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TBHB 1946-12-28

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Textdaten
Autor: Hans Brass
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Titel: TBHB 1946-12-28
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Entstehungsdatum: 1946
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Originaltitel: Sonnabend, 28. Dezember 1946.
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ungekürzte Tagebuchaufzeichnungen vom 28. Dezember 1946
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Einführung

[Bearbeiten]

Der Artikel TBHB 1946-12-28 zeigt die ungekürzten Tagebuchaufzeichnungen von Hans Brass vom 28. Dezember 1946. Diese Aufzeichnungen erstrecken sich über neun Seiten.

Tagebuchauszüge

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[1]
Sonnabend, 28. Dezember 1946.     

[1]      Gestern nachmittag in der Dunkelheit, war Dr. Burgartz da, er brachte für Fritz Post für den Kulturbund. Fritz war aber in Ribnitz. Dr. B. blieb bis 6 Uhr bei uns, wir luden ihn u. seine Frau zu Sylvester ein.

     Fritz mußte nach Ribnitz, weil der dortige Polizeichef brieflich behauptet hatte, wir hätten aus Anlaß des letzten Einbruches Bezugsscheinwaren als gestohlen angegeben, die er in Wirklichkeit uns zurückgebracht hätte. Er drohte, uns wegen Betruges der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. Es ist natürlich nicht wahr u. es handelt sich entweder um einen Racheakt, weil wir der Mutter seiner Freundin, Frau Waag, den von ihr verlangten Wollstoff nicht gegeben haben, oder er will uns sonst wie erpressen. Fritz hatte mit ihm telephoniert u. verabredet, zwischen 2 u. 1/2 3 Uhr in Ribnitz zu sein, um die Sache aufzuklären. Fritz war gestern deshalb mit dem Rade hingefahren traf ihn aber trotz der Verabredung, nicht an, seine Frau behauptete, er sei dienstlich fortgefahren. Infolgedessen fuhr Fritz heute früh nochmals nach Ribnitz. Diese ganze Sache sieht sehr faul aus, es ist offensichtlich, daß der Kerl irgendetwas im Schilde führt.

     Gestern an Ruth u. Erich geschrieben, vorgestern an Faensens. Gestern Abend Brief von Schw. Gertrud Dobczynski, die wieder in Barth ist. Sie schickt mir die Tagebuch-Aufzeichnungen der letzten Tage ihres Bruders. Sie sind mit der Maschine auf Durchschlagpapier doppelseitig geschrieben u. stellenweise nicht zu entziffern, doch will ich versuchen, sie hier abzuschreiben:

     Tagebuch-Aufzeichnungen der Schw. Gertrud

     Dobczynski über die letzten Tage ihres

     Bruders, Pfr. Alvis Dobczynski in Barth.

19.5.45. Pfingstsonnabend: Nachmittags 5 Uhr stürmisches Klingeln. Russ. Offizier begehrt Einlaß. Nach früheren Erfahrungen öffne ich nicht selbst die Tür, hole A. aus dem Beichtstuhl. Er kann sich nur mit Mühe aufrecht halten. Tag u. Nacht gibt er uns Schutz, oft am Stock wankend. Jede Nacht liegen wir in Bereitschaft. .??. Unruhe draußen. Das Haus voll armer Menschen, hilfesuchend. Dicht gedrängt liegen sie Nachts. Damit das Essen für alle reicht, gibt es nur einmal am Tage ..?.. für alle. (An Diät für A. garnicht mehr zu denken.) [2] Ungeduldig durch das lange Warten nimmt der Offizier A. sofort mit nach draussen. Kurze, knappe Forderung, daß bis morgen früh von Kirche ab in breiter Front bis schräg gegenüber ein hoher Bretterzaun mit großem Tor zu errichten sei von uns, Kirche müßte sonst sofort geschlossen werden. Einwände unmöglich.

