Unter dem Bauernkittel

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Autor: L. Ernesti
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Titel: Unter dem Bauernkittel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33–34, S. 513–516, 529–532
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[513]
Unter dem Bauernkittel.
Eine wahre Geschichte.

Ein Sonntag-Morgen auf dem Lande! – Wer seine Poesie nicht kennt, Worte würden sie ihm nicht schildern; wen er aber umfängt mit seiner Stille, seinem Frieden, er wird sie fühlen, wenn auch sonst seine Brust nicht so zugänglich ist den weichern Empfindungen. Sie schmiegt sich an ihn, ohne daß er’s will; sie bannt ihn in ihren Zauberkreis, ohne daß er es ahnt.

Einer von Jenen, die da weniger sinnen und träumen, sondern mehr denken und handeln, war der junge Mann, der eben aus dem schattigen Dunkel eines Eichenwäldchens trat, ehe er den Graben übersprang, welcher den Wald von den Feldern trennte, unwillkürlich stehen blieb und hier auf eines jener malerischen Dörfer schaute, wie sie das alte Westphalenland wohl einzig in der Art aufzuweisen hat.

Jedes Haus inmitten eines Garten- und Wiesengrundes, der stattliche Hof des reichen Bauern ebenso von alten Bäumen umgeben, wie die niedrige Lehmhütte des Armen mit dem moosbedeckten Strohdach. Jedes Eigenthum umzäunt mit den Hecken des Weißdorns oder kurzem dichtverzweigten Buchengestrüpp, in dessen tiefes Grün sich hier und da eine wilde Rose hineingeflochten, dort wachsend, blühend, erstanden unverhofft wie die Freude, schnell vergehend wie das Glück, das sich momentan zeigt und verschwindet !

Nach der rechten Seite des Dorfes, etwas weiter hin zu den vom höhern Gebirgszuge vorspringenden bewaldeten Hügelketten, die das Landschaftsbildchen umkränzten, da hinüber schweifte der Blick des jungen Mannes am Waldessaum. Dort lag auch ein von alten Linden umschatteter Hof, neben von blühenden Hecken umgrenzten Feldern und Wiesen. Es war ein Bild, ähnlich dem so vieler andern, die hier, wie Perlen aneinandergereiht, eine Kette bilden. Und doch, wie so ganz anders erschien dieser Punkt dem Beschauer! wie anders dieses dunkle Grün der Bäume, über welche der aus dem Hause aufsteigende Rauch blaue Nebelbilder wob; wie anders die Aehren dieser Felder, die Flächen dieser Wiesen, über denen hell der Sonnenglanz leuchtete! Und wie klopfte erst das Herz beim Anblick des weiß und licht ihm entgegenschimmernden Hauses, über dessen Giebel eine Schaar bunter Tauben flatterte! Dort, dort war seine Heimath, da stand’s, sein Vaterhaus, dies liebe Haus, dem er länger denn drei Jahre fern gewesen.

In langsam feierlichen Tönen zitterten die Klänge der kleinen Dorfglocke über das stille Bild des Friedens, über das so laut und mächtig zu ihm redende Bild seiner Heimath hin. Er bedeckte einige Secunden die Augen mit der Hand. Es war nicht, um besser hinweg sehen zu können über die vom Sonnenlicht überstrahlten Felder vor ihm. Als er wieder hinschaute, da war das Auge feucht, das vordem so freudig geleuchtet; da lag über dem ganzen, eben noch so lebendig erregten Gesichte eine Stille, eine Wehmuth, die man einige Minuten zuvor diesen Zügen nicht zugetraut hätte.

Wohl hatte der junge Mann eines jener Gesichter, die in lebendiger Treue jeden Eindruck des Innern wiederspiegeln; doch, nach dem Aeußern zu urtheilen, würde man sein Inneres gerade nicht so weicher Regungen fähig gehalten haben. Es war mehr ein ernster, charaktervoller Kopf, ein Gesicht, das starke Leidenschaften verrieth, ein Auge, das leuchtete, aufflammte und blitzte. Auch jetzt blitzte es in dem Auge – vorüber war der Schatten der Wehmuth, und fest und forschend wandte sich der Blick zurück in den Wald, wo heitres Lachen ertönte und eine andere Stimme hell aufjauchzte.

In der nächsten Secunde tauchte aus dem Waldesdunkel ein Paar auf, das Arm in Arm daherschritt. Beide trugen Westphalens Landestracht, und ihm stand der Rock von weißem Linnen, der schwarze, breitkrämpige Hut ebenso gut, wie dem jungen Mädchen das von silbernen Spangen gehaltene Mieder, der faltige Rock, das Häubchen mit den langen Bändern. Geradaus schritten sie dem Manne entgegen, der eben seine Heimath erschaut; sie sahen ihn auch in der nächsten Secunde und mußten ihn ebenso rasch erkennen, denn sie schrie laut auf: „Der Andreas!“ und er wiederholte erbleichend: „Wahrlich, der Andreas!“

„Heinz! Ilse!“ rief der junge Mann freudig, trat aber zurück, als zwei offenbar völlig verstörte Gesichter ihn anstarrten. „Was ist?“ setzte er hastig hinzu, und sein dunkelgebräuntes Antlitz entfärbten Angst, Schreck, Vermuthung.

Das junge Mädchen, das noch eben so herzlich gelacht, begann bitterlich zu weinen; sein Begleiter reichte dem Jugendfreunde die Hand und sprach ernst: „Willkommen, Andreas, wenigstens mir willkommen, Du weißt, ich hab Dich immer lieb gehabt.“

„Um Gottes Barmherzigkeit willen – im Namen aller Heiligen, was ist hier vorgefallen, was habt Ihr? ist – ist doch nichts – der Anne geschehen – oder sind meine Eltern gestorben? ist mein Bruder –“

„Niemand ist todt drüben im Hofe, Andreas! Doch sag’ mir erst, woher Du kommst, wie’s kommt, daß Du so plötzlich hier bist? Ich hörte, Du würdest noch lang abwesend bleiben.“

„Heinrich!“ entgegnete der Andere leidenschaftlich, „Heinrich, Du hast wohl den Verstand verloren, daß Du meinst, ich könne [514] Dir etwas sagen, etwas erzählen, wenn Du so bleich bist und die Ilse weint, als ob das Herz ihr brechen sollte? Was habt Ihr? sprich, Du weißt, ich bin sonst kein Hase, zittere aber jetzt am ganzen Leibe vor Todesangst und Pein! Heinrich, Ilse, sagt mir, was geschehen ist; denn ist auch Keiner todt dort im Hause, so doch wohl Jemand sterbenskrank oder – –“

Das Mädchen warf sich lauter schluchzend in das Gras und barg den Kopf tief in den Schooß; der junge Bauer aber nahm den heimkehrenden Freund am Arm und zog ihn fort von dem Platz mit sich in den Wald, indem er rief: „Warte hier auf mich, Ilse; bin ich jedoch in einer Stunde nicht wieder da, so gehe ruhig nach Hause.“




In Westphalen findet man bei den reichen Bauern und Hofbesitzern oft ebenso alte, sonderbare Statuten und Gesetze über Erbe und Erbrecht, wie bei der Aristokratie jenes Landes, das sich das Land der „rothen Erde“ nennt. So alt jener Name, so alt jene Gesetze. So beharrlich, wie Westphalens Volk seine schwarze Erde „rothe Erde“ nennen wird, wenn auch tausend Gelehrte und Nichtgelehrte den Bewohnern des Landes beweisen wollten, daß sie Unrecht haben, ebenso beharrlich werden sie festhalten am Wort und Gesetz ihrer Vorfahren und sich’s nicht nehmen lassen, es unverändert zu vererben auf Kind und Kindeskinder.

