Victor Blüthgen (Gartenlaube 1896/50)

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Textdaten
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Autor: Richard Weitbrecht
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Titel: Victor Blüthgen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 841, 846–848
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[841]

Victor Blüthgen.

[846]

Victor Blüthgen.

Von Richard Weitbrecht.
(Mit dem Porträt S. 841.)

Vöglein, fliegt in das Gras!
Unser Kind bringt euch was,
Wer kann es raten?
Als ob’s ein Sämann wär’.

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Wirft es hin, wirft es her,

Nicht gekocht, nicht gebraten,
Nicht geschnitten, nicht gestochen,
Nicht gehackt, nicht gebrochen,
Nicht geklopft, nicht zerschlagen

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Und doch geht’s in euren Vogelmagen“ –

so klang’s aus dem Nebenzimmer, wo die Kinder sich unterhielten, während ich mit dem Freunde im anderen Zimmer auf dem Sofa saß. Wir horchten beide auf. Da ging’s drin weiter:

„Mieze, bist du wieder da?
Fang’ ’mal an zu spinnen:
Siebzehn Strang zu Glanzkattun,
Fünftehalb zu Linnen!“

Und ein ganz dünnes Stimmlein begann in jauchzenden Tönen:

„Nanndel vorm Ofenloch
Hat nur ein Strümpfchen noch;
Guckt ein Bein ’s andere an;
Ob sich’s nicht grämt,

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Ob sich’s nicht schämt –

Wie’s nur so nackt sein kann!“

[847] „Du,“ sagte der Freund, „das klingt ja an die urältesten Volksreime an! Woher haben Deine Kinder diese Kinderreime?“

„Das wollen wir gleich hören,“ sagte ich und stand auf. Komm’ mit hinein!“

Wir traten ein. „He, Gesindel, lustiges,“ rief ich, „wo habt Ihr diese Reime wieder aufgegabelt?“

„O, der Papa weiß nicht!“ lautete die Antwort. „Das ist ja aus den Bilderbüchern, die