seine Lebensgeister wieder aufzufrischen.

     In der Nacht waren wieder Plünderungen, wie es jede Nacht der Fall ist. Man ist niemals sicher, daß man nicht selbst drankommt. Es ist wie ein Wunder, daß bei uns noch nie etwas passiert ist.

     Heute ist nun also das Lebensmittel-Auto nach Ribnitz gefahren, vielleicht bringt es etwas. Mit dem Auto sind auch Flüchtlinge abgefahren, wie überhaupt ununterbrochen Flüchtlinge Ahrenshoop verlassen. Wenn wir diese [28] erst einmal los sein werden, wird es um vieles besser werden.

     Eben war Dr. Ziel bei mir. Später kam Paul dazu. Dr. Ziel will nach Wustrow u. will versuchen, den Kommandanten zu sprechen. Er will es unter der Firma eines Märtyrers des 3. Reiches versuchen. Anscheinend verfolgt er die Absicht, nach Chemnitz zurückzukehren u. wieder Landgerichtspräsident zu werden. Falls er zum Kommandanten vordringt, wollte er diesem vorstellen, daß Gräff seinen Bürgermeister-Geschäften nicht gewachsen ist, – was ja auch stimmt, – u. er fragte, ob er mich dann in Vorschlag bringen dürfte. Ich lehnte das aber mit Entschiedenheit ab. Ich werde nie wieder freiwillig mich in politische Geschäfte begeben. Ich schlug ihm aber Paul vor. Paul meinte, daß er die Verhältnisse dazu zu wenig kenne, daß er aber nach wie vor bereit sei, Gräff zu helfen u. später vielleicht die Geschäfte übernehmen werde. – Unter diesen Umständen verzichtete Ziel darauf, diese Sache beim Kommandanten zu berühren. Er will aber versuchen, zu erreichen, daß diese Plünderungen aufhören, die wirklich schwer zu ertragen sind. Man ist nie sicher. – Bei dieser Gelegenheit erzählte Ziel, daß gestern ein Ukrainer bei ihm gewesen sei, d.h. also ein russischer Soldat. Ziels hatten das Haus verschlossen u. wollten den Mann nicht hereinlassen. Da er heftig pochte, ging Ziel hinaus. Der Mann sagte, daß er Auftrag habe, das Haus zu besichtigen u. daß er kein Russe, sondern Ukrainer sei u. daß man vor ihm keine Angst haben brauche. Er hat dann gefragt, wieviele Leute im Hause wohnten u. als er hörte, es seien 8 Personen, hat er das Haus garnicht weiter betreten. Dieser Mann hat zu Ziel gesagt, daß die Russen am 15. Mai alle zurückgezogen würden östlich der Oder. Dieser Termin ist ja auch schon früher häufig genannt worden, aber wir haben alle nicht daran gedacht, daß der russ. Kalender 13 Tage zurück rechnet. Es würde also nach unserem Kalender der 28. Mai sein, also in 12 Tagen. Ich traue mich nicht, daran zu glauben, aber es wäre sehr schön. Martha hat von irgend jemand, der Radio hören kann, gehört, daß Churchill eine Rede gehalten hat, in der er mit größter Energie die sofortige Auslieferung jener Polen=Kommission verlangt hat, die z. Zt. von London nach Warschau oder Lublin gesandt worden sei u. nachher nach Moskau verschleppt worden ist. Es scheint, daß die Spannung zwischen England = Amerika u. Rußland erheblich zugenommen hat, aber daß England entschlossen ist, nicht nachzugeben. Churchill soll gesagt haben, daß die Westmächte unter keinen Umständen einen neuen totalitären Staat in Europa dulden würden. Das hat er ja früher auch schon erklärt. In der Tat würden ja England u. Amerika sonst um die Früchte ihres Sieges geprellt werden. Und daß Amerika u. England sehr viel stärker sind als Rußland, kann niemand bezweifeln, der diese russischen Soldaten gesehen hat. Sie sind nichts als eine disziplinlose Horde. Allerdings wäre der Ausbruch eines offenen Konfliktes für uns ein furchtbares Unglück.

     Heute Morgen ist unsere Trude wiedergekommen. Die Eltern Dade haben zwar Einquartierung bekommen, aber keine Soldaten. Es ist eine Russin, die bei ihnen untergebracht worden ist. Seitdem ist bei ihnen aber ein großes Gelaufe von Soldaten u. Trude ist deshalb wohl dort nicht mehr sicher. Sie wird nun wohl auch Nachts bei uns schlafen.

[29]      4 Uhr Nachm. Die Russen waren in der Nacht in mehreren Häusern. Mittags 1 Uhr waren zwei Kerle bei Frau König. Sie haben den Keller nach Wein durchsucht u. dabei alle Flaschen mit Hollunderbeer-Saft auf den Boden gegossen. So geht es immerzu.

     Ilse Schuster, die ein Akku-Radio hat, erzählte mir von der ernsten Spannung zwischen England-Amerika u. Rußland, aber auch, daß die Engländer garnicht daran denken, eine deutsche Regierung einzusetzen. Sie sprechen nur von der alliierten Militär-Regierung. Sie sollen gesagt haben, daß sie mit einem Volke, welches die Greuel der Konzentrationslager geduldet habe, keine freundschaftlichen Beziehungen haben wollten. Welch ein Unsinn! denn diejenigen, welche Insassen dieser Konzentrations-Lager waren, waren doch ebenfalls deutsche Volksgenossen u. sie haben doch eben bewiesen, daß wir solche Greuel nicht dulden wollten, wohl aber erdulden mußten. Aber man erkennt daraus, daß die Leiden unseres Volkes noch lange nicht aufhören werden.

Donnerstag, 17. Mai 1945.     

     Soeben um 9 Uhr Morgens kommt durch Erika das Gerücht zu uns, Schweden habe an Rußland den Krieg erklärt. Da man keinerlei positive Nachrichten hat, weder durch Zeitung noch Radio u. man sich auf gelegentliche Berichte von den wenigen Leuten verlassen muß, die einen Akku haben u. die dann meist auch nicht ganz zuverlässig sind, kann man zu diesem neuesten Gerücht nur wenig sagen. Sicher ist nur, daß die Spannung zwischen den Westmächten u. Rußland sehr groß ist.

     Nun kommt eben Paul u. sagt, daß die Russen im Abmarsch seien. Es sollte heute früh das Lebensmittel-Auto nach Ribnitz fahren, es ist aber nur bis zur Batterie gekommen. Dort war der ehemalige Obermaat Richter, der das Auto gewarnt hat, weiter zu fahren. Alle Pferde der Russen sind zusammen getrieben, alle Wagen gepackt, alle Autos stehen auf der Straße u. alles deutet auf den sofortigen Abmarsch hin. Das Auto hat es unter diesen Umständen nicht gewagt, weiterzufahren u. ist zurückgekehrt.

     Paul ist nicht der Ansicht, daß es wirklich zum Kriege gegen Rußland kommen würde, u. wenn es dazu käme, fürchtet er das Schlimmste. Ich teile diese Ansicht nicht. Ich bin der Meinung, daß England u. Amerika alle Früchte ihres Sieges aufs Spiel setzen, wenn sie Rußland gewähren lassen u. ein Sowjet=Polen einrichten lassen. Um dies zu verhindern, ist es grade jetzt die richtige Zeit. Die Engländer u. Amerikaner sind noch durchaus kampfkräftig u. verfügen über eine ungeheure Material-Ueberlegenheit, während die Russen total abgekämpft u. sehr kriegsmüde sind. Viel Material besitzen sie nicht. Diese ganze russische Soldateska ist eine sehr undisziplinierte Horde ohne Zucht, die Offiziere haben nur geringe oder garkeine Autorität. Ich nehme an, daß die Russen im Falle eines Konfliktes sofort das ganze Gebiet östlich der Oder kampflos räumen werden. Vielleicht machen sie damit bereits den Anfang. Gestern war den ganzen Tag über eine starke Bewegung bei den Russen zu spüren, es fuhren viele Pferdewagen in Richtung nach der Batterie mit gestohlenen Sachen. Ich sah mehrere Wagen voll Matratzen, Stühlen u. Schränken, man sagt, sie hätten das Kurhaus total ausgeräumt. – Gestern waren auch sehr starke Explosionen zu spüren, sodaß das Haus davon zitterte, u. soeben wiederholte sich das. Es war wie ein Fernbeben. [30] Es müssen wohl im Westen u. Süden sehr große Sprengungen vorgenommen sein u. das tut man ja nicht, wenn man irgendwo bleiben will.