Eines dieser Gesetze unter den begüterten Familien jenes Landes ist: daß der älteste Sohn alleiniger Erbe des Gutes oder Hofes wird. Dies Statut hat im Bauernstande, ebenso wie in der Aristokratie, schon vielfach Jammer und Elend nach sich gezogen und ist der Fluch geworden für Manche; es hat Adel und Volk aber auch den Segen gebracht, daß ihre reichen Familien nicht verarmten und das Erbe der Väter, von Geschlechtern zu Geschlechtern übergehend, sich in ihnen erhalten hat und erhalten wird.

Zu einem der reichsten Bauern des alten Westphalenlandes gehörte der Hofbesitzer Claus Dalenkamp. Er hatte zwei Söhne, Martin und Andreas. Martin, der Erstgeborne, war sein einstiger Nachfolger auf dem Hofe, seine Freude, sein Stolz und Liebling. Ueber diesen Sohn ging ihm schon seit Jahren nicht mehr die, welche er sonst seinen höchsten und größten Schatz genannt, sein Weib. Martin war sein Ein und Alles, und hatte er den Knaben schon als Kind gehalten, wie seinen Augapfel, um so mehr liebte er ihn, als derselbe heranwuchs zur Lust und Freude der Eltern.

Sah man Martin Dalenkamp, so konnte man sehr wohl den Stolz des Vaters, den Triumph der Mutter begreifen, denn er war in der That der schönste junge Bursche auf Meilen in der Runde, dabei thätig, fleißig von früh bis spät und stets bedacht, den Eltern ihre Liebe zu vergelten. Groß, schlank, blond, mit lichten blauen Augen und von blendend frischer Gesichtsfarbe, vertrat er in seiner ganzen äußern Erscheinung den Typus des westfälischen Volkes, war auch ernst, still, langsam und bedacht, wie die Kinder jenes Landes mehr oder minder sind.

Der zweite Sohn, Andreas, fast fünf Jahre jünger als Martin, war der völlige Gegensatz des Bruders, nicht allein im Aeußern, auch in Sinn und Charakter. Mit Augen, dunkel wie die Nacht, verband er Haar und Teint, die beide einem Südländer hätten zur Ehre gereichen können. Er hieß im Dorfe und der Umgegend auch nur der „schwarze Andreas“, und dieser „schwarze Andreas“ machte als Kind und Jüngling den Eltern durch seine tausend wilden Streiche viel Sorge und selbst Kummer. Kein Baum zu hoch für ihn, kein Bach zu tief, und mehr denn zehn Mal war er als Knabe dem Vater für todt in’s Haus gebracht, wenn die schwankenden Aeste der Baumkronen ihn nicht getragen und er zu Boden gestürzt oder mühsam unter dem Eise hervorgezogen worden, in das er eingebrochen war.

Trotz seiner Wildheit hatte er das beste Herz der Welt, und, um die Wahrheit zu gestehen, hatten nicht nur die jungen Dirnen den „armen“ Andreas lieber, als den „reichen“ Martin, auch die Mütter und Väter, außer seinen Eltern, sagten schmunzelnd: „Das ist ein echter Bursche!“

Daß die Eltern den sanften stillen Martin gar so sehr liebten und den Erstgebornen als einzig Wunder in der weiten Gotteswelt hinstellten, das that dem schwarzen Andreas oft weh. Machte er als ein in den Sitten der Väter Erzogener und für alle westfälischen Gebräuche blind Eingenommener auch keinen Anspruch an einen Ziegel oder Stein auf dem ganzen Hofe, so doch an die Liebe der Eltern, und diese besaß und behielt uneingeschränkt Martin. Indeß kümmerte es ihn seit der Zeit nicht mehr so tief, wo eine Schwestertochter seiner Mutter, ein armes, verwaistes Bauermädchen, auf den Hof kam und diese kleine Anne seine Spielgefährtin wurde.

Vier Jahre machten die kleine Anna zu einem großen schlanken Mädchen, und ehe Andreas zum Militär, zur Garde nach Berlin, kam, verlobte sich der achtzehnjährige Jüngling mit ihr. Sie beschlossen, den Bund ihrer Herzen geheim zu halten, bis Andreas seine Dienstzeit vollendet und in die Heimath zurückkehrte; sie ahnten nicht, daß Einzelne um dies Verlöbniß wußten.

„Die Claußen-Anna vom Hofe“, wie das Mädchen unter den Bewohnern des Dorfes hieß, entfaltete sich zu einer immer blendendern Schönheit, und vielleicht ein Jahr, nachdem Andreas fort, bat Martin seine Eltern, ihm das Mädchen zum Weibe zu geben.

Martin’s Wunsch war den Eltern Gesetz, und hätten sie es auch vielleicht lieber gesehen, daß er die Tochter des reichen Schulzen heirathete, die dem hübschen Erben sehr gewogen war, so wagten sie’s doch nicht, dem Liebling ihres Herzens einen Wunsch zu versagen, und die reiche Hofbesitzerin verkündete daher ihrer armen Schwestertochter unter Thränen der Freude das ihr bevorstehende Glück.

Wie erschrak die gute Frau, als die schöne Anna für die Ehre dankte und versicherte, sie liebe Martin nicht genug, um sein Weib zu werden! Martin aber, der „stille, sanfte Junge“, wie seine Eltern ihn nannten, der nebenan lauschte, gerieth außer sich. Fest preßte er die Lippen auf einander, noch krampfhafter die Hände zusammen, aber ruhig, lächelnd, trat er wenige Augenblicke später in die Kammer zu Mutter und Base und sagte freundlich: „Ueberreden sollt Ihr die Anne nicht, liebe Mutter; denn sagt sie nicht gern Ja, so ist’s besser, ich nehm’ eine Andere zur Frau.“

Diese Worte halfen ihm mehr voran im Herzen des eiteln und hoffährtigen Mädchens, als die demüthigste Bitte. Es kränkte und verletzte sie nicht wenig, daß der reiche Bruder so schnell Abstand nahm von seinen Wünschen, während der arme Andreas seit ihrer Kindheit sich um ihre Zuneigung beworben und, ehe sie sich ihm verlobt, Wochen, Monde um das Versprechen der Treue gebeten hatte und nicht müde geworden war, ihr seine heiße Liebe in beredter Weise zu schildern.

Der stille, bedächtige Martin kannte aber das junge Mädchen besser, als der leidenschaftliche und verblendete Bruder. Wohlweislich fiel er Anna daher nicht mit glühender Bewerbung zur Last, bat auch seine Mutter inständigst, Nichts in der Angelegenheit zu thun, und bewies der betroffenen Waise, daß er sich ihre Weigerung nicht im Mindesten zu Herzen genommen.

Ging oder fuhr er künftig zur Stadt, so brachte er ihr die schönsten silbernen Miederspangen oder das feinste Tuch zu Kleidern mit, er schenkte ihr die hübschesten Schuhe, die schwersten Bänder und überreichte ihr Alles mit den einfachen Worten: „Damit Du siehst, daß ich Dir nicht gram bin, Anne!“

Das beleidigte Mädchen hätte dem so schnell erkalteten Bewerber gern manchmal all die herrlichen Sachen vor die Füße geworfen, so ärgerte es seine Ruhe; es liebte jedoch den Putz zu sehr und wußte nur zu gut, wie hübsch die schönen Schuhe an seinen kleinen Füßen aussahen und wie herrlich die Bänder zu seinem reichen blonden Haare standen. So dankte Anne denn immer heiterer für die Gaben, dankte nach Jahresfrist sogar sehr warm dafür und zugleich mit einem Lächeln und Erröthen, das auf den stillen Martin berauschend wirkte.