     Ich laufe, um Bretter u. Leute zum helfen. Die Beichtleute werden nachhause geschickt. Sie begreifen nicht. Wir bitten um ihre Hilfe. Vergeblich. ..?.? zum Pfingstsonnabend Abend niemand zu haben zur Hilfe. Eine Handvoll Bretter nur. A. beginnt mit 2 Jungens u. 2 Männern mühselig. Als die anderen Russen sahen, wie er sich schleppte u. wie wir den besten Willen zeigten, aber nichts besaßen, fingen sie selbst damit an u. schickten uns fort. Pfingsten stand der gesamte Zaun. Dahinter Gefängnis, GPU. Alle Häuser, Krankenhaus mußten geräumt werden bis zu uns.


20/21.5.45 Pfingsten: Viel Gottesdienstbesucher, viel zu tun. Generalabsolution. Das Leid, die bittere Not überall so groß, soviel Trost war nötig. – A. hielt sich eisern. – Abends Erschöpfung. Im Haus keine Ruhe durch die vielen Flüchtlinge u. andere Menschen. Jeden Abend stellen sich noch mehr Hilfesuchende mit Kindern u. Säuglingen ein zum Schlafen. Strohsäcke, Matratzen. Sessel u. Liegestühle reichen nicht aus. Sie liegen dicht nebeneinander auf der Erde auf Teppichen, Decken, Läufer, Mänteln. Jeder Raum überbelegt. Um jeder Gefahr auch bei Nacht begegnen zu können, wachen A. u. ich fast beständig. Fenster u. Türen besonders gesichert, Alarmzeichen mit allen verabredet u. Verhaltensmaßregeln. Das Toben an den Türen macht alle entsetzt auffahren, sonst aber schlafen sie erschöpft u. hören kaum den Spuk an Fenstern .?.

22.5.45. Mehrere aufregende Besuche, wenn auch freudiger Art .?.?. die aus furchtbaren Aufregungen u. Nöten vom Herrgott wieder heil u. wunderbar beschützt .?. geführt wurden u. sich bei uns erst mal ausruhen mußten. A. ist totmüde. – Er legt sich nachmittags etwas in sein Schlafzimmer, das ich nicht, wie er gewollt, auch noch mit Jungen belegen ließ. Zum Abendtisch klopfe ich wie immer. Keine Antwort – ..? – – Ich finde ihn in furchtbaren Herzkrämpfen. Eile mit heißen Kompressen usw. Nach Stunden Besserung. – Er verlangt, ich solle mich die Nacht hinlegen, er wolle mir nach unten klopfen, wenn was wäre.

23.5.45. Die Nacht war schlecht. Trotzdem ich so gut wie nicht schlafe klopft er nicht, um mich nicht holen zu müssen. Am Tage weitere Anfälle. Arzt kommt nicht.

24.6.45. Ich wage es nicht, die Nacht in seinem Zimmer zu bleiben, wenn er es nicht will. Gegen 1/2 12 Uhr höre ich über mir, daß es sehr schlimm sein muß, laufe hinauf. Qualvollste Herzkrämpfe, Todesängste!

Der so schreckliche Herd in der Küche streikt wie immer. Ich brauche so dringend heißes Wasser zur Linderung, heiße Krampftees Nacht für Nacht... Sowie die heiße Packung aufs Herz kommt, einen Augenblick Linderung, dann wieder von neuem Anfälle. Die .?. Nacht die Qual, dazu die Atemnot! [3] 25.5.45. Arzt sagt wieder ab. Seine Frau erklärt, Patient solle selbst in die Sprechstunde kommen (trotzdem sie ihn kennt u. Bescheid weiß), wenn die Russen ihn aus dem Haus würfen, müßte er ja auch raus. – – Ich schreibe noch einmal Arzt persönlich u. was ist. Er gibt Rezept für Tabletten. – Wenig Linderung. A. will sie nicht mehr nehmen, es ist, als ob sie ihn innerlich verbrennen.