     Trude berichtet eben, daß in Wustrow die GPU eingerückt sei u. zahlreiche Verhaftungen ehemaliger Nazis vorgenommen haben soll. Es ist wohl möglich, daß sie diese Nazis vor ihrem Abmarsch dingfest machen werden. Auch Bachmann sollen sie suchen der heute früh mit dem Lebensmittel-Auto nach Ribnitz fahren wollte, aber nicht da war.

     Es ist also eine große Spannung festzustellen. Ueber die Beziehungen Rußland = Japan gehen auch die widersprechendsten Gerüchte. Einige sagen, Rußland habe Japan den Krieg erklärt, andere, daß umgekehrt Rußland sich mit Japan verständigt habe.

     10 Uhr. Ich war eben bei Ilse Schuster, wo ein Akku ist. Dort ist weder gestern Abend, noch heute morgen über Schweden irgend etwas gesagt worden, dagegen hat offensichtlich die Spannung zwischen den Westmächten u. Rußland so zugenommen, daß in scharfen Ausdrücken davon gesprochen wird. England führt Klage, daß es bereits seit einem Monat nichts mehr von der nach Polen gesandten Kommission gehört habe, ferner, daß es sehr lange hätte warten müssen, bis es von Italien aus in Oesterreich hätte einrücken können u. daß die Russen vorher ohne Zustimmung der Westmächte in Oesterreich die Regierung Renner eingesetzt habe u. schließlich, daß Marschall Tito Triest widerrechtlich besetzt habe. –

     Eben hörte man von Althagen her ein ungeheures Hurrah-Geschrei der Russen, sehr lange anhaltend, dazu Freudenschüsse aus MG's u. Gewehren, so wie es diese wilden Horden zu tun pflegen.

     5 Uhr nachm. Frau Dr. Daubenspeck war eben da, um mich zu überreden, Bürgermeister zu werden. Das ganze Dorf wolle es. Ich habe wieder abgelehnt u. darauf hingewiesen, daß Paul die Geschäfte viel besser macht als ich u. daß er sich ja auch ganz dafür einsetzt. – Sie erzählte uns dann viele Greuelgeschichten. Es ist ja wirklich sehr schlimm, wie die Russen es treiben; aber daran könnte ich auch nicht das Geringste ändern. Diese russ. Offiziere haben ja überhaupt keine Autorität, sie beteiligen sich ja selbst an den Räubereien u. Vergewaltigungen.

Freitag, 18. Mai 1945.     

     Gestern gegen 6 Uhr hatten wir ein Gewitter mit ungewöhnlich starkem Wolkenbruch. Die schmalen Wege zwischen den Beeten des Gartens standen im Nu randvoll von Wasser. Am Vormittag hatte ich Tomaten gepflanzt, dieser Regen ist den jungen Pflanzen sehr gut bekommen

     Vorher war Gretel Neumann bei Martha gewesen. Sie war sehr deprimiert, da die Russen das ganze Kurhaus ausgeräubert haben. Sie waren vorgestern mit 15 Wagen dort, haben alle Matratzen u. Betten herausgeholt, aus der Küche fast sämtliche Kochtöpfe gestohlen u. die Lebensmittel-Vorräte teils mitgenommen, teils vernichtet. Gestern waren sie nochmals mit 2 Wagen da u. haben noch die restlichen Stühle u. dergl. abgeholt. Wie ich höre, sollen sie es im Charlottenhof ähnlich gemacht haben. Gretel Neumann selbst ist bisher noch nichts passiert, aber ihre Kusine soll nun schon zum zweiten Male vergewaltigt worden sein. –

     Es sind gestern einige Abteilungen der Russen abgezogen, aber es sind noch genug hier geblieben, um uns weiterhin zu peinigen. Immerhin sieht man nicht mehr so viele Soldaten. [31] Von Prerow hört man ebenfalls schlimme Sachen. Es gibt dort kein Brot. Die Flüchtlinge dort sollen bis zum 21. Mai den Ort verlassen haben. Da die Russen sie aber nicht nach Barth durchlassen, – warum, ist unerfindlich, müssen sie alle hier durch nach Ribnitz. Man sieht da furchtbare Elendszüge. Auch bei uns gehen einige Flüchtlinge fort. Es erleichtert das natürlich unsere Ernährungslage. Man sagt, daß ein notdürftiger Zugverkehr bis Stralsund u. Greifswald bestünde, darüber hinaus ist nichts bekannt.

     Heute morgen scheint nun ja das Lastauto losgefahren zu sein, um Lebensmittel zu holen. Man kann gespannt sein, ob es Erfolg haben wird.

     Bei Küntzels scheint die Nervenspannung sehr ernst zuzunehmen. Grete benimmt sich höchst unzulänglich. Sie hat die Manie, sich für die Familie aufzuopfern; aber sie tut das nicht still u. demütig, sondern laut u. immerfort klagend, sodaß sie Paul damit belastet u. auch uns lästig fällt. In diesem Geiste hat sie von je her ihre Töchter, besonders Erika, dazu erzogen, nichts zu tun u. alle Arbeit ihr selbst zu überlassen u. dann klagt sie, was sie zu tun hat u. ist mißgünstig auf alle, die ihre Ruhe bewahren. Es ist recht schwer, mit ihr zu leben. Sobald es angeht, werde ich zuerst Erika an die Luft setzen u. dann müssen Küntzels sehen, eine andere Wohnung zu bekommen. Es wird ja, sobald die Verhältnisse wieder etwas normaler werden, genug Wohnraum hier geben. Paul möchte gern hier bleiben u. er könnte gut das Siegertsche Haus mieten; aber ich glaube, daß Grete zu einer Rückkehr nach Berlin drängen wird.

     Woher das Gerücht kam, daß Schweden Rußland den Krieg erklärt haben soll, habe ich noch nicht ermitteln können. Es scheint daran kein wahres Wort zu sein.

     2 Uhr nachm. Gretel Neumann u. Bachmann waren da. Beide sehr deprimiert. Gretel hat morgen Geburtstag u. sie baten uns nachmittags 4 Uhr zum Kaffee zu kommen. – Spangenberg brachte uns Erbsen. Am Vormittag waren nicht weniger als 18 Mann bei ihm, um nach Sachen zu suchen, die sie gebrauchen können.

     Es stellt sich nun heraus, daß gestern eine Abteilung Russen aus Althagen abgerückt ist, dafür sind aber neue 200 Mann gekommen. Viele Einwohner sind aus ihren Häusern hinausgejagt worden u. es wohnen die Russen darin. Heute Vormittag haben sie bei uns in der Herm. Göringstraße Betten aus den Privathäusern geholt. Trude ist heute nicht gekommen, es war ihr vielleicht zu unsicher. Von Vergewaltigungen hat man in dieser letzten Nacht nichts gehört, aber dafür räubern sie um so mehr Lebensmittel. Es wird eine entsetzliche Hungersnot geben.

     Ich hielt Herrn + Frau Lieber, die bei König wohnen, vor dem Hause an. Er war Soldat u. ist hier geblieben, seine Frau ist Italienerin. Er ist Ingenieur u. lebte bis zum Kriege in Norditalien. Er besitzt einen Akku. Er hat gehört, daß die Russen die Insel Bornholm besetzt hätten, die dänisch ist. Sonst hat es nichts Neues gegeben. Es ist z. Zt. in Deutschland nur der Admiral Dönitz da, mit dem die Alliierten verhandeln, d.h. Dönitz hat nur die Aufgabe, die Befehle u. Anordnungen der alliierten Militärbehörden entgegenzunehmen. Im übrigen denken die Alliierten garnicht daran, in Deutschland eine provisor. Regierung einzusetzten, sie wollen höchstens mit der Zeit eine deutsche Verwaltung ernennen.

     Die Spannung zwischen Anglo-Amerika u. Rußland [32] hält weiterhin an, aber es besteht die Absicht, Ende dieses Monats eine neue Konferenz zwischen Churchill, dem amerikan. Präsidenten u. Stalin stattfinden zu lassen. Davon, daß die Russen unsere Gegend räumen werden, ist nun keine Rede mehr.