Er war aber zu bedächtig, um sich nur von Lächeln und Erröthen bestechen zu lassen, zu klug, um das für genügend in einem so schwankenden Herzen zu halten, als welches er das der Base nun kannte. So machte er denn noch andere Proben, um sich von der Sinnesänderung Anne’s zu überzeugen, er näherte sich bald diesem, bald jenem hübschen Mädchen im Dorfe, wandte sich aber dann der Schulzentochter wieder zu und erklärte fortan Monate hindurch, während er immer häufiger den Schulzenhof besuchte, daß dort doch die erste Schönheit in Westphalen sei, und das in Gegenwart der reizenden Anne, die längst einstimmig für die Krone aller schönen Mädchen erklärt worden war. Hatte doch außer Andreas sogar ein Maler gesagt, sie sähe aus wie eine Madonna, und gab’s, wenn sie zur Stadt kam, nicht einen vornehmen Herrn, der sie nicht voll Ueberraschung angesehen oder nicht einem Begleiter [515] laut ein Wort der Bewunderung zugerufen! Und nun sollte die Schulzentochter mit ihrem plumpen Gesicht, ihren breiten Füßen, hübscher sein, als sie! o das war unerträglich und sie zankte sich eines Abends auch tüchtig mit Martin über diese Behauptung.

Um das Maß ihres Aergers voll zu machen, sah die Schulzentochter seit des jungen Hofbesitzers Annäherung die schöne Anne stark über die Schultern an und sagte ihr sogar eines Morgens: „Wenn Martin heirathet, wird Dich die neue Frau sicher nicht im Hause behalten.“ Weinend saß am Abend dieses Tages, einem milden schönen Abend gegen Ende des Frühlings, die schöne Anne am Saum des Eichenwäldchens, weinte über der hochmüthigen Schulzentochter Worte, die ihr in Aussicht stellten, den Hof der Muhme verlassen zu müssen, weinte auch weil Andreas lange nicht geschrieben, hauptsächlich aber flossen ihre Thränen doch dem Umstande, daß die Dorfleute erzählten, Martin würde bald freien. Wie sie so sinnend und grübelnd da saß, von fern den schönen Hof sah, dessen Herrin sie hätte sein können, da kam Martin eilig über den Fußpfad zwischen den Feldern daher.

„Ich gehe dem Boten entgegen!“ rief er Anne zu und wollte ohne weitere Erklärung an ihr vorüber.

„Bringt er Dir Etwas mit?“ fragte sie aufstehend und trat ihm näher.

„Da ist er! nun kannst Du es gleich mit ansehen!“ entgegnete Martin, ohne auf des Mädchens verweinte Augen zu achten, ohne anscheinend das freundliche Lächeln zu bemerken, mit dem sie zu ihm aufblickte. Er that als habe er nur Sinn und Augen für den Boten, der ihm mit grinsender Freundlichkeit und einem stechenden Blick auf Anne ein Kästchen übergab und dann sagte: „Der Goldschmied versicherte, so schöne Krallen habe er noch an keinen Bräutigam verkauft und die Schulzentochter könne sich arg freuen.“

Martin wandte sich ab. Der Bote ging, Anna stand mit klopfendem Herzen da.

„Bist Du versprochen, Martin?“ stieß sie plötzlich hervor.

Martin schien die Frage nicht gehört zu haben, er entnahm dem Kästchen eine Schnur der schönsten Bernsteinperlen und zeigte sie dem Mädchen. Bernsteinperlen, „Krallen“ wie sie heißen, sind in Westphalen auf dem Lande der übliche Schmuck für Bräute. Anne sah die herrlichen Perlen und konnte nicht zweifeln – Martin war versprochen! Gern hätte sie laut aufgeschrieen vor Aerger und auch vor Jammer, denn sie liebte jetzt den kalten, bedächtigen Martin seit Monaten mit einer Leidenschaft, wie sie solche nie für Andreas empfunden.

Der kluge, berechnende Erbe hatte sich dieses schwache Herz gezogen, bis es ihm in glühender Liebe anhing. Stolz und Scham brachten das Mädchen zwar dahin, all seine wild erregten Gefühle zu verbergen; sprach es aber auch mit ziemlicher Ruhe seinen Glückwunsch aus, bebte doch die Stimme und Thränen stiegen unwillkürlich in seinen Augen auf. Anne wandte sich zur Seite. Da fühlte sie plötzlich die Bernsteinperlen um ihren Hals gelegt, da umfaßten sie ein paar starke Arme, leis fragte eine Stimme: „liebst Du mich denn wirklich?“ und nun gab sich des Mädchens Entzücken in kurzem Aufschrei, in lebendig lautem Worte kund.

Der erste Kuß brannte auf ihren Lippen, sie hielten sich fest umschlungen. Plötzlich trat Jemand zwischen sie, schleuderte das Mädchen mit den Worten: „Treubrüchige! Verrätherin!“ zur Seite, und Martin bei der Brust packend, murmelte er mit erstickter Stimme: „Elender Bube!“

Es war der Freund und Spielgefährte des Andreas, Heinrich Kamphagen, im Dorfe kurzweg „Heinz“ genannt. Sohn eines ehemals begüterten Bauern, war er jetzt einfacher Knecht beim Schulzen. Mißwachs, dann ein Brand, hatten seinen vermögenden Vater sehr heruntergebracht, und nachdem dieser sich in allem Unglück noch dem Trunke ergeben, war’s mit der Familie und dem letzten Wohlstand völlig bergab gegangen. Als Heinz erwachsen, starb sein Vater, der Hof fiel in die Hände der Gläubiger, und der junge Bursch besaß Nichts, als ein redliches Herz, guten Willen und kräftigen Körper. Der Schulze des Dorfes nahm ihn in Dienst, und sein Fleiß, seine Treue und Zuverlässigkeit machten ihm bald einen guten Namen. Bei jenen Wechselfällen seines Geschicks war Andreas sein Freund geblieben, und während gar Mancher sich über den „armen Knecht“ voll Dünkel erhoben, zu denen auch Martin gehört, hatte Andreas sich immer fester und inniger an Den geschlossen, der mit so viel Kraft und Stärke sein hartes unverschuldetes Loos trug. Heinz hatte dies Benehmen dem Jugendfreunde nicht vergessen; er glaubte auch, es ihm schuldig zu sein, während Jener fern, über dem Mädchen zu wachen, das, wie ein Zufall ihm offenbart hatte, Andreas’ Braut war.

Mit finstern Augen, mit trotziger Miene hielt der arme Knecht den reichen Bauernsohn einige Secunden fest, dann mochte ihm wohl die Erkenntniß kommen, daß sein Freund für das meineidige Mädchen zu gut sei. Er ließ Martin los, indem er sagte: „Daß Ihr nur eine solche elende Dirne lieben mögt, die als Braut Eueres Bruders sich mit Euch einläßt!“

„Anne mit Andreas versprochen?“ rief Martin.

„O über Dich scheinheiligen Heuchler!“ schrie jetzt Heinrich voll Zorn. „Meinst Du, ich hätt’s vergessen, als ich Dich damals oben im Buchenhag getroffen? entsinne Dich doch, wie Du zusammengekauert wie ein Häufchen Unglück hinter der Hecke lagst und Deinen Bruder belauertest, als er grad’ dieser meineidigen Weibsperson den goldenen Reif an den Finger steckte und sie ihm ewige Treue gelobte. So wie mich damals ein Zufall in Deine Nähe geführt, so vorhin, als Dir der Schurke von Bote an der Kirchhofsmauer zuflüsterte, wo des schwarzen Andreas schönes Liebchen sei, und Du ihm für die Nachricht einen Thaler schenktest, den zweiten ihm gabst, als er Dir versprach, das von den Perlen in ihrer Gegenwart zu sagen, was Du ihm vorbetetest und der alle Sünder auch sicher hier oben wie ein Staarmatz nachgeschwatzt hat. O, hätte ich nur eher Zeit gehabt zu kommen, da hätt’ ich Dich vielleicht noch von der Sünde und dem Betruge – sie aber vom Meineid abgehalten!“

Martin entgegnete kein Wort, sah aber den Knecht mit Augen an, die einen minder beherzten Burschen sicher hätten erbeben machen. Heinrich kümmerte dies bleiche wuthentstellte Gesicht des sonst so ruhig leidenschaftslosen Martin eben so wenig, wie dessen zornfunkelnde Augen; er maß ihn, dann die Anne mit einem Blick unbeschreiblicher Verachtung, wandte sich dem Feldpfade zu und rief bitter: „Fürwahr, Die sind einander werth!“

Martin und Anne standen sich noch eine Weile schweigend gegenüber; darauf gingen sie stumm nebeneinander ebenfalls durch’s Feld dem Hofe zu. Verstört traten sie durch das kleine Thor in der Wiesenumzäunung; dort aber blieb das Mädchen stehen und indem es stolz den Kopf zurückwarf, sagte es ziemlich heftig: „Jetzt ist’s Ehrensache, daß Du mich heirathest, und je eher desto besser! Wir sind Beide schuldig; aber der Lump von Knecht soll sich nicht rühmen, uns Redlichkeit und Treue beigebracht zu haben.“

Sie gab ihm die Hand, und er nannte sie von dem Augenblick an seine Braut. Sieben Wochen später, an demselben Morgen, wo Andreas in die Heimath zurückkam, war Martin’s und Anne’s Hochzeitstag; die Glocken-, die ihm entgegentönten, als er das Vaterhaus sah, waren die Hochzeitsglocken des Bruders und Der, die ihm einst Liebe und Treue gelobt hatte.