Das älteste Kirchenvorstandsmitglied stirbt die Nacht. Die Angehörigen kommen. Ich darf es ihm nicht sagen, versuche .?.?. durch Boten nach Stralsund trotz der großen Schwierigkeiten dorthin. Auch wegen Sonntags=Vertretung u. einer bevorstehenden Trauung. – – – Die Nacht entsetzlich. – Krampf auf Krampf! – Gegen Morgen etwas Besserung. Ich merke seine Augen auf mir ruhen. Er sagt mit seltsamer Betonung: „Arme Gertrud!“ – – – Nein, ich nehme den Kampf noch auf, denke ich, so weit ist's noch nicht. – Es wurde auch besser. – „Kann ich mal hoch –, kann ich mich mal an Dich anlehnen? – Ach, wie schön: Kannst Du mich noch halten? Bin ich Dir nicht zu schwer ?“ Das Sprechen ging vor Erschöpfung nur in Flüsterton u. stoßweise.

     Der Tag blieb besser. Er bat: „Du mußt mir Mut machen. Weißt Du, ich freue mich, wenn mir jemand Mut macht. Du weißt ja nicht, wie furchtbar das alles ist, wenn man soo – ist!“

     Er nahm die Blumen mit Mühe vom Nachttisch, hielt sein Gesicht darein: „wie schön“, – stellte sie sich ganz dicht vor sich auf den Stuhl u. konnte sie stundenlang angucken u. dazwischen stellte ich später den reizenden Scherenschnitt eines größeren Mädchens, eine Madonna, die ihm viel Freude bereitete.

     Plötzlich zeigte er für das Essen u. Zubereitung mit wie u. was Interesse, er, der sonst nie daran dachte. Wohl wurde es nur jeweil 1/2 Tasse Suppe, die er löffelweise in Pausen u. immer wieder zwischen Hochaufrichten u. Luftschöpfen nehmen konnte. Immer zeigte er Freude darüber, es war seltsam, ihn so mit einem Male vom Essen sagen zu hören „Das schmeckt köstlich, welche Kräuter hast Du drin?“ Nachmittags meinte er lächelnd zu mir „Weißt Du, ich glaube, wir schaffen alles auch ohne Dr. W.“ – Der Tag blieb gut.

Die Nacht wurde lang. Je dunkler es wurde, desto mehr nahm die Bangigkeit zu. Ich brannte von da ab ständig im Zimmer abgedunkelt eine geweihte Kerze, die ich noch hatte. Er hatte immer so sehr das Licht geliebt.

26.5.45. Die Not wurde größer. Wieder qualvolle Unruhe, Schmerzen, Atemnot! – „Hoch!, hoch!, Kann ich mich man an Dich anlehnen? ....“

Bei Tage die furchtbare Unruhe im Haus. Dauernd die Klingel. Oft dringende Sachen, wo ich dringend Bescheid geben muß. Mitunter reißen Russen fast die Klingel ab. Nervenzerreißende Proben. Das wird? Hält die Tür aus? – Die Kinder, besonders oben drüber im Zimmer, sehr ungezogen. Immerfort muß ich sie ins untere Zimmer spielen schicken, so dröhnt ihr Springen u. Toben über ihm, daß er zusammenzuckt... Es ist für mich so schrecklich, daß ich so oft weglaufen muß u. er Grund hat zu sagen: „Immer, wenn ich Dir was sagen will, bist Du draussen. Nachher weiß ich nicht mehr, was ich sagen wollte.“ – Und ich fliege u. haste, so sehr ich kann, kann's doch vor Not nicht schaffen u. ändern. [4] 27. 6. 45. Die Nacht zum Sonntag wird wieder qualvoll. Bis in die Nacht packen die Flüchtlinge, die plötzlich alle die Stadt verlassen müssen. Ein Rennen u. Hasten und Unruhe! – – – Wieder Krämpfe. Schmerzen. Atemsnot. Es ist entsetzlich! Er kann vor Schwäche u. Not seine Lage auch mit meiner Unterstützung nicht mehr ändern. „Weck Schw. Maria“, flüstert er. – Gut, daß alle Schläfer im Haus sich so wohlgeborgen wissen u. sorglos schlafen, selbst nicht mal das qualvoll unterdrückte Stöhnen wahrnehmen.