Sonnabend, 19. Mai 1945.     

     Gestern Abend kam Agnes Borchers u. ihr Mann. Sie war schrecklich aufgeregt, was sie ja immer ist, u. berichtete, daß ihr Schwager Fritz Peters aus Wustrow verhaftet sei und nach Althagen zu Bendix gebracht worden wäre, wo er streng bewacht würde. Außer ihm sollen auch noch viele andere Wustrower, die eine Rolle in der Partei gespielt haben, verhaftet worden sein. Jetzt behauptet Agnes plötzlich, Peters wäre nie Nazi gewesen; aber in der Tat ist er ja immer sonntags mit seinem Patrei-Abzeichen herumgelaufen u. bei näherer Nachfrage stellt sich heraus, daß er sogar das Amt hatte, die Mitglieds-Beiträge einzusammeln. – Ich beruhigte aber Agnes damit, daß die Russen eben ganz natürlich alle Nazis zunächst einmal sicher stellen wollen u. daß garkein Grund zur Besorgnis vorliegt. – Sie wollte weiter wissen, daß gestern Abend bei den Russen ein großes Fest stattfünde. Wir waren deshalb wirklich in Sorge, weil wir Betrunkene in der Nacht befürchteten. Paul schlief deshalb in Kleidern, ich selbst blieb bis nach 12 Uhr auf, legte mich dann aber schlafen, da alles ruhig war. Wie sich heute morgen herausstellte, war an der ganze Geschichte nichts Wahres. Schließlich berichtete sie noch, daß an der Gemeindetafel angeschlagen sei, daß sich heute alle Männer zwischen 17 – 60 Jahren zu melden hätten u. daß morgen alle Radio-Geräte abzuliefern seien.

     Heute Morgen kam Trude wieder. Sie hatte gestern gesehen, daß vier Wustrower Männer unter russ. Bewachung nach Althagen gebracht worden seien, unter ihnen sei auch Fritz Peters gewesen. Diese Männer sind im Hause Bendix interniert worden u. sie werden in dem Gelände der Batterie mit Erdarbeiten beschäftigt. Alle vier waren ehemalige Nazis. Die Sache ist also vollkommen in Ordnung. Die Russen benötigen Arbeiter, wahrscheinlich zum Latrinenbau u. ähnlichem, u. sie holen sich dazu ehemalige Nazis. Dagegen ist nichts einzuwenden.

     Wir nehmen die Tatsache, daß sich die Männer heute melden müssen, zum Anlaß, um die Einladung zu Gretel Neumanns Geburtstag abzusagen. Wenn ich mich selbst auch nicht zu melden brauche, da ich annehme, daß man mich zu den 60-jährigen rechnen wird, obwohl noch 6 Wochen daran fehlen, so muß sich doch Bachmann melden u. da wird die Stimmung nicht sehr gut sein.

     4 Uhr nachm. War Vormittags an der Gemeindetafel, um mir den Anschlag anzusehen. Er nennt sich „Wehrmachts-Befehl Nr. 1.“ u. geht vom Befehlshaber in Ribnitz aus. Er ist ziemlich umfangreich. Wesentlich ist neben der Meldung der Männer zwischen 18 – 60 Jahren, daß Waffen u. Radiogeräte abzuliefern sind u. daß alle Arbeiter u. Geschäftsleute sofort ihre bisherige Arbeit wieder aufzunehmen haben. – Es standen dort natürlich viele Leute, darunter auch Frau Booth, die sich am meisten dafür interessierte, ob sie sich auch melden müsse, da alle Leute der SS u. SA, der NSKK. des SD u. der Polizei, auch der HJ u. BdM u. der Frauenschaft sich zu melden haben. Die NSV war aber zur großen Erleichterung von Frau Booth nicht dabei. Frau Booth fing nun an, auf den Führer zu schimpfen. Ich drehte mich um u. sprach vor allen Anwesenden meine Verwunderung aus, daß jetzt diejenigen, die [33] noch vor 14 Tagen immer so laut „Heil Hitler“ geschrieen haben, jetzt am lautesten schimpfen. Frau Booth behauptete, niemals Nazionalsozialistin gewesen zu sein, sie wäre auch nicht in der Partei gewesen. Ich fragte, warum sie denn dann immer so laut „Heil Hitler“ gerufen hätte? Sie sagte, das hätte sie nur aus lauter Angst getan. – So ist dieses Gesindel.

     Paul berichtete heute aus der Gemeinde, wo er sich langsam unentbehrlich macht, daß von nun an des Nachts eine Militärstreife ginge, die Plünderungen u. Vergewaltigungen verhindern soll. u. damit diese Militärstreife nicht selber plündert u. vergewaltigt, hat Herr Dr. Hahn die Berechtigung erhalten, des Nachts per Rad oder zu Fuß auf der Straße zu sein u. im Notfalle umgehend den Kommandanten zu benachrichtigen, wenn solche Dinge vorkommen. Es ist also demnach festzustellen, daß bei den Russen wenigstens die Absicht besteht, für Ruhe u. Ordnung zu sorgen. Wie weit das gelingt, wird sich zeigen. Es könnte sein, daß wir mit der Zeit noch froh sein werden, Russen hier zu haben, denn aus den besetzten Westgebieten dringen Gerüchte hierher, wonach die Engländer u. Amerikaner sich in jeder Weise bemühen, das Ehrgefühl der Bevölkerung zu verletzen. Es wird dort vielleicht nicht geklaut u. vergewaltigt, aber die Reitpeitsche soll eine große Rolle spielen. Auch im Rundfunk wird von den Engländern eine große Propaganda entfaltet, um das ganze deutsche Volk zu diffamieren. Wenn die Russen klug sind, dann können sie sich jetzt in Deutschland leicht Freunde werben.

Pfingstsonntag, 20. Mai 1945.     

     Unsere Andacht war heute wieder stark besucht, auch von Protestanten. Es war sehr schön u. erhebend, zum Schluß sangen wir mit Begeisterung „Lobt froh den Herrn“. – Gleich nach Ende der Andacht hieß es, daß das „Haus am Meer“ brenne. In diesem Hause wohnen die schlimmsten Flüchtlinge aus Stettin, richtiges Hafen=Proletariat, von denen es heißt, daß sie in vielen Fällen die Russen zum Plündern aufgehetzt haben, die selbst das Kaffee Namenlos ausgeplündert u. demoliert haben u. die auch bei der Plünderung von Reichert-Saatmann vorwiegend beteiligt waren. Nun geht zum Schluß noch das Haus in Flammen auf, was ja zum Pfingstfest ganz passend ist. Die Leute haben das Feuer des Hl. Geistes nicht aufgenommen, so brennt das Haus nieder.

     Paul sagte mir gestern, daß es allgemeine Ansicht sei, daß sich lt. Wehrmachtsbefehl Nr. 1. jeder melden müsse, der noch nicht genau 60 Jahre alt sei. So ging ich denn auch hin, mich registrieren zu lassen. – Heute Nachm. müssen die Rundfunk-Geräte abgegeben werden. Paul meint, daß dieselben nur in der Gemeinde aufgehoben werden u. man sie später zurückbekäme. Wir werden also unsere Apparate auch abgeben, da ein Verbergen derselben uns selbst zu unsicher machen würde.

     Das Feuerhorn tutet draußen, es sind aber genug Leute dort, sodaß es nicht nötig ist, auch noch hinzugehen.

     Die Nacht scheint wieder ruhig gewesen zu sein, es ist zu hoffen, daß langsam eine Beruhigung eintritt.

[34]
Pfingstmontag, 21. Mai 1945.     