Zwei Jahre waren vergangen. In dem Stadtgefängnisse zu M. las man einem des Mordes endlich überführten Gefangenen sein Urtheil vor. Es lautete auf Tod durch’s Beil. Er hörte die Worte an, ohne eine Sylbe zu entgegnen, und erst als der Gerichtsbeamte ihm zum zweiten Male mit tiefer Bewegung zurief: „Ihr könnt nun an die Gnade Seiner Majestät des Königs appelliren, der ein eben so gütiger wie milder Herr und Richter ist!“ antwortete der Gefangene: „Ich werde es thun, meiner armen Eltern wegen.“

Der Richter entfernte sich. Der Geistliche, der mit ihm gekommen war, blieb in der Zelle, in welche durch das kleine vergitterte Fenster jetzt ein Strahl des Sonnenlichts fiel. Es zitterte in hellem Lichtreflex über die auf dem Schemel zusammengesunkene Gestalt des Mannes, der des Mordes überführt war und nun das Antlitz in den von Ketten aneinandergeschlossenen Händen verborgen hatte. Mehrere Minuten betrachtete der junge Priester dies Bild der Trauer und des Schmerzes, dann trat er dem Unglücklichen nah und seine Hand sanft auf die dichten schwarzen Locken des Jünglings legend, sagte er ernst und eindringlich: „Andreas, Du bist unschuldig!“

Der Gefangene zuckte zusammen, die Ketten klirrten laut, er schauderte, blickte dann empor und sprach ruhig: „Herr Baron, kommen Sie endlich von dem Wahne zurück! er martert mich mehr als mein Elend.“

[516] „Und doch, Andreas, werde ich Dir diese Worte so lange zurufen, bis Du endlich die Wahrheit gestehst.“

„Die Wahrheit? Hörten Sie denn nicht, daß ich jetzt nach fast zweijährigen Verhören und Verhandlungen endlich des Mordes überführt bin?“

„Du selbst gestandest ihn doch aber nicht ein?“

„Weil, wie der Herr vom Gericht neulich sagte, ich ein zu hartnäckiger Bösewicht bin.“

„Nein, Andreas, und tausendmal nein, weil Du den Mord nicht begangen hast. Ich kenne Dich besser, ich beurtheile Dich richtiger.“

„Sie, Herr Baron, sehen in mir noch immer den wilden, aber gutmüthigen Knaben, der mit Ihnen spielte, wenn Sie im Schloß Ihres Onkels zum Besuche waren.“

„Und Du, mein lieber Andreas, siehst in mir leider einzig auch jenen Knaben, der den Schlitten seiner kleinen Cousine Flora schob, den Neffen des Freiherrn K*, und doch bin ich schon lange nicht mehr Adolar von K*, vielmehr seit vier Jahren schon Pater Ignaz, ein Priester des Herrn, der kürzlich seine letzte Weihe empfangen hat.“

„Entschuldigen Sie das, ich kann Sie aber nicht gut anders nennen.“

„Nenne mich, wie Du willst, denn das kümmert mich nicht, mich betrübt einzig, daß Du in mir nicht Deinen Beichtvater sehen willst.“

„Nicht will, o nein, ich kann nicht – kann wirklich nicht beichten, frommer Vater.“

„Es würde Dir Erleichterung sein, Andreas. Seit fast zwei Jahren sitzest Du in dieser Zelle, hast kaum zehn Worte mit irgend Jemand gesprochen, Du bist den Gerichten, bist den Geistlichen gegenüber stumm geblieben, und seit den acht Tagen, wo ich zu Dir komme, der Spielgefährte Deiner glücklichen Kinderjahre –“

„Glücklichen Kinderjahre?“ wiederholte der Gefangene bitter. „Die kenne ich nicht.“

„Wie? Du hattest doch so brave Eltern, die Dich liebten.“

„Mich liebten sie nie.“

„Andreas!“

„Gewiß nicht, Herr! an ihrem Erstgebornen, an meinem Bruder Martin hing einzig ihr ganzes Herz.“

Der Geistliche schaute unwillkürlich düster zu Boden. Vielleicht dachte auch er an seinen ältern Bruder, den Majoratsherrn, der seit fünf Jahren mit seiner schönen Cousine Flora verheirathet war. Als er wieder emporblickte, bemerkte er, daß das Auge des Gefangnen starr an einer Spinne haftete, die durch das geöffnete Fenster der Zelle hinaus an die dicken Eisenstäbe kroch und im Licht, im Sonnenschein draußen verschwand.

„Andreas!“ rief der Priester bewegt, „Du siehst jener kleinen Spinne so traurig nach; irre ich nicht, beneidest Du sie.“

„Sie ist frei! wohl ihr!“

„Andreas, könntest Du denn nicht auch frei sein?“

Der Gefangene blickte hastig in die forschend auf ihn gerichteten Augen und schnellte wie eine Feder von seinem Sitze empor.

Da klirrten seine schweren Ketten lauter denn zuvor, und heftiger als vorhin schauderte er zusammen. Langsam, sehr vorsichtig, fast ohne Hände und Füße zu bewegen, ließ er sich wieder auf den Schemel nieder. Es war ersichtlich, daß er das rasselnde Geräusch des gegliederten Eisens vermeiden wollte. „O diese Ketten, diese furchtbaren Ketten!“ sagte er in dumpfer Verzweiflung, „wären sie nur nicht!“

„Rede die Wahrheit. Andreas, und sie fallen ab.“

„Um sich schwer, viel schwerer um einen Andern zu legen!“ murmelte der Unglückliche düster.

„Aber um Den, der’s verdient, um den Mörder!“

„Um den Mörder!“ wiederholte der Gefangene leise. Große Tropfen kalten Schweißes traten auf seine Stirn, er lehnte den Kopf zurück gegen die weiße Kalkwand der Mauer, und sein blasses Gesicht wurde geradezu todtenbleich. Hell und heller blitzte es auf in seinen tiefen dunkeln Augen, dann schloß er diese Augen, wie wenn er auch den Blick schließen wollte vor einer schweren, zu schweren Versuchung.

„Andreas, Andreas, den wahren Namen des Mörders!“ rief der Priester flehend.

Der Gefangene sah auf. In die Züge seines Gesichtes war wieder jene starre unbezwingliche Ruhe, dieselbe kalte, finstere Entschlossenheit getreten, die seit fast zwei Jahren Alle zur Verzweiflung gebracht, welche mit ihm verkehrt, mit ihm gesprochen, auf ihn einzuwirken versucht hatten; es war der Ausdruck, der ihm endlich bei Einzelnen den Namen eines hartnäckigen, eines verstockten Sünders gemacht. Die Gewandtheit und der gute Wille der Richter, namentlich aller derer, die durch ein gewisses Etwas im Gesicht und Wesen des jungen Bauern fest an seine Unschuld glaubten und die Möglichkeit aufboten, ihn zu Geständnissen zu bringen, waren an diesem Schilde abgeprallt. Die Milde wie der Zorn verschiedener Geistlichen hatte sich gebrochen an diesem Panzer hartnäckigsten Schweigens. Selbst dem Pater Ignatius, der seit acht Tagen wieder in M. war und von dem Mörder gehört, in ihm den Jugendgespielen wiedererkannt und ihn seitdem täglich besuchte, hatte der Ausdruck schon tiefsten Kummer bereitet. Er sah auch jetzt voll Schmerz, daß wieder Alles vorbei, daß vorläufig nicht das Geringste mehr zu hoffen und zu erwarten sei, daß der, den er für unschuldig hielt, auch in seinen Augen als Mörder dastehen wollte.