     Es dauert, bis ich sie wach habe. Sie kommt sofort, hilfsbereit. Wir betten ihn höher. Als ich einen Augenblick draußen bin, Wasser zu holen, flüstert er zu Schw. Maria „Es dauert so lange ich bin so zäh!“

     Ich schicke sie wieder schlafen. Neue, furchtbare Anfälle. Draussen toben die Hunde der GPU., dazwischen mal Schüsse. Lastautos kommen u. gehen mit Getöse, wie oft steigt die Angst hoch, ob man uns auch, wie die ganze Straße, plötzlich aus dem Haus werfen kann?

     Sowie es anfängt zu dämmern, öffne ich das Fenster. Es ist ja so heiß diese Tage. Zwar kann ich sie oft nicht auflassen vor tollem Krach. Aber es geht immer eine Entspannung über sein zermartertes Gesicht, wenn die ersten Vogelstimmen sich regen. Die frische Luft saugt er gierig mit offenem Munde ein. „Nach Osten nach Osten!“, flüstert er, wirft sich plötzlich mit aller Anstrengung im Bett herum. Ich begreife schließlich, was er meint bette ihn mit dem Gesicht gen Osten. Er liegt in Erwartung, daß die Sonne aufgehen möchte, – – – wartet noch auf etwas anderes – – – „Guck mal raus nach Osten richtig aus! siehst Du nichts?“ Er lächelt u. schließt die Augen. Kaum graut der Tag. Noch Dunkelheit, am Horizont eine Ahnung von Licht. Ich weiß wohl, was er meint, als er mich nun wieder forschend ansieht: „und wenn es – – letzte!! Station wäre?“ durchdringend ist sein Blick. Ich kann nur antworten, ganz ruhig: „die letzten Anzeichen sind noch nicht da. Wir werden es doch noch einmal schaffen! Das wäre ja noch schöner!“ – Er lächelt beruhigt u. schlummert kurz. Die Vögel singen, draussen der Lichtstreifen kommt höher. „Wie schön! Nun ist die bange Nacht vorbei. Er saugt die frische Luft ein. – „Der Diakon soll mir gleich, wenn er kommt, die hl. Kommunion bringen!“

27.5.45. Wir müssen Laiengottesdienst halten, ohne Priester heute Sonntag. Ich frage ihn kurz darüber u. hole Erlaubnis ein. – „Grüßt mir bitte alle Flüchtlinge noch einmal. Ich segne sie alle. Daß ich sie so fahren lassen muß, ins Ungewisse! Ich durfte ihm ja nicht sagen, in welcher Angst u. Not sie noch kamen, um sich noch einmal auszuweinen. Alle Werktage hatte der Diakon früh noch die hl. Kommunion austeilen können, Schw. Maria hatte die Messtexte gebetet, es waren immer viel Beter da. Der Diakon fuhr diesen Nachmittag ab. Auch bei uns ein weiteres, überhastetes Abfahren. Rennen treppauf, treppab. Der Rest von Flüchtlingen blieb. Leider die mit den ungezogenen Kindern auch dabei.

     Etwas Essen, d.h. ja immer nur Flüssiges, er kann Festes nicht mehr schlucken, nimmt A. wieder zu sich. „Was bringst Du mir heute?“ – Fast muß ich lachen, solches Fragen in seinem Mund klingt so komisch, daß er sich für Essen interessiert. Ich gehe drauf ein, [5] entwickle den Kochplan nebst Aufzählen von wieviel Kräutern u. Kalorien, die ich ihm einverleiben werde. „Gut! gut! Ja, das gibt Kraft. Weißt Du. wir müssen das so zusammenstellen, daß ich wieder hochkomme.“ Er gibt sich große Mühe, immer wieder mal einen Schluck zu trinken. Es geht nur in großen Pausen.