     11 Uhr vorm. Soeben war Dr. Ziel da u. erstattete Bericht über alles, was los ist, so weit er Kenntnis davon hat. Er hat den russ. Kommandanten, der bisher in Wustrow war, jetzt aber in Althagen in der Batterie ist, aufgesucht u. ihm die Angelegenheit der Plünderungen vorgestellt. Er hat bei diesem Offizier, einem Major, großes Verständnis gefunden u. hat erreicht, daß nun nachts eine Streife geht u. daß Dr. Hahn ihn zu benachrichtigen hat, wenn etwas passiert. Der Kommandant ist dann selbst mit Dr. Ziel hierher gekommen u. ist durchs ganze Dorf gegangen bis zum Kinderheim, wo er selbst Soldaten beim Plündern überrascht hat. Er soll sie sehr energisch zurechtgewiesen haben, die gestohlenen Sachen mußten sie wieder abliefern. Ich habe allerdings nicht gehört, daß diese Soldaten bestraft worden wären, – eine energische Zurechtweisung dürfte kaum sehr wirksam sein über den Einzelfall hinaus. Immerhin ist eine Tendenz zur Besserung da. Dr. Ziel will morgen nach Damgarten, um den dortigen Kreiskommandanten ebenfalls zu besuchen u. ihm die Dinge vorzustellen. Dr. Z. nimmt sich zu all diesen Besuchen stets den Herrn Gläser (oder so ähnlich) mit, der ein Verwandter von Frau Margot Seeberg ist u. bei ihr wohnt u. der vorzüglich russisch spricht. Der Kommandant hat diesem Herrn, sowie Frau Marie Seeberg sogar einen Höflichkeitsbesuch gemacht.

     Daß dennoch alle Bemühungen um Ordnung noch nicht vollen Erfolg haben, zeigt, daß in dieser Nacht zwei Russen in das König'sche Haus einzudringen versucht haben, um Frauen zu suchen. Wahrscheinlich waren es dieselben Burschen, die um 1 Uhr Nachts auch bei uns in's kleine Haus kommen wollten. Da ich noch am Fenster meines Schlafzimmers saß, beobachtete ich die beiden u. rief sie an. Schließlich zogen sie wieder ab. Ich war noch auf, weil ich vorher zwei Weiber dabei erwischt hatte, als sie über den Gartenzaun vorm großen Hause stiegen, um wahrscheinlich Blumen zu klauen. –

     Sonst ist der gestrige Pfingstsonntag ruhig u. schön verlaufen bei prächtigstem Wetter. Heute ist es teilweise bewölkt, doch ist das Wetter immer noch schön. Heute Nachmittag wollen wir nach Frau Longard sehen.

     Wir haben Fleisch bekommen, sodaß zu Pfingsten jeder etwas Fleisch essen konnte. Mehl ist noch nicht gekommen, auch alle anderen Nahrungsmittel fehlen. Das Lebensmittel-Auto ist aber heute wieder unterwegs, es nimmt jedesmal 15 Flüchtlinge mit. Es sollen bis jetzt etwa 250 Flüchtlinge den Ort schon verlassen haben, aber 600 Flüchtlinge oder mehr sind noch immer im Ort.

     Der Brand im Hause am Meer ist zum Glück gelöscht worden. Martha war dort u. sagt, daß es in diesem Hause furchtbar aussieht. Die dort wohnenden Flüchtlinge haben alles gestohlen, bzw. verschoben.

     Schlimm ist, daß man nun seit 3 Wochen überhaupt keine Nachrichten mehr hat u. niemand weiß, wie es denn nun weitergehen soll. Gestern wurden alle Radio-Geräte im Gemeindeamt abgegeben, von uns insgesamt 7 Apparate. Werden wir je einen davon wiedersehen? Dr. Ziel sagte eben, daß am Schwarzen Brett angeschlagen sei, daß die weißen Fahnen, mit denen die Häuser bisher beflaggt waren, einzuziehen seien u. daß ein Beflaggung künftig nur in schwarz=weiß=roten Farben erfolgen dürfe. Also sind auch rote Fahnen verboten.

[35]
Dienstag, 22 Mai 1945.     

     Gestern Nachmittag verbrachten wir einige besonders schöne Stunden bei Frau Longard. Die alte Dame war wieder sehr angeregt, wenn auch voll Sorge, die sie aber nicht hinderte, uns trefflich zu unterhalten.

     Wir waren kaum dort, als Paul nachkam u. berichtete, daß ein russ. Oberleutnant dagewesen sei, um Schreibwaren einzukaufen. Er war mit einem Dolmetscher gekommen u. war sehr höflich. Er wollte in einer halben Stunde wiederkommen. Martha ging zurück, aber der Oberleutnant kam nicht u. so kam sie wieder zu uns. Als wir dann Abends nachhause kamen, meinte Grete, die ja immer voll furchtsamen Mißtrauens ist gegen alles, was russisch ist, daß das Begehren des Oberleutnants nach Schreibwaren wohl nur eine Finte gewesen sei, er habe sicher irgend welche anderen bösartigen Absichten gehabt. Ich verwies ihr dieses Mißtrauen, das nur geeignet ist, Gefahren heraufzubeschwören, die sonst garnicht vorliegen.

     In unserer Abwesenheit war Herr Rechtsanwalt Hoffmann dagewesen, uns einen Besuch zu machen. Er ist der Verbindungsmann zwischen den russischen Militär= u. den deutschen Gemeinde-Behörden in Wustrow, Althagen u. Ahrenshoop u. macht sich als solcher sehr nützlich. Er hat die Nachricht mitgebracht, daß eine Art deutscher Regierung gebildet worden wäre mit Rudolf Hess an der Spitze, ferner mit dem bisherigen Finanzminister Graf Schwerin=Krosigk u. Generalfeldmarschall Paulus. Ich wollte es nicht glauben. Wenn es so wäre, dann wäre ja tatsächlich einmal etwas buchstäblich in Erfüllung gegangen, was Hitler im Jahre 1939 vorausgesagt hat, indem er verkündete: „Wenn mir in diesem Kriege etwas zustoßen sollte, ernenne ich Rudolf Hess zu meinem Nachfolger“. Nun, es ist ihm etwas zugestoßen u. Hess ist sein Nachfolger – wenn es stimmt!

     Heute morgen –, wir waren eben mit dem Frühstück fertig –, kam Paul herauf u. sagte, der Oberleutnant sei wieder da. Ich ging gleich mit Martha runter u. trafen vor dem kleinen Hause einen etwa 35jähr. Mann, überaus primitiv, aber freundlich u. herzlich. Er hatte sich wieder Herrn Rüdiger mitgebracht als Dolmetscher, der bei Gräff wohnt u. aus Bialystock ist, wo er angeblich eine Tuchfabrik u. Landbesitz gehabt hat. Er war bei der deutschen Wehrmacht dienstverpflichtet gewesen u. ist mit ihr zurückgegangen. Seine Frau u. die Kinder sind in Dessau oder jedenfalls in jener Gegend. Das letzte, was er von ihnen gehört hat, war ein Telegramm nach einem Luftangriff, er solle sofort kommen, Personenschaden. Seitdem weiß er nichts mehr. – Das sind so Schicksale, wie sie tausendfach sind.

     Nun, wir gingen also in die Bunte Stube u. Herr Rüdiger verdolmetschte, daß der Oberleutnant wüßte, daß ich Maler wäre u. ob ich ein Porträt von Stalin machen könne. Ich bejahte es. Er kaufte dann allerhand Kleinigkeiten ein u. bezahlte mit Markscheinen der alliierten Militärbehörde, die ich zum ersten Male sah. Dann bat er mich, mit zum Kommandanten in der Batterie zu kommen.

     In der Batterie sah es sehr sauber u. ordentlich aus. Ich mußte mit Herrn Rüdiger draußen warten, dann kam der Oberleutnant bald zurück u. rief uns. Wir gingen in eine Baracke in ein einfaches, völlig schmuckloses Dienstzimmer, in dem wir den Kommandanten, einen Major, fanden. Der Mann war höflich, jedoch ohne jedes Lächeln. Es gibt [36] bei den Russen offenbar keinerlei Ehrenbezeugungen Untergebener vor den Vorgesetzten, der Verkehr ist vollkommen zwanglos in einer Weise, wie es für uns Westländer kaum vorstellbar ist. Alle unsere durch Jahrhunderte lange Kultur des gesellschaftlichen Verkehrs geschaffenen u. entstandenen Umgangsformen existieren einfach nicht. Damit fällt aller gesellschaftl. Zwang, alle Konvention u. alle Höflichkeitsform einfach weg, es ist eine erstaunliche Freiheit zwischen diesen Menschen.