Ernst, traurig den Unglücklichen anblickend, sah er plötzlich diesen furchtbaren Ausdruck starrer Ruhe wieder schwinden, sah einen feuchten Glanz in den großen ernsten Augen.

„Andreas!“ rief er freudig, rief er voll Hoffnung.

Der Gefangene deutete stumm nach dem kleinen offenen Fenster in der Höhe der Zelle, der Sonnenstrahl war fort, die Spinne aber in’s Gefängniß zurückgekehrt.

Minute nach Minute verging. Keiner sprach ein Wort, nichts unterbrach die Todtenstille ringsum. Der Gefangene hatte seine gewöhnliche Stellung angenommen, den Kopf gestützt in die mit Ketten geschlossenen Hände, das Antlitz bedeckt. Der Priester starrte noch empor zu dem Fenster. Da durchzitterte plötzlich der Donner von Kanonen die Luft, da erschallte feierliches Glockenläuten. Beides brach sich in dumpfen, bald ersterbenden Tönen an den dicken Mauern des Kerkers. Den Gefangenen weckten Ton und Klang nicht aus seinen Gedanken, den Priester aber stürzten sie in ein Meer von Gedanken. Ueber sein stilles, ernstes und trauriges Gesicht strömte jetzt eine Fluth von Licht und Leben, eine Fülle von Freude und Hoffnung. Er war verwandelt, das milde Auge leuchtete, das Gesicht strahlte in Verklärung.

Da trat der Schließer in die Zelle, um dem Gefangenen frisches Wasser zu bringen. Mit trüben, ernsten Augen sah er von Einem zum Andern und schüttelte traurig sein greises Haupt. Der Geistliche begegnete seinem hoffnungslosen Blick mit einem hoffnungsvollen, doch die Miene des Gefangenwärters heiterte sich darum nicht auf.

Der Priester sprach ein kurzes Gebet, trat seinem ehemaligen Jugendgespielen nahe, legte leicht seine Hand auf dessen Schulter und sprach freundlich: „Leb’ wohl, Andreas, ich muß jetzt fort; ich bin zur Tafel bei unserm König befohlen, der eben seinen Einzug in die Stadt gehalten hat. Morgen komme ich wieder.“

[529] Es war noch früher als die Tage zuvor, da Pater Ignaz am nächsten Morgen am Thore des Stadtgefängnisses klingelte. Als er begehrte, nach der Zelle Nr. 18 geführt zu werden, berichtete ihm der Schließer, daß der Mörder auf Befehl des Königs noch spät am gestrigen Abend in andern bessern Gewahrsam gebracht worden und auch diesen Morgen eine nochmalige genaue Untersuchung anbefohlen sei, da Friedrich Wilhelm nach Durchlesung der Hauptacten und einem Gespräche mit dem Herrn Obertribunalrath geäußert habe, er glaube nicht an die Schuld des jungen Bauern.

Der hellste Freudenstrahl flog bei den Nachrichten über das Gesicht des Priesters, und der alte Schließer, der ihn die Treppe hinaufgeleitete, konnte kaum seinen eiligen Schritten folgen. Bald standen sie vor der neuen Zelle. Ehe aber der Pförtner die Thür erschloß, sagte der Pater: „Lieber Herr Werften, ich habe von heute ab freien Zutritt zu dem Gefangenen, und Niemand ist befugt einzutreten, wenn ich bei ihm bin. Hier das eigenhändige Rescript des Königs, – hier das des Herrn Gerichtspräsidenten, und dies der Schein vom Vorstand der hiesigen Verwaltungsbehörde.“

Der Schließer wies alle drei Schreiben zurück, sah den jungen Priester fast liebevoll an und erwiderte: „Als ob ich an Ihrem einfachen Wort zweifelte! Als ob ich überhaupt denken könnte, daß Jemand aus dem freiherrlichen Geschlecht der K. eine Unwahrheit sagen würde! Nein, so viel kennt man doch die K.s im Westphalenland! Aber die Unterschrift Seiner Majestät Friedrich Wilhelm’s des Vierten, sehen Sie, die möcht’ ich wohl anschauen, hab den Herrn schon liebgewonnen, als er noch als Kronprinz hier mit unserm verehrten Herrn Oberpräsidenten von Vinke unsere Provinz bereiste. Es ist ein gar guter Herr.“

„Das ist er!“ rief der Geistliche mit leuchtendem Auge.

„Sie haben ihm von dem Gefangenen erzählt, nicht wahr? O, ich dacht’s mir gleich, als ich heute hörte, daß Se. Majestät so lange mit Ihnen gesprochen.“

Der Priester legte das Schreiben des Königs in die Hand des Schließers und sagte ruhig: „Ihr wolltet ja wohl den Namenszug sehen?“ und trat in die Thür, die er rasch öffnete.

Nicht war’s das große, freundliche, sonnige, nach der Gartenseite hin gelegene Zimmer, nicht die hübsche, wenn auch einfache Einrichtung, die der Priester bei seinem Eintritt sah, er erkannte in dem Raume für den ersten Augenblick nur Eins – Andreas ohne Ketten!

Der Gefangene wandte sich beim Oeffnen der Thüre lebhaft um, kaum sah er den Geistlichen, so stürzte er auf ihn zu und lag, ehe der’s hindern konnte, zu seinen Füßen, und sein Gewand küssend, seine Kniee umklammernd, rief er unter Thränen: „Dank, Dank, o tausend Dank, daß Sie mir diese Gnade vom Könige erwirkt haben!“

Tief bewegt, erschüttert, keines Wortes mächtig, beugte sich der Priester zu dem ehemaligen Jugendgespielen, versuchte ihn emporzuziehen, faltete aber im nächsten Augenblick seine Hände und schaute verklärten Auges gen Himmel, als der am Boden Liegende in leidenschaftlicher Aufregung ausrief: „Nein, lassen Sie mich! Ihre Liebe, Ihre Güte, des Königs Huld hat mir tief, tief in mein verhärtet Herz gegriffen! Lassen Sie mich hier zu Ihren Füßen mit meinem Dank meine Beichte verbinden und hören Sie sie an im Namen des dreieinigen Gottes, im Namen der Mutter Maria und dem aller Heiligen, die mich schützen mögen! – – Vor acht Tagen waren’s gerade zwei Jahre, als ich zur Heimath zurückkehrte. Ich hatte meinen Militärdienst beendet und hätte wohl recht froh und glücklich sein können, allein merkwürdiger Weise überfiel mich eine unerklärliche Angst und gönnte mir unterwegs keine Ruhe. Erst als ich mein Dorf vor mir liegen sah, fiel mir die Centnerlast von der Seele, überglücklich wollte ich die letzte Strecke durcheilen, da ward mir eine Kunde, die mich zur Stelle bannte. – – Ich hatte auf dem Hofe der Eltern eine Braut. Diese wurde gerade in der Stunde mit meinem Bruder in der Kirche getraut! Was soll ich meinen Schmerz schildern? Sie kennen das Leid, Baron Adolar, das Treubruch bringt, denn Ihre Cousine Flora lehrte es Sie, ich weiß es! Denken Sie an den Tag zurück, wo sie Ihren Bruder heirathete, frommer Vater, und glauben Sie, der Bauer Andreas fühlte den Schmerz ebenso tief, wie der junge Freiherr.“