     H. H. Erzpriester/Stralsund hat sagen lassen, daß Pfr. v. Hülsen frei sei u. nach seiner Meinung kommen könnte. Nun wartet A., es geht in der Vorfreude besser.

     Der kl. Axel 1 1/2 Jahre alt, guckt mal mit seinem Lausbubengesicht herein zur Tur, läuft stamm zu seinem Bett hockt sich vor ihn hin mit schiefem Kopf, feixend, wie er so oft mit Onkel Pfr. gemacht hat. „Mh?“ – Der lächelt wohl, kann aber nicht mehr sprechen. Dann guckt Detlef, 4 Jahre herein, winkt ihm: „Schw. Gertrud, Du sollst mal herauskommen“. Alles kl. Freuden, für die er dankbar ist.

     Statt H. H. Pfr. v. Hülsen, der selbst krank im Krankenhaus liegt, kommt H. H. Pater D. – A. ringt die Enttäuschung nieder. „S'ist gut, sag ihm bitte, er möcht mir gleich die hl. Oelung spenden.“

     Nach der hl. Handlung, die er ganz wach verfolgte, flüsterte er mir zu: „Ich bin so glücklich!“ Mit Tränen in den Augen: „Die Muttergottes von Barth verläßt mich nicht“

29.5.45. Eine böse Nacht. – Sind sie alle zu Haus?“ – „Ja“ – „Die Kinder auch?“ – „Aber jetzt schlafen sie alle.“ – Die Unruhe wuchs. Anfall auf Anfall. „Wie spät ist es?“ Kann ich schon kommunizieren?“ – „Es ist noch ganz dunkel draussen. Wir dürfen bei unserer Nachbarschaft keinen Lichtschimmer sehen lassen. Wir müssen noch etwas warten. Gar so früh werde ich auch den Pater nicht rausholen dürfen.“

     Bis kurz vor 5 Uhr wartete ich, dann ging's nicht mehr. 5 Uhr: Bitte, Herr Pater, kommen Sie, es geht so schlecht, mein Bruder bittet so sehr um die hl. Kommunion.“ – „Wie? Ja, ich komme!“ – 5:35 Uhr: „Bitte, Herr Pater, beeilen Sie sich doch, es geht so furchtbar schlecht.“ - Wie? Ja, ich komme doch schon!“ – Endlich, kurz vor 6 Uhr war er so weit. Ich sagte, daß A. nur noch winzige Partikelchen schlucken könnte. Er vergaß es wieder, sodaß mich ein angstvoller Blick A.'s aufmerksam machte, als er die ganze Hostie sah u. ich nochmal bitten mußte.

     Dann wurde er ruhiger. – Vormittags Trauung von Marianne L., ein liebes Mädel, die sich alles so ganz anders nach Vereinbarung mit A. vorgestellt hatte, war eine etwas wehmütige Braut. – Der Tag verlief wie immer unruhig. A. fragte nach Marianne. Die Nacht ebenso unruhig.

30.5.45. Nach langem vergeblichen Ueberlegen wegen der Unsicherheit unterwegs, wen nach Stralsd. Bescheid schicken, entschließt sich Schw. Maria zu fahren, um A.s Wunsch um Beistand eines der befreundeten Mitbrüder dort erfüllen zu können u. für hier noch um Hilfe zu bitten. Die Not wird immer größer. Wohl sieht A. großmütig über alles drüberweg, daß nur überhaupt jemand da ist, aber es tut doch weh, als er leise nachdenklich sagt: „Ein Priester, der mit Zigarettenfingern die hl. Kommunion und Oelung spendet ....“ [6]      Dazu kommt täglich die brennende Not an die Tür, wo der Rat eines Seelsorgers gebraucht wird. Wie wartete er selbst auf priesterlichen Beistand u. Verständnis, hatte die ganzen Jahre hier in dieser einsamen Diaspora schon immer so sehr diesen Mangel schwer empfunden. Wenn ich morgens bei Tisch sage: „Die Nacht war furchtbar“, dann ist die einzige Antwort u. Teilnahme daran: „Ja, ja, so ist's. Wissen's, bei Herzkranken ist's halt immer so, einen Tag besser, einen Tag schlechter.“