     Der Major wünschte also, wie sich nun herausstellte, Bilder von Stalin, Lenin u. a. großen Persönlichkeiten des Bolschewismus. Es dauerte etwas, bis ich begriff, daß er einfache Plakate haben wollte u. keine künstlerischen Portaits. Ich sagte ihm, daß ich ihm die Bilder machen wollte, wenn er mir die Leinewand dazu lieferte. Er fragte nach dem Preis. Ich sagte, ich wollte kein Geld, sondern Lebensmittel. Er schien Bedenken zu haben u. fragte, wie groß meine Familie sei. Wie er hörte, daß diese nur aus meiner Frau u. mir bestünde, wurde er zugänglicher. Er versicherte mir, daß in wenigen Tagen die Lebensmittel-Zufuhr funktionieren würde u. daß ich dann mit dem Alliierten Gelde alles kaufen könne; aber dennoch würde er mich mit Lebensmitteln versorgen. So wurden wir denn handelseinig. Er versprach mir, bis heute Nachmittag 4 Uhr weiße Leinewand zu schicken. Ich stand dann auf u. reichte ihm die Hand, die er mir in dieser zwanglosen Art gab, ohne Lächeln u. ohne Verbindlichkeit, aber offensichtlich auch ohne irgend einen Hintergedanken.

     Ich ging dann mit Herrn Rüdiger u. dem freundlichen Oberleutant wieder zurück, der sich bei Oehmke von uns trennte. Er erzählte uns, daß bei Oehmke ein Offiziers= u. Soldatenheim eingerichtet würde. Ich fragte ihn, ob das Gerücht mit der deutschen Regierung stimmte u. er bestätigte es. – Das wäre dann immerhin ein wesentlicher Schritt vorwärts.

     Als ich in Althagen war, wurde grade ausgeklingelt, daß künftig die weiße Beflaggung von Häusern ebenso verboten sei, wie die rote. Zur Beflaggung dürfe nur Schwarz-weiß-rot verwendet werden. Ich sah dann, daß derselbe Befehl auch bei uns am Schwarzen Brett hing. Das ist zweifellos eine kluge Maßnahme.

Mittwoch, 23. Mai 1945.     

     Gestern Abend kam der Oberleutnant mit Herrn Rüdiger wieder. Er brachte weisse Leinewand, dazu eine Zeitschrift mit dem Bilde Stalins u. einen kleinen Kalender mit Lenins Bild. Er hatte einen kleinen Koffer bei sich, dem er ein Stück Brot u. Tabak entnahm gewissermaßen als Anzahlung. Es ergab sich, daß ich je zweimal Stalin u. Lenin malen sollte, 80x100 cm. groß, u. zwar nur schwarz = weiß.

     Später kam Ilse Schuster mit der Nachricht, daß Deutschmann verhaftet worden sei u. bei Bendix in Althagen interniert sei. Wir ratschlagten, ob da etwas zu machen sei. Ich hielt es für zwecklos, da die Russen nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, sich in ihre Sachen nicht reinreden lassen. Martha ging aber dennoch zu Dr. Ziel, der dann aber derselben Ansicht war, wie ich. Es wird ja Deutschmann auch nichts weiter passieren, als daß er irgendwo in ein Konzentrationslager kommt zur Arbeit, wie sie es anscheinend mit allen Nazis machen, die irgend eine Funktion ausgeführt haben. [37] Gestern wurde schon erzählt, daß in Ahrenshoop erholungsbedürftige Russen untergebracht werden sollten. Heute Morgen schickte Paul aus der Gemeinde Herrn Degener, ich möchte doch gleich mal ins Amt kommen. Es waren dort zwei Russen, der eine jünger u. intelligent aussehend, der andere offenbar dessen Vorgesetzter mit dem Aussehen eines Feldwebels. Der Intelligente konnte einigermaßen deutsch. Er sagte mir, daß in Ahrenshoop ein Erholungsort eingerichtet werden sollte für etwa zwei Monate u. es solle alles schön neu angestrichen werden. Ich machte ihm klar, daß ich dazu nicht zuständig wäre, ich wäre Kunstmaler. Darauf fragte er, ob ich Portaits machen könnte nach Vorlagen aus Journalen. Ich sagte ihm, daß ich das bereits täte für den Kommandanten u. daß ich Stalin u. Lenin malte. Ich würde damit noch 4 – 5 Tage zu tun haben. Er meinte, daß er dann kommen würde, sich die Bilder anzusehen u. daß ich dann für niemand anders mehr malen dürfte, als nur für ihn. Ich war damit einverstanden u. verabschiedete mich wieder.

     Inzwischen kam mein Oberleutnant nochmals u. brachte mir ein besseres Bild von Stalin. Dazu legte er abermals ein Paket Tabak.

     4 Uhr nachm. Das erste Stalin-Bild ist fertig. Ich glaube, daß es gut geworden ist u. den Leuten gefallen wird. Ich habe es in Schwarz u. Weiß skizzenhaft hingehauen, allerdings sieht Stalin auf meinem Bilde sehr viel aristokratischer aus, als auf der Vorlage.

     Eben war Partikel da mit einer Liste zwecks Registrierung aller Einwohner. Ich sprach von dem Auftrag, Stalin u. Lenin zu portraitieren. P. sagte, daß dieser selbe Oberleutnant auch bei ihm gewesen wäre, aber er meint, der Mann sei ein Schwindler. Das ist großer Unsinn, P. versteht einfach nicht die naive Mentalität dieser Leute u. denkt, daß sie schwindeln.

     Im Ort sind mehrere Pensionshäuser beschlagnahmt worden zur Unterbringung erholungsbedürftiger Soldaten. Es ist auch die Rede davon gewesen, daß die Bunte Stube als Kantine beschlagnahmt werden solle. Wir hätten dagegen nichts einzuwenden.

Donnerstag, 24. Mai 1945.     

     Gestern am Spätnachmittag kam der Rechtsanw. Hoffmann, der Verbindungsmann zwischen den Gemeinden u. der russ. Behörde, mit seiner Frau. Wir saßen im Seezimmer. Ich ahnte nichts Böses u. glaubte, daß er uns nur einen Besuch machen wolle. Er erklärte mir aber, daß er gekommen sei, mich im Auftrage des russ. Kommandanten zu fragen, ob ich bereit sei, die Geschäfte des Bürgermeisters von Ahrenshoop zu übernehmen. – Ich war entsetzt u. lehnte es mit Entschiedenheit ab. – Herr Hoffmann fragte, wen ich sodann vorschlagen könne. Ich nannte Paul. Hoffmann sagte, daß Küntzel ja eigentlich nicht in Ahrenshoop wohne u. außerdem mit den Verhältnissen nicht gut vertraut wäre. Er käme deshalb nicht in Frage. Einen anderen konnte ich dann freilich nicht nennen. Herr Hoffmann fing dann an, mich zu überreden. Er sagte, daß das ganze Dorf hinter mir stände u. alle von mir erwarteten, daß ich die Führung übernehme u. daß Gräff eben in der jetzigen Zeit unmöglich sei. Außerdem würde mir ja genügend Hilfe zur Verfügung [38] stehen wie Paul Küntzel u. Dr. Hahn. Diese würden die Arbeit machen, sodaß ich nur eben die Leitung hätte. Ferner bestünde doch immer die Gefahr, daß unser Wohnhaus beschlagnahmt würde, während man das Haus des Bürgermeisters respektieren würde. Er redete sehr eindringlich, aber ich konnte mich nicht entschließen. Schließlich sagte er, ich möge mir doch die Sache überlegen u. ihm bis heute früh 9 Uhr Bescheid geben lassen.

     Abends kamen dann Dr. Ziel mit Frau, Dr. Hahn u. Frau Schuster zum Vortrag, den ich aber ausfallen ließ. Ich bat Paul, heraufzukommen u. wir beratschlagten zusammen. Das Ergebnis der Besprechung war, daß sich Paul u. Dr. Hahn als Mitarbeiter zur Verfügung stellten u. Ilse Schuster als Sekretärin. Unter diesen Umständen willigte ich ein. Ich setzte eine schriftliche Erklärung auf, schrieb einen kurzen Lebenslauf u. übergab beides Paul zur Weiterbeförderung.