Andreas hielt einige Augenblicke inne, der Priester legte leicht seine Hand auf das Haupt des Knieenden und sprach leise: „Armer Andreas, armer, unglücklicher Freund!“

„Ja, unglücklich war ich! O Herr, so trostlos, so verzweifelt, daß der Freund, der mir Alles gesagt, mich nicht verlassen mochte, wie heiß ich mich auch vielleicht darnach sehnte, allein zu sein. Wir blieben unten in dem Eichenwäldchen, das Sie kennen, das dicht an die Wiese außerhalb des Schloßparks stößt. Dort lief ich, von rastloser Unruhe getrieben, Stunden lang umher, dort lag ich regungslos Stunden lang im Rasen. Die Dämmerung kam, ohne daß ich wußte, was anfangen, was thun. Die Dunkelheit brach ein, und noch hatte ich keinen Entschluß gefaßt, wohin [530] gehen, wo bleiben. Eben redete mir der Freund zu, ihm in die Hütte seiner Schwiegermutter zu folgen, – da hörten wir plötzlich Stimmen im Walde, dann Schritte, und bald vernahmen wir den Ruf: ‚Heinrich! Heinrich!‘ – endlich den Ruf: ‚Andreas!‘ Es war die Stimme meines Bruders. O diese Stimme! Sie durchdrang mich wie tausend Dolche, ich stürzte, wie von wildem Wahnsinn erfaßt, fort, weit und immer weiter, denn ihn zu sehen – wäre mir unmöglich gewesen. Plötzlich bannte ein geller Hülfeschrei aus weiter Ferne meine Schritte – da noch ein Ruf! Ich flog zurück, das Schrecklichste fürchtend. Todtenstille herrschte nun ringsum; der Stelle näher kommend, wo ich zuvor mit Heinrich gesessen, hörte ich noch ein leises Aechzen – dann Alles still; plötzlich aber die mit heiserer, fast erstickter Stimme ausgestoßenen Worte: ‚Jetzt, Viper, hast Du Dein Gift ausgespritzt!‘ O, wie sie meine Sinne im Kreise drehen machten, diese Worte, diese Stimme! Ich wollte schreien – ich brachte keinen Ton heraus; ich wollte vorwärts stürzen – meine Glieder waren wie gelähmt. Da rauschte es in den Zweigen, da eilte eine Gestalt an mir vorüber, ich sah Augen, die mich anstarrten, – es war mein Bruder!

„Dies meine letzte Erinnerung! Als ich das Bewußtsein wieder erhielt, waren Wochen vergangen; ich hatte die Krisis eines Nervenfiebers überstanden und – erwachte mit dem mir anhaftenden Brandmal eines Mörders im Gefängnisse. Schwach, krank, hoffte ich mit jedem kommenden Tage auf den Tod, ich mochte in dieser leider trügerischen Hoffnung nicht meinen Bruder als Mörder bezeichnen, und als ich gesund wurde, fühlte ich von Tag zu Tag deutlicher, daß seine Schande der Tod meiner Eltern sein würde. Aus den Verhören, in die man mich schleppte, erfuhr ich selbst erst alle nähern Umstände des Vorfalls. Ich hörte, daß der alte Bote des Dorfes es gewesen, der mich zuerst als den Mörder Heinrich Kamphagen’s bezeichnet. Der alte Schurke war mir gram gewesen seit dem Tage, wo ich als Knabe gesehen, daß er Enten aus dem Schloßgraben Ihres Onkels gelockt und gefangen. Ich hatte ihn nie angezeigt, ich hatte ihm seitdem manches Huhn, manche Ente von meiner Mutter erbettelt und ihm hundertfach Wohlthaten zugewendet, da er so bitter arm war – er vergalt die Rücksicht des Knaben, die Güte des Jünglings damit, daß er mich des Mordes anklagte! Ich war ihm am Tage meiner Heimkehr Morgens an der Parkwiese des Schlosses begegnet; Nachmittags hatte er mich mit Heinrich Kamphagen im Walde gesehen. Er war während des Hochzeitsmahles in den Hof meiner Eltern gekommen, hatte meinen Bruder zu sprechen verlangt, diesen aber erst gesehen, als endlich der Tanz auf der Tenne begonnen. Beide waren dann mitsammen durch’s Feld gegangen, wie sie ausgesagt, um mich zum Hochzeitsfest zu holen. Möglich, daß dies wahr, alles Andere, was sie beschworen, ist Lüge!“

Andreas hielt einige Secunden inne, dann fuhr er rascher fort: „Sie haben ausgesagt, Hülferufe hätten sie vorwärts getrieben in den Wald, sie seien zur Stelle gekommen, wo die Unthat verübt worden, im Moment, da die Braut des Schulzenknechts, Ilse Steinbrock, eine arme Weberin, mit lautem Schrei besinnungslos über die Leiche des Ermordeten hingestürzt wäre, und zehn Schritte von ihr entfernt hätten sie später auch mich gefunden! Mit einem seidenen Tuche war der Unglückliche halb erdrosselt, mit einem schweren Knotenstock war ihm das Gehirn eingeschlagen. Jenes Tuch, jener Stock – Beides gehörte mir, das Tuch trug die Anfangsbuchstaben meines Namens, der Knopf des Stockes – mein Wanderstab, meinen vollen Namen. Ich hatte das Tuch, wie ich mich später entsann, am Nachmittage abgenommen, der Stock hatte neben meinem Tornister gelegen. Alle diese Sachen zeugten gegen mich. Ein unglücklicher Zufall mußte sie meinem Bruder in die Hand geführt haben, als er, ein wenig berauscht, mit dem in Streit gerathen war, der wahrscheinlich für mich gesprochen und ihm sein Unrecht vorgehalten. Gezeugt hat mein Bruder nicht wider mich, er hat nur geschwiegen. Meine Vertheidigung hat zuerst einzig jene arme Weberin geführt, sie, die Braut des Ermordeten, hat so lange meine Unschuld beschworen, bis sie, wohl aus Kummer, wahnsinnig geworden! Kennen Sie die Verhandlungen, so werden Sie auch wissen, welche Wendung die Sache nahm, als jene Ilse Steinbrock für irrsinnig, ihre Aussagen für ungültig erklärt worden. Ich erfuhr das an dem Tage, wo mein Vater dem Schließer des Gefängnisses die Mittheilung gemacht, daß ihm ein Enkel geboren sei!“

„Das weißt Du?“ rief der Priester überrascht, fast entsetzt.

„Ja, Herr! – ich weiß noch mehr – Alles, weiß, daß seit drei Wochen jener Enkel eine Schwester hat und daß trotz des Unglücks, trotz der Schande, die ich über eine ehrliche brave Familie gebracht, der Herr sie nicht ganz verlassen hat und Gottes Segen sichtbarlich mit dem guten Sohne ist! – – –“

Andreas schwieg, auch der Priester war keines Wortes mächtig. Beide erlagen lange Zeit dem Eindruck des Gerichtes, das die Welt hält. Der Gefangne hatte seinen Beichtvater fester umklammert; mechanisch streichelte dieser das feuchte Haar, die eiseskalten Hände des unglücklichen Opfers irdischer Gerechtigkeit – menschlicher Falschheit! – endlich schien’s ihm doch zu viel, zu groß dieses Opfer, das ein Bruder dem andern brachte, und er fragte eindringlich:

„Willst Du es wirklich fort und fort tragen, dieses Elend, diese Schmach? – wird nicht einmal über Dich kommen der lebendige Wunsch, gerechtfertigt, schuldlos dazustehen?“

„Er ist schon über mich gekommen und überwältigt stets durch ernstes Nachdenken, durch reifliche Ueberlegung. Noch gestern schwankte ich eine Secunde, als Sie wieder in mich drangen, besiegte aber die Anwandlung schneller, als alle frühern Wünsche.“

„Wirst Du es aber immer können, Andreas?“

„Ich will, frommer Vater, und – ich kann! Das Schlimmste ist überwunden. Ich bin fest entschlossen – selbst zu sterben.“