     A. wartet, ob Schw. Maria einen der bekannten Mitbrüder mitbringt oder wenigstens Bescheid. Er ist ganz hoffnungsfroh.

     Marianne kommt sagen, daß Schw. Maria durch die Zugverspätungen erst in 2 Tagen wird zurück kommen können. Ich tröste A. Er: „Es wird ihr nichts passieren, sie wird zurückkommen, die Muttergottes von Barth verläßt sie nicht“.

     Er dämmerte vor sich hin, rief mich plötzlich strahlend zu sich nahe heran: „Geh mal ans Telephon“, flüsterte er geheimnisvoll. „Das geht doch nicht.“ – „Doch!“ – „Die haben doch die Leitung draußen abgenommen für sich.“ – „Du gehst ans Telephon! – Aber erschreck nicht, wer dran ist, hörst Du. Du mußt nicht erschrecken! Du meldest Dich u. wartest Befehl ab.“

     Ich wollte ihn nicht reizen, wurde selbst unsicher u. tat ihm den Gefallen, so oft er immer wieder von neuem drängte u. immer dringlicher u. beschwörender fragte: „Nun, noch nichts?“ – „Wie spät?“ – Ist's schon 6 Uhr?“ – Ich merkte, wie ihn die Enttäuschung immer mehr u. mehr ergriff u. er mich immer wieder grübelnd betrachtete. „Wenn ein großes Auto kommt, erschrick nicht. Es wird jemand in Zivil von R. gebracht. Die mußt Du reinlassen, hörst Du? –“

     Bei jedem Klingeln fuhr er selig lächelnd hoch, wartete u. schickte mich: „Sie kommen, sind schon unterwegs.“ erklärte er mit Bestimmtheit. „Wie spät?“ Ich wurde ganz irre. War es nur Fantasie, konnte es etwas anderes sein? Die Nacht verlief ebenso mit Warten trotz der Anfälle. „Wie spät?“ – „Schließt die Kirche auf. Es stehen doch schon 2 Priester vor der Tür. - „Es ist noch Nacht, die Russenwache steht nebenan, ich darf jetzt kein Geräusch machen, nichts an der Kirche schließen.“

     5 Uhr: „Schließ die Kirche auf!“ Ich mußte es mit aller Vorsicht tun. Er wartete gespannt: „nun?“ – „Sie werden noch kommen,“ u. er sagte mir lächelnd u. geheimnisvoll, wen er bestimmt erwartete .... u. in welchem Zusammenhang .... u. einer von ihnen möchte mir gleich den Heiland bringen.“

     .... u. es war doch alles Fantasie! Aber welche Sehnsucht, – wie mußte die Enttäuschung werden! Denn der, den er so bestimmt erwartete konnte nicht kommen, der war weit u. ungewiß. Die Augen verfolgten mich den ganzen Tag, wurden müder u. müder u. enttäuschter.

31.5.45, Fronleichnam. Pater D. hatte ihm morgens die hl. Kommunion gebracht. Einen Augenblick wurde der arme Körper ruhiger, dann von neuem Unruhe. Es wurde stündlich schlimmer. Die Beine zuckten ruhelos hin u. her, hin u. her. Er behielt nicht mehr als ein dünnes Leinenlaken über sich. Ab u. zu ist er [7] unklar, guckt grübelnd. Um besser sehen zu können, läßt er sich die Brille aufsetzen. Es bleibt unklar trotz allem, auch wenn er die Augen noch so aufreißt.