     Der Himmel weiß, wie sich diese Nachricht dann gleich im Dorfe verbreitet hat. Wahrscheinlich hat Herr Hoffmann gestern schon nicht dicht gehalten. Heute morgen scheint das ganze Dorf es schon zu wissen. Agnes Borchers kam schon beim Frühstück, um ihre Freude auszudrücken, nachher kam auch Carl Papenhagen. Man sagt mir, daß das ganze Dorf erleichtert aufatmet, daß wieder eine Führung da ist. Ich selbst bin freilich nicht sehr beglückt. –

     Herr Hoffmann berichtete gestern Abend, daß in Damgarten ein Hitlerjunge einen russischen Leutnant erschossen habe. Es sei deshalb eine verschärfte Spannung entstanden. Die Russen haben alle Hitlerjungens in Damgarten festgesetzt u. es wäre recht gut, wenn sie allen zusammen ordentlich das Hinterleder versohlten.

     Gestern Abend nach 10 Uhr traf eine Kolonne von 10 Lastautos vom Roten Kreuz ein, die wohl Material für das geplante Erholungsheim heranbrachten. Es ist das ganze Kurhaus beschlagnahmt worden. Nachdem die Russen es ausgeräumt haben, richten sie es nun wieder ein. Ferner haben sie das Haus von Bachmann, von Wolff, von Körthe, das Haus am Meer u. die Gute Laune beschlagnahmt, alle Bewohner mußten sofort raus. – Alle Ostflüchtlinge sollen bis Sonnabend den Ort verlassen haben. Heute Morgen ist der große Last-Pferdewagen von Brandt mit Flüchtlingen abgefahren; aber wie man alle bis Sonnabend fortbringen, soll, ist fraglich.

     Ich zeigte gestern Abend das Bild von Stalin, das alle sehr bewunderten. Heute morgen kam der Oberleutnant u. brachte noch einen anderen mit, aber beiden gefiel das Bild garnicht. Ich hatte selbst in der Tat Bedenken gehabt, denn mein Bild ist eben so geworden, wie ich eben male, d.h. streng. Die Herren fanden, daß Stalin nicht freundlich genug aussehe. Ich bedauerte, nicht anders malen zu können u. sie hatten dafür auch Verständnis. Sie beschlossen, das Bild zum Kommandanten mitzunehmen u. es ihm zu zeigen, er sollte dann entscheiden. Ich wäre froh, wenn sie mir lieber keine weiteren Aufträge geben würden. Es ist das eben die echt russische Mentalität, die zum Führer einen freundlichen, weichen Menschen haben will, „Väterchen Stalin“, nicht einen preußischen General. Mein Stalin sieht eben preußisch aus.

     Herr Hoffmann sagte gestern Abend, daß die [39] Nachricht einer deutschen Regierungsbildung mit Rudolf Hess, Schwerin-Krosigk u. Paulus nicht zuträfe. Dagegen soll es jetzt eine deutsche Zeitung geben „Freies Deutschland“. Ferner sagte er, daß von den Russen jede Bildung von politischen Parteien verboten worden sei. Es hat sich seit einiger Zeit, gleich nach dem Russeneinmarsch, in Ribnitz eine kommunistische Partei gebildet u. ein Parteibüro aufgetan, aber die Russen sollen es wieder verboten haben.

     Herr Hoffmann sagte uns übrigens gestern Abend auch, daß der Lehrer Deutschmann gestern Nachmittag bereits aus der Haft wieder entlassen sei. Wir freuten uns alle sehr darüber.

Freitag, 25. Mai 1945.     

     Keine besonderen Ereignisse. Dr. Ziel kam gestern Abend u. besprach die Angelegenheiten des Prof. Reinmöller u. des Bauunternehmers Wilh. Helms, die beide auf der schwarzen Liste der Russen stehen. Reinmöller hat noch in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch Reden gehalten, daß der „Wehrwolf“ das einzige wäre, was uns noch retten könne. Ich bin aber der Ansicht, daß das nur dieses verantwortungslose u. dumme Geschwätz ist, was dieser Mann an sich hat u. solchen Worten keine praktische Bedeutung zukommen. Er ist z. Zt. nun einmal die einzige ärztliche Hilfe, die wir im Orte haben. Ich sagte zu Ziel, daß ich zwar nichts unternehmen würde, um Herrn Reinmöller zu schützen, daß ich aber auch nichts gegen ihn unternehmen würde. Ich würde das ganz den Russen überlassen. Im Falle Helms würde ich ebensowenig tun. Den ehemaligen Zollbeamten Nülken, der ja ebenfalls vor dem Zusammenbruch solch alberne Reden über den „Werwolf“ gehalten hat u. der nun anscheinend sehr bescheiden geworden ist, würde ich mir vornehmen u. ihn verwarnen.

     Dr. Ziel hat für die Gemeinde Einwohnerlisten fertig gestellt mit allen Menschen, die sich z. Zt. noch in Ahrenshoop aufhalten. Er hat diese Listen zwar noch nicht addiert, schätzt aber daß sich 1000 – 1100 Personen im Orte aufhalten. Morgen soll es neue Lebensmittelkarten geben, aber nur für höchstens 800 Personen. Nach Anordnung der russ. Behörde sollen ja bis morgen alle Ostflüchtlinge das Dorf verlassen haben; aber das ist bei weitem noch nicht geschehen. Ich fragte Paul, der glaubt, daß Ziel die Personenzahl überschätzt hat. Morgen früh soll von Wustrow ein für Ahrenshooper Flüchtlinge reservierter Dampfer nach Ribnitz fahren. Jedenfalls wird sich diese Sache nicht ohne große Schwierigkeiten lösen lassen.

     Das Dekret, welches mich zum Bürgermeister ernennen soll, war bis gestern noch nicht da. Hoffentlich verzögert es sich noch weiterhin, damit ich mich mit dieser Flüchtlingssache nicht mehr zu befassen brauche.

     Meinen Oberleutnant habe ich gestern auf Partikel gehetzt. Heute früh sah ich ihn schon mit ihm auf der Straße. Vielleicht wird er ihm einen freundlicheren Stalin malen können.

     Es ist sehr kalt geworden. Nordwind.

Sonnabend, 26. Mai 1945.     

     Rechtsanw. Hoffmann ließ mir gestern durch Paul bestellen, daß morgen, Sonntag, 12 Uhr Mittags, meine Einführung in das Bürgermeister-Amt erfolgen würde. Ich werden Gräff, die Schöffen u. die Gemeindevertreter dazu einladen.

[40]      Dr. Meyer kam gestern per Rad aus Wustrow mit einer Rote-Kreuz-Armbinde Er gratulierte mir u. teilte mir mit, daß er seine Praxis jetzt wieder voll aufnehmen wolle.

     Im Gemeindeamt wurde gestern mit Hochdruck gearbeitet, da heute früh der Dampfer von Wustrow abfahren sollte. Es mußten 225 Flüchtlinge dafür bereitgestellt werden. Heute früh wurde das Gepäck dieser Leute zu Wagen nach Wustrow gebracht. Paul hat alles sehr gut organisiert, sodaß der Abtransport heute früh reibungslos vor sich ging. Damit ist nun schon eine erhebliche Erleichterung eingetreten.

     Auch sonst bessern sich die Verhältnisse. Eine typische Sache erzählt mir eben Frau Daubenspeck. Sie hat im Auftrage der Russen das Sudeck'sche Haus, das ebenfalls für das russ. Erholungsheim beschlagnahmt worden ist, ebenso wie Haus Elisabeth, sauber machen müssen.

     Am folgenden Morgen, also gestern, kam sie wieder hin u. stellte fest, daß in der Nacht das Haus ausgeplündert worden war u. zwar in einer unvorstellbaren Weise. Was nicht gestohlen worden ist, ist zerschlagen worden. Sie ist dann gleich zu dem Kapitän gelaufen, der diese Vorbereitungen zur Einrichtung leitet u. hat ihm die Verwüstung gezeigt. Der gute Mann war entsetzt über diesen Anblick. Als Frau Daubenspeck gestern abend noch einmal aus irgend einem Grunde dorthin ging, fand sie diesen Kapitän mit zwei russischen Soldaten am Boden hocken u. damit beschäftigt, alles in Koffer zu stopfen, was noch irgendwie brauchbar war. –

     Dr. Meyer erzählte mir, daß die Russen in Ribnitz das ganze Fernsprechamt abmontieren u. daß waggonweise Telephonapparate, Radio-Geräte u. Nähmaschinen abtransportiert werden. Auf dem Gut Kükenshagen soll es von etwa 150 Haupt Rindvieh noch acht geben. Ebenso ist es mit Pferden.