„O, daß ich schweigen muß!“ rief der Priester traurig, „daß ich Deine Unschuld nicht laut verkünden darf, daß ich dies Alles als Beichtgeheimniß höre und ich Dich nun nicht hinstellen kann als den besten, den edelsten, den aufopferndsten der Brüder!“

„Und was hätt’ ich dann?“ rief der Gefangene. „Ich wüßte den Stolz, die Freude, den Liebling meiner Eltern in Ketten und Banden; ich würde den Vater, die Mutter entweder schnell vor meinen Augen sterben, oder in Gram und Verzweiflung langsam dahin siechen sehen. Ich wüßte die Geliebte meiner Jugend nicht allein öffentlich befleckt durch das Brandmal, Weib eines Mörders zu sein, ich sähe sie noch tiefer entehrt als das Weib eines ehrlosen Betrügers! Und wären sie’s allein! Eltern – Weib – aber, o Herr, da sind ja noch die Kinder. Sollen sie in früher Jugend beschimpft, geschändet sein? sollen sie durch’s lange Leben einen unehrlichen Namen tragen, sollen sie vielleicht fluchen Dem, der sie in’s Dasein gerufen hat? o nie, nie! Ich könnte in all diesen niederdrückenden Gedanken nie einen ruhigen, nie einen frohen Augenblick haben, während jetzt, inmitten meines Elends, oft Friede und Freude in meiner Brust herrschen, ein so wunderbarer Friede, eine so heilige Freude, daß Beides selbst einen verklärenden Schein über das traurige Bewußtsein wirft, in den Augen der Welt, in den Augen meiner Eltern als Mörder dazustehen!“




König Friedrich Wilhelm IV. stand auf dem mit Blumen geschmückten, mit Kränzen reichverzierten Bahnhöfe zu M., inmitten der Spitzen aller Civil- und Militärbehörden, inmitten einer dicht gedrängten Volksmasse, die den König, der sich einen Tag in der Stadt aufgehalten, nun auch bei der Abreise noch zu sehen trachtete.

Der König unterhielt sich im letzten Augenblick noch freundlich, leutselig mit Vielen, in seiner unwiderstehlich liebenswürdigen Art und Weise. Endlich war Alles gesagt und gesprochen. Friedrich Wilhelm machte eine Bewegung, die Jeder in seiner Umgebung verstand, grüßend wich Alles zur Seite, eine breite Straße öffnete sich, inmitten der dichtgedrängten Massen, Hüte wurden geschwenkt, Tücher wehten und ein nicht endendes Hurrah ertönte. Freundlich lächelnd schritt der Monarch langsam durch die Reihen, unermüdlich grüßend, oft Einen, der seinen Patriotismus vorwiegend laut an den Tag legte, mit ganz besonderer Heiterkeit in’s Auge fassend. Mit einem Male wurde inmitten alles Jubels seine Miene ernst, und scharf richtete er den Blick auf eine Gestalt, die einen Schritt aus der Menge vortrat. Es war ein junger Mann in geistlicher Tracht, der ihn mit großen, freudig leuchtenden Augen ansah und tief grüßte. Der König blieb dicht vor ihm stehen und sagte:

„Ich freue mich sehr, Sie noch zu sehen.“

„Mein höchster Wunsch ist erfüllt, wenn es mir noch vergönnt wird, Ew. Majestät meinen innigsten Dank für die Gnade auszusprechen!“ entgegnete der Geistliche.

„Folgen Sie mir aus dem Gedränge, lieber Baron, erzählen Sie mir, ob sich in Folge dessen Etwas ereignete.“

[531] Der König ging lebhaft, rasch voran, vorbei an dem schon geöffneten Coupé mit der Krone, vorbei an allen Wagen, und nur der junge Priester, den er angeredet hatte, folgte ihm nach dem leeren Raume des Bahnhofs, wo der Monarch stehen blieb. Minute auf Minute verstrich, eine Viertelstunde war vergangen, und seitwärts von der verstummten Menschenmasse stand der König noch immer im eifrigsten Gespräch mit dem Geistlichen. Sein Gesicht, seine Gebehrden waren von Secunde zu Secunde lebhafter geworden; ein dunkles Roth brannte auf seinen Wangen, er wandte das immer heller blitzende Auge gar nicht ab von dem Antlitz des Priesters, einem Antlitz, das von einer heiligen Freude leuchtete, wie im Glanz immer höherer Verklärung strahlend.

Die Spitzen der Behörden, das ganze versammelte Volk, Alles hatte nur diese Beiden im Auge, Niemand sprach, ein Jeder lauschte, und Niemand vermochte eine Sylbe zu hören. Da, als eine endlos lange halbe Stunde vorüber, sah man, wie der König dem jungen Priester die Hand reichte, sah, daß er die Hand desselben fast eine Minute in der seinen hielt, in herzlichster Weise dabei mit ihm sprach, dann einen Schritt vorangehend, seinen Begleiter, noch immer an der Hand haltend, nachzog und abermals stehen blieb, und nun hörten die Nächststehenden deutlich die Worte:

„Seien Sie überzeugt, daß ich Alles thun werde, was in meiner Macht steht. Die Sache ist schwierig, muß aber doch gehen. Behalten Sie daher Muth und empfehlen Sie ihm Geduld. Sagen Sie ihm auch, wie es mich gefreut hat, daß er, nächst Gott, seinem Könige vertraut hat, grüßen Sie ihn von mir, von seinem Könige, der ihn hochachtet und bewundert!“

Diese Worte liefen von Mund zu Mund, diese Worte wurden in tausendfacher Weise ausgelegt und gedeutet! Wie verschieden aber auch darüber die Lesart und Ansicht, in der Meinung kam Alles überein: „daß der König außerordentlich zum Katholicismus hinneige“, und viele Blätter, viele Zeitungen berichteten in ihren Spalten: „daß auf seiner Reise durch Westphalen der König von Preußen die katholische Geistlichkeit ganz besonders ausgezeichnet habe.“

Nach und nach verloren sich diese Gerüchte wieder, um einige Jahre später stärker denn je aufzutauchen. Es war um die Zeit, als in die preußische Residenz ein katholischer Priester aus Westphalen gekommen war, der unbehinderten Zutritt zu dem Privatcabinet des Königs hatte und während mehrerer Wochen fast täglich von der erhaltenen Erlaubniß Gebrauch machte. Er war oft über eine Stunde allein bei dem Könige, er sprach viel und angelegentlich mit diesem in den Gesellschaften, zu denen er gezogen wurde, und die Beobachter wollten bemerken, daß Friedrich Wilhelm nach den Unterredungen mit dem Priester noch stundenlang ernster und nachdenklicher war, als sonst.

Als man den Geistlichen zum letzten Mal im königlichen Schlosse zu Berlin sah, strahlte sein Gesicht von einer so unverkennbaren innern Seligkeit, daß Alle, die ihn erblickten, sich zuflüsterten: „der hat sein Ziel sicher erreicht.“ Sie hatten nicht Unrecht! Pater Ignatius hatte jetzt wirklich das Ziel seines Strebens erreicht: der Gespiele seiner Kinderjahre, der Jüngling, welcher des Mordes überführt, der Mann, der mehr und mehr sein Freund geworden, war – frei! frei durch den Ausspruch des Königs! – – –

Während einzelne Hauptblätter der Tagespresse sich mit dem möglichen Uebertritt des Königs von Preußen zur katholischen Religion beschäftigten, enthielten mehrere Lokalblätter der Provinz Westphalen die Nachricht: „Der Bauer Andreas D., der vor einigen Jahren, des Mordes beschuldigt, zum Tode verurtheilt war, von Sr. Majestät aber zu lebenslänglicher Gefängnißstrafe begnadigt wurde, ist jetzt in Anbetracht seiner musterhaften Führung und in Folge dringender Bittgesuche seiner braven Eltern, deren nunmehriger einziger Sohn er jetzt, nach dem kürzlich erfolgten Tode seines Bruders, ist, am gestrigen Tage auf Befehl des Königs seiner Haft entlassen und von dem Pater Ignatius, dem frühern Freiherrn Adolar von K. nach seiner Heimath geleitet.“ – –

Mit welchen Gefühlen sah Andreas jetzt seine Heimath wieder! Er ertrug den Anblick nicht, als er mit Pater Ignatius das Eichenwäldchen durchschritten und vom Saum des Waldes aus hinüberschaute nach dem von den alten Linden umschatteten Hofe seiner Eltern.