     Eine Nacht voll Dunkel u. Bangigkeit Er liegt mit geschlossenen Augen. Die Kerze brennt ruhig, abgedunkelt. Die Beine rascheln hin u. her, zucken hin u. her. Ich merke Versagen bei mir, wage es nur ein paar Minuten hinauszugehen, lasse die Tür auf, lege mich rasch in der Küche lang auf den Fußboden. Es wird besser. – Da!! – Ein Geräusch!! – ? – Ich springe hoch u. hin. Er hat sich aus dem Bett geworfen auf meine Matratze davor. „Was tust Du?“ – „Ich möchte Ruhe haben,“ stöhnt er verzweifelt. Ich tröste ihn, so gut ich kann bette ihn neben mir u. dann nach einer Weile, weil er so niedrig nicht liegen bleiben kann, zurück ins Bett, – „Leg Dich hierher, bleib bei mir!!“ Ich halte ihn ganz fest, massiere ihn vorsichtig streichend die ständig zuckenden Glieder. ...

     Morgens – die zwitschernden Vogel u. die frische Morgenluft lassen die Bangigkeit etwas vergehen. Er lächelt: „Weißt Du, ich möchte so gern, daß X u. X (abgefallene Seelen) den Weg wieder zurückfinden“.

     Morgens versuche ich selbst den Arzt zu bekommen, warte bis 7 Uhr, schelle an der Nachtglocke. Vom 1. Stock aus dem Fenster schickt mich seine Frau barsch fort, es würden keine Hausbesuche gemacht. Die Straße ist leer, nur Russen. Ein Gefährt hält plötzlich dicht neben mir im Fahren an, einer springt dicht neben mich .... ich laufe weiter. Dröhnendes Lachen, aber sie kommen nicht mehr nach. – Um 8 Uhr zur Sprechstunde versuche ich es nochmals selbst beim Arzt. Sie will mich wieder Stunden warten lassen, macht mir die Tür vor der Nase zu. Ich gehe dennoch zwischendurch hinein. (Bei allen durchbrennende Nerven, leider!) endlich bekomme ich Rezept. Medikamente fehlen. Ersatz in Apotheke. A. will es nicht nehmen.

1.6.45. Die Nacht wird wieder arg. Als ich um Wasser laufe, wirft er sich wieder aus dem Bett vor Todesangst .... Ruhelose Bangigkeit ...!

     Am Tage bitte ich einen bekannten Flüchtlingsarzt, ob er mal kommen würde, ich weiß nicht mehr ein u. aus. Er ist zwar schon sehr alt u. nur Augenarzt, ich wollte aber nur mal ein Arzturteil über seinen Zustand hören. Aus Gefälligkeit kam er, war aber so hilflos, nichtssagende Worte –, daß es keinen Zweck hatte. A. sagte hinterher: „Das ist kein Arzt, den hole nicht mehr, hat keinen Zweck.“

2.6.45 Bei Tage große Schwäche. Eine Fünffährige kommt, bringt Blümchen. Er freut sich, ist ruhiger, nur die Glieder zucken weiter. – Die Nacht wird ganz schlimm, er kann vor Schwäche nicht mehr kommunizieren.

3.6.45 Ich überlege mit Jungen wegen Hilfe aus Greifswald. Alles vergeblich, jeder ratet ab, es kommt doch keiner durch. Ich schicke um Hilfe zu anderem Arzt. Es kann keiner kommen, die Russen beanspruchen sie. Schw. Maria die ergebnislos zurückgekommen war von Stralsund u. Rügen (unter großen Schwierigkeiten) geht abends noch einmal zu Dr. W. u. bittet eindringlich. Endlich kommt er, trotzdem er selbst krank ist. Er meint, das Herz sei noch nicht so schlecht, es seien nur die [8] Nerven, läßt mir Spritze da, von der er sich viel verspricht, will nächsten Morgen wiederkommen.