     Küntzels verhandeln mit Dr. Helms, der ihnen in seinem Hause Wohnung angeboten hat. Sie wollen das Angebot gern annehmen u. wir selbst sind ganz froh, wenn sie bei uns nun wieder ausziehen. Ich kann dann wieder in meine Zimmer.

     Heute ist Gretes Geburtstag.

     Wie ich höre, soll Partikel mehr Glück gehabt haben mit seinem Stalinbilde, als ich. – In unserer Dachkammer wohnt seit drei Tagen Frau Schwertfeger, die Schwester von Frau Sperling, welche im Hause Elisabeth wohnten u. dort räumen mußten.

     Heute morgen sah ich zum ersten Male wieder zwei Frachtdampfer in Richtung Kiel vorbeifahren. – Von Berlin u. Rostock hört man verhältnismäßig günstige Nachrichten, sodaß in der nächsten Zeit auch die Flüchtlinge von dort dahin zurückkehren werden. Es soll schon einen notdürftigen Zugverkehr geben.

     6 Uhr nachm.

     Rechtsanw. Dr. Hoffmann war eben hier u. brachte mir das Dekret, lt. dem ich zum Bürgermeister der Gemeinde Ahrenshoop ernannt bin. Meine Einführung erfolgt morgen 12 Uhr im Gemeindeamt. Herr Hoffmann selbst ist zum Bezirks-Bürgermeister für Ahrenshoop, Alt= u. Niehagen u. Wustrow ernannt, Ahrenshoop ist politisch zu Mecklenburg gekommen. In dem Dekret wird ausdrücklich gesagt, daß eine Inanspruchnahme meiner Dienst= u. Wohnräume nicht erfolgen wird. Das Dekret ist in russischer + deutscher Sprache verfaßt, die deutsche Uebersetzung ist von einem Vertreter des Landratsamtes Rostock unterschrieben.

[41]      Als stellvertretenden Bürgermeister habe ich Hans Krull genannt, als Schöffen den Fischer Meyer u. Bernh. Saatmann, als Gemeindesekretär Paul Küntzel. Hoffentlich nehmen alle diese ihre Aemter an. Ich habe sie vorher nicht gefragt u. es wird Pauls Aufgabe sein, den Leuten ihre Ernennung mitzuteilen u. ihr Einverständnis einzuholen.

     Herr Hoffmann zieht offenbar seine neue Stellung sehr groß auf. Er entwickelt eine große Tätigkeit, spricht von Gemeindeautos, die er bereits organisiert haben will u. von der zwangsweisen Verpachtung des Paetow'schen Hofes an Herrn Brandt, sowie von der Neubeschaffung von Wagen für Spangenberg. Es kann sein, daß diese Entwicklung recht segensreich wird.

Montag, 28. Mai 1945.     

     Gestern eine sehr reich besuchte Andacht. – Mittags um 12 Uhr fand die Uebergabe der Gemeindegeschäfte im Gemeindehause statt. Der linke Raum der Badeverwaltung war sehr hübsch mit Flieder geschmückt. Zugegen waren außer dem Bezirks-Bürgermeister Dr. Hoffmann, der die ganze Handlung leitete, u. mir selbst der neue Gemeindevorstand: Kapitän Krull als stellvertr. Bürgermeister u. die beiden Schöffen Meyer u. Saatmann. Ferner der alte Vorstand: Gräff, Bauer Paetow u. Voß, welcher allerdings zu spät kam, u. der alte Kapitän Niemann, der früher immer geholfen hatte. Auch Heinr. Bradhering war mit verkniffenem Gesicht gegenwärtig u. sonst noch viele Gäste, auch viele Damen. Martha war ebenfalls mit da.

     Dr. H. hielt eine ausgezeichnete Rede, in der er den Geist der neuen Zeit stark betonte u. besonders feststellte, daß die Nazis Deutschland so in Grund u. Boden verwirtschaftet hätten, daß jetzt buchstäblich nichts mehr vorhanden ist außer dem festen Aufbauwillen derer, die nun das Wort hätten. Er gab einige hoffnungsvolle Ausblicke u. führte dann den neuen Gemeindevorstand ein. Er gab auch bekannt, daß Ahrenshoop von nun an auch politisch nach Mecklenburg gehöre, nachdem wir von je her wirtschaftlich dorthin orientiert gewesen sind.

     Zuletzt hielt auch ich eine kurze Rede, die, wie ich später feststellen konnte, allgemein mit Beifall aufgenommen wurd, besonders der Schluß, in dem ich mich zum entschiedenen Christentum bekannte u. Gott bat, mir Verstand, Fähigkeit u. Gnade für das neue Amt geben.

     Nachmittags kamen dann allerhand Leute. Russen wollten einen Requisitionsschein für Hafer haben, andere wollten Radio-Geräte aus der Gemeinde abholen. Dann kam das Ehepaar Soehlke mit Frau Kuhnke zum Tee u. nebenbei noch viele andere.

     Herrn Dr. Hahn habe ich zum Kassenführer gemacht. Er war bereits sehr gekränkt gewesen, daß er nicht Gemeinde=Sekretär geworden war, denn diesen Posten scheint Dr. H. ihm schon früher versprochen zu haben, ohne daß ich etwas davon wußte. Ich hatte auch nicht gedacht, daß er Wert auf einen solchen Posten legen würde.

     Heute ist nun der erste Amtstag, der mit der Ausgabe von neuen Lebensmittelkarten ausgefüllt ist. Gleichzeitig wird ein Gemeinde-Register angelegt u. für jede Person werden Personalausweise ausgegeben. Es ist eine sehr umfangreiche Arbeit, für die sich eine große Masse Menschen zur Verfügung gestellt haben. Paul hat den Arbeitsgang ganz vorzüglich organisiert, sodaß die Sache ohne Reibungen u. Zwischenfälle abläuft. Ich habe dabei nichts weiter zu tun, als egalweg meinen Namen zu schreiben.

[42]
Mittwoch, 30. Mai 1945     

     Der Arbeitstag war vorgestern sehr anstrengend, wir arbeiteten bis 8 Uhr abends. Gestern war vormittags noch einmal großer Andrang, doch ebbte es am Nachmittag rasch ab, sodaß wir um 6 Uhr Schluß machen konnten. Bis dahin waren etwa 750 Menschen registriert u. mit Lebensmittelkarten versehen. Schrecklich ist dabei nur, daß alle diese Menschen pro Woche nur 500 gr. Brot bekommen u. sehr wenig Fleisch u. Fett, von anderen Lebensmitteln ist überhaupt nicht die Rede. Vor allem ist es erschütternd, die vielen Kranken u. Schwachen zu sehen, die größtenteils schon seit langem durch die Kriegsereignisse schwer erkrankt sind, u. die alten Leute die alle nicht mehr satt werden können u. dringend einer zusätzlichen Ernährung bedürfen. Dabei haben wir jetzt acht Fischer im Dorfe, doch nehmen die Russen stets die ganzen Fänge weg u. es bleibt nichts für uns übrig.