„Ich kann dort nicht eintreten!“ rief er erbebend und warf sich dann laut schluchzend in die Arme seines Freundes, seines Retters. „Ich kann nicht!“ wiederholte er schaudernd. – – –

Da trat ein todbleiches junges Weib mit grauem Haar, mit gramdurchfuchten Zügen rasch hinter dem nahen Baum hervor und sich Andreas zu Füßen werfend, fragte sie zitternd: „Kannst Du es auch dann nicht, Andreas, wenn ich Dir sage, daß Deine Eltern seit einer Stunde wissen, daß kein Mörder über ihre Schwelle tritt?“

Andreas, der Priester schauten überrascht, entsetzt auf die Frau, die so angsterfüllt zu ihm emporsah.

„Bist Du Anne?“ fragte der Bauer tonlos.

„Ja.“

„Und Du – Du sagtest meinen Eltern – –“

„Daß der Mörder todt ist.“

„Anne! Anne!“ schrie Andreas.

„Ich hatte es Martin in seiner Todesstunde gelobt.“

„Wie! Er sagte es Dir?“

„Nie! ich aber wußte es! ich hab’s geahnt seit dem Tage, wo ich sein Weib war, denn, Andreas, Du konntest kein Mörder sein!“

„Unglückliche!“

„Ja wohl unglücklich! ich habe Dich beneidet Tag für Tag, Stunde um Stunde! ich beneide Dich noch.“

„Steh auf, Anna!“ bat Andreas tief ergriffen.

„Nicht eher, als bis Du mir sagst, daß Du ihm, daß Du mir verziehen hast. Er litt furchtbar – ich büßte schrecklich und werde, so lang ich auch noch lebe, keine frohe Stunde mehr haben.“

„Ich vergab Euch lange! Ich stehe auch ohne Groll vor Dir. Dieser fromme Priester kann es bezeugen.“

„Dein Wort genügt, Dein Wort gilt mir mehr, denn tausend Eide aller Priester der Welt. Ich danke Dir, danke Dir innig.“

Sie stand auf und trat an die Seite. Andreas näherte sich ihr und reichte ihr die Hand hin. Ein glühend Roth überflog ihr geisterbleich Antlitz, sie wich zurück, indem sie rief und Thränen über ihre eingesunkenen Wangen flossen:

„Nie, nie kann, darf ich Deine Hand fassen! Nie und nimmer darfst Du die meine berühren! Sie lag in der des Mörders, in der Hand dessen, der Deine Jugend vergiftet, Dein Leben zerstört.“

Wie ein gescheuchtes Reh lief sie in den Wald; Andreas aber trat den Weg zum Hofe seines Vaters an. – – – –

Die Sterne glänzten schon am Nachthimmel, als er dort noch zwischen seinen Eltern unter den alten Linden saß. Immer und immer wieder mußte er ihnen sagen, daß er sie liebe, daß er ihnen vergebe. Als aber sein Vater die Frage aufwarf: „Wie war Dir’s nur möglich, unschuldig zu sein und für schuldig zu gelten?“ da rief er mit leuchtendem Auge: „Ich hatte den Trost, daß mein Gott, mein König und ein Freund meine Unschuld kannten.“




Fünf Jahre sind seit Andreas’ Freisprechung vergangen. Es ist wieder ein Sonntagmorgen, und über das Dorf hin hallen die Klänge der kleinen Dorfglocke, der Glocke, die da zum Altare läutet, über den Särgen der Verstorbenen ertönt und die Beter zum Gotteshause ruft.

Zu Grabe hat diese Glocke drei Jahre zuvor Martin’s Kinder geläutet. Sie starben binnen wenigen Tagen am Scharlachfieber. Ihren Tod beklagte eigentlich nur Andreas – die eigene Mutter, die Großeltern sahen die Kinder fast freudig in ein anderes Leben gehen.

Vor zwei Jahren ertönten die Glocken zu Andreas’ Hochzeit – am heutigen Sonntage riefen sie sein junges Weib in’s Gotteshaus, das an dem Tage den ersten Kirchgang nach der Geburt eines Knaben feierte.

Andreas hatte den Bitten seiner Eltern, dem Drängen seines Freundes Ignaz nachgegeben, als er an den Traualtar trat. Ueber zwei Jahre war er mit diesem Freunde, der während der Gefängnißjahre seinen Geist so reich gebildet, wie Gott sein Herz, auf Reisen gewesen; dann hatte er die Schwester von Ilse Steinbrock geheirathet und diese Wahl nie bereut.

Pater Ignaz, der schon viele Würden ausgeschlagen, lebte seit Andreas’ Heirath als Pfarrer im Dorfe. Er hatte sich von ihm nicht trennen können, und wie er einst Tag um Tag im Gefängniß [532] bei ihm gewesen, so nun auf dem alten Bauernhofe in Gottes freier schöner Natur.

Auch Friedrich Wilhelm der Vierte hatte den Pater Ignaz nach der Residenz berufen und ihm eine hohe Stelle angetragen. Noch einmal war der Pater nach Berlin gereist und hatte an den Monarchen noch einmal eine Bitte gerichtet, die: in der Nähe des Mannes bleiben zu dürfen, dem er einst als Lehrer entgegengetreten und dessen Schüler er geworden.

Ehe Pater Ignaz schied, fragte der König lachend: „Und Sie wollen nicht mindestens einen von den Versuchen machen, deren man Sie so vielfach mir gegenüber verdächtigt, wollen mich nicht zu Ihrem Glauben bekehren?“

„Mein Streben war stets nur auf die Erreichung des Möglichen gerichtet, Majestät.“

„Wie? des Möglichen? Nein, mein Bester, da irren Sie, denn ich weiß nur zu gut, daß, als Sie mir damals zuerst, nach dem Diner in M. von dem jungen Bauer erzählten, der an jenem Tage sein Todesurtheil vernommen, Sie von mir doch anscheinend das Unmögliche verlangten.“

Der Priester lächelte und entgegnete lebhaft: „Darum wandte ich mich ja einzig an Ew. Majestät, nicht nur als einen der Mächtigen auf Erden, denen es hienieden allein möglich ist, scheinbare Unmöglichkeiten zu vollbringen, nein, auch an den Menschen, dessen edles Herz ich kannte, wie das meines armen, verkannten Freundes.“

„Und doch,“ sprach der Herrscher Preußens sinnend und demüthig, „sagen Sie selbst, was ist meine That gegen die des Bauern!“

„Ew. Majestät thaten viel, Alles, gaben dem Gefangenen das Leben, die Freiheit!“ rief der Priester begeistert.

„Und er, der Bauer, gab mir doch mehr, die Lehre, daß ein Mensch nicht einer Krone bedarf, um einer Krone würdig zu handeln.“




Sollte ein geneigter Leser fragen, woher ich die That des Bauern kenne, diese wahre Heldenthat? Ich lebte in Westphalen, und dort ist sie wohl bekannt. Dort steht jener Bauernhof in einem seiner reizendsten Dörfer, und da lebt jener einst des Mordes Angeklagte, geliebt von seiner Familie, geachtet von seinen Freunden, bewundert von Allen, die seine That kennen.

Er selbst spricht nie über das aus Liebe und Rücksicht gebrachte Opfer. Man ahnte es einst, man wußte es später und erzählt sich’s, wo man ihn sieht, erzählt sich’s auch noch in dem Gefängnisse, spricht dort mit Stolz, mit Achtung und Bewunderung von dem jungen Manne, den man in eben den Mauern einst nur voll Schauder als Mörder betrachtet.

L. Ernesti.