A. lächelt unendlich müde u. schwach. Verschluckt sich immerzu beim Trinken, kann nicht mehr trinken. Ich stütze –?– Als ich einen Augenblick den Rücken wende, wirft er sich, so totmüde er ist, im Bett herum. Sagen kann er nicht mehr: nach Osten, aber ich weiß es auch so u. bette ihn wunschgemäß. Er nickt, scheint dann einzuschlafen trotz des Zuckens der Glieder.

     Nach einer Weile wird die Atmung so krampfartig, daß ich Bescheid weiß. „Schw. Maria, bitte stehen Sie auf, kommen Sie, mein Bruder stirbt!“ – „Nein!“ – „Es ist so!“ – „Ja, ich komme!“

     Wir beteten zusammen u. abwechselnd. Der Körper war glühend heiß u. schweißgebadet ... Erst, als es aufs Letzte ging, ließ ich den Pater wecken, der noch einmal die Absolution gab.

2.55 Uhr. Ein letztes Aufbäumen u. Ausstöhnen, es war vollbracht! ... Wir beteten noch weiter. Die beiden hatten es garnicht gemerkt. Ich hatte ihn im Arm u. war über ihn gebeugt, ich wollte nicht, daß man ihm in seiner Not so ins Gesicht guckte. Erst, als ich um Alleinsein bat, merkten sie es u. gingen hinaus.

     – – – Der Pater ging schlafen. Schw. Maria half mir waschen u. anziehen u. das Meßgewand anlegen. Das kl. Sterbekreuz, das er so oft die Nächte umklammert hatte, nahm ich jetzt an mich u. gab ihm das große über seinem Bett in die Hand. Morgens war es von der erstarrten Hand umklammert. Es lag ein wunderbarer Frieden über ihm. – Ich wollte niemand Fremdes an ihm hantieren lassen u. rasierte ihn selbst.

     – – – Die Gemeinde konnte es nicht fassen. Es war wie ein verzweifelter Aufschrei, jetzt in dieser grenzenlosen Not! Ich mußte sie trösten u. halten. Sie baten, ihn sehen zu dürfen. Soweit sie es erfuhren, kamen sie noch einmal einzeln Abschied von ihm nehmen im Sterbezimmer. Sie baten um Aufbahren in der Kirche. Doch es ging nach dem Gewitter nachts u. bei der Tageshitze nicht mehr. Wir mußten ihn einsargen u. zumachen u. dann den Sarg in der Kirche aufbahren.

     Die Kinder pflückten noch einmal Gänseblümchen für ihn u. Kornblumen zu Kränzen u. Sträußen (er liebte Feldblumen so). Den schlichten Sarg (Gott Dank daß ich einen bekam), schmückten wir mit Buchsbaumguirlanden, den alten, wackligen Handwagen, den wir nur für die Beerdigung bekommen konnten zum Ziehen, mit Grün u. Tüchern. Der Bürgermeister erlaubte Kirchenvorstandsmitgliedern während der Arbeitszeit die Teilnahme an der Beisetzung, sie zogen den Wagen u. trugen den Sarg in die Gruft.

     Am 6.6.45. War H. H. Erzpriester Radek-Stralsd. zur Beisetzung gekommen. Nachts zuvor wollen Russen durch's Kellerfenster ins Haus eindringen. Die nächste Nacht wollten sie die Haustür wieder einschlagen. Gott Dank hielt sie stand.

     Am 7.6.45. morgens 8 Uhr fand das Requiem statt, anschließend betteten wir A drüben [9] an einem stillen Fleckchen, das ich aussuchen konnte, drüben auf dem Friedhof.

     Gnadenbild der Pfarrkirche in Barth

     St. Maria, Trösterin der Betrübten

     „Die Muttergottes von Barth verläßt uns nicht ...!“ (aus seinen letzten Worten)