     Widerlich ist auch das Drängeln nach der Futterkrippe. Der Lehrer Deutschmann ist zwar aus der Haft entlassen u. wieder zuhause; aber gestern kam Herr Zelk, ein Schulrektor aus Hamburg, der dort sozialdemokrat. Bürgerschafts-Mitglied gewesen u. seit 1933 entlassen worden war u. der schon seit einigen Jahren bei uns Zuflucht vor dem Bombenkrieg gesucht + gefunden hatte, zu mir ins Amt u. eröffnete mir, daß er zum Schulrat für das Fischland ernannt worden sei, – natürlich durch die Gnade des Herrn Dr. Hoffmann. Einen solchen Posten hat es früher nie gegeben. Er sagte mir, daß Herrn Deutschmann die Lehrerlaubnis entzogen worden sei u. daß an seine Stelle zwei Lehrerinnen treten würden. Von der einen habe ich bisher überhaupt noch nicht ermitteln können, woher sie kommt u. welche Berechtigung sie zum Lehren hat, die andere entpuppte sich bei näherem Zusehen als die Frau des ehem. Kapitänleutnants Wegener, der immer Nazi war u. durch seinen albernen Schießbefehl beim Anmarsch der Russen fast die Existenz des ganzen Fischlandes aufs Spiel gesetzt hätte. Nachdem die Russen einmarschiert waren, hat dieser Mann sich mit seiner Frau, mit dem Oberlt. Meyer u. dessen Frau u. mit der Frau des Nazi=Rechtsanwalts Denzin im Hause der Frau Smith verborgen gehalten. Diese alle sind dann getürmt, nur Wegener u. seine Frau blieben zurück. W. wurde von den Russen verhaftet u. auf Fürsprache von Dr. Hoffmann wieder entlassen u. für die Elektrizitäts-Versorgung des Fischlandes bereitgestellt.

     Dieses Amt hat früher für alle Dörfer der Elektromeister Maaß in Wustrow mit einem Lehrjungen versehen. Jetzt sind für Ahrenshoop allein Herr Liebers u. Herr Stramm, beides Fachleute u. ehem. Soldaten, eingesetzt. Gestern Abend berichtete mir Herr Liebers, daß auf Hoffmanns Anordnung nun auch noch der ehem. Obermaat. Knoop u. der ehem. Stabsfeldw. Voigt dafür angestellt sind. Das sind mit Herrn Wegener 5 Personen, – u. dabei gibt es keinen Strom. Wegener, Knoop u. Voigt sind ehem. Nazis.

     Gestern brannte die Scheune des Bauern Ahrens in Althagen ab mit dem letzten Getreide, welches der Gemeinde Wustrow gehörte. Man sagt, es sei Brandstiftung von Polen.

     Heute morgen fuhr wieder unser Flüchtlings-Auto mit 25 Personen ab. Kurz ehe es abfuhr, kam Herr Gläser mit der Bestellung von Dr. Hoffmann, es müßten noch 17 Plätze für Wustrow reserviert werden. Das war technisch nicht mehr möglich u. ich ließ den voll besetzten Wagen abfahren. Um 10 Uhr wurde mir bestellt, der Wagen stände immer noch am Dorfausgang am Schlagbaum, die Russen ließen ihn nicht durch. Ich ging gleich hin u. erwirkte durch einen russ. Offizier, der grade vorbei kam, daß der Schlagbaum hochgezogen würde. Ich fuhr dann gleich mit bis zu Dr. H., um Beschwerde anzubringen. Dort fand ich auch Herrn Gläser. Herr Dr. H. mußte bald fort, er wird von nun an in Wustrow residieren, sodaß ich meine vielen anderen Beschwerdepunkte nicht anbringen konnte. Dr. H. versprach, heute oder morgen nach Ahr. zu kommen. [43] Draußen traf ich dann Herrn Schulrat Zelk, dem ich ausführlich über die Schulangelegenheit meine Meinung sagte. Er zeigte sich sehr einsichtig.

     Nachmittags Konferenz mit Ortsbauernführer Paetow betr. Milch- u. Butter-Versorgung, die ein viel besseres Bild gab, als ich erwartet hatte. Wir werden morgen die Sache so organisieren, daß alle Kleinstkinder ihren 1/2 Ltr. Milch täglich bekommen u. alle Kinder vom 3. – 6. Lebensjahr wenigstens 1/4 Ltr. Milch. auch Butter wird es wenigstens etwas geben u. ich hoffe, auch Eier zu bekommen für Kranke u. alte Leute.

Donnerstag, 31. Mai 1945.     

     Gestern abend Vortrag, wurden aber gestört. Es waren da: Herr + Frau Ziel, Dr. Hahn, Ilse Schuster + Frau Korsch. Grade als ich das Gleichn. v. barmh. Samaritern beendet hatte, kam Frau Spangenberg heraufgestürzt: „die Russen holen unsere Pferde!“ Ich ging sofort eiligst rüber, aber es war schon zu spät, sie hatten die Pferde schon bis hinter die Mühle abgetrieben. Ich schickte Frau Sp. sofort zu dem sog. Kommandanten, der hier im Hause Erichson wohnt u. von dem mir Frau Marie Seeberg erzählt hat, daß er ein ordentlicher Mann sei u. Sp. selbst schickte ich zur Batterie zum dortigen Kommandanten; aber alles war ergebnislos. Frau Kahlig, die aus Althagen kam, behauptete, daß alle Russen plötzlich abrückten. Ich glaubte es nicht. Möglicherweise mag ein Teil abrücken, aber dafür werden neue kommen, die vielleicht noch schlimmer sind. –

     Nachher saßen Paul, Martha u. ich im Seezimmer. Plötzlich hörten wir unten auf der Terrasse Soldatenschritte u. Grete u. Eva riefen uns. Unten standen vier Soldaten, ein Unteroffizier u. drei Mann. Der Unteroffizier mit roter Armbinde, wie sie die Sicherheitsstreifen tragen sollen u. ein Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr, was das Zeichen offiziellen Dienstes ist. Dieser letztere war ein Pole, der gut deutsch sprach. Er sagte mir, daß sie zwei Wagen u. vier Pferde brauchten, die Wagen + Pferde würden heute wieder zurückgegeben werden. Ich lachte u. sagte, daß kein Mensch das glauben würde, außerdem gäbe es in ganzen Dorf keine vier Pferde mehr, nachdem grade eben dem Spangenberg seine zwei Pferde abgeholt worden seien. Wagen haben wir überhaupt keine mehr. – Der Unteroffizier, ein dummdreister Lümmel, deutete nach der Wohnung von Herrn Brandt. Ich ging mit allen nach vorne u. führte sie über die Straße zu Brandt, der schon Unheil witterte u. draußen stand. Brandt zeigte seinen kleinen Wagen, der nur für ein Pferd bespannbar ist. Sie wollten eine Deichsel haben, um zwei Pferde spannen zu können, aber eine solche war nicht da und fand sich auch nicht. Es gab ein langes Hin= u. Her. Schließlich wollten sie die Pferde sehen, die bei Hagedorn untergestellt sind. Wir gingen rüber. Die Pferde sind schwerer, holsteinscher Schlag, ein Hengst u. eine Stute. Wir brachten sie vor das Haus von Brandt, wo die Russen das fehlende Geschirr vermuteten, was denn auch zutraf. Die Banditen spannten dann die Stute vor den kleinen Wagen u. fuhren los. Den Hengst führten wir dann durch das Schornsche Grundstück über unser u. Papenhagens Grundstück wieder zurück. Bei Papenh. warfen wir das Geschirr ins Gebüsch. Es war nämlich inzwischen bereits dunkel geworden.

     So räubern uns die Russen mehr u. mehr aus, es ist [44] wahrhaftig zum verzweifeln u. man weiß nicht, wie man die Bevölkerung durch den Winter bringen soll. Wir werden alle Kühe abschlachten müssen, weil kein Futter da ist. –

     Heute wollen wir, Paul u. ich, die Milchversorgung für die Kleinstkinder regeln u. zusehen, ob die Butterversorgung in Gang gebracht werden kann. Wir haben seit Wochen keine Butter mehr gesehen. Wir müssen uns völlig auf Selbstversorgung einstellen,1 Fehler korr. denn Hilfe von auswärts haben wir nicht zu erwarten.

     Der Pastor Loeber gibt sich große Mühe, die Frau des Kapitänlt. Wegener in unserer Schule unterzubringen. Ich sprach gestern mit Dr. Ziel darüber, bei dem auch Pastor Loeber in dieser Sache gewesen ist. Er hat sich bei ihm beschwert, daß alles schon so gut gegangen wäre, daß aber plötzlich von irgendwo her quer getrieben worden wäre. – Herr Dr. Ziel solle den Schulrat Zelk für Frau Dr. Wegener interessieren. Ziel hat das aber sehr kühl abgelehnt. Ich sehe daraus, daß meine Vorstellungen bei Herrn Zelk nicht ohne Wirkung geblieben sind. Ich hoffe, Deutschmann doch noch halten zu können.

  1. später stellte sich heraus, daß die Russen von Rostock her in Ribnitz einmarschiert sind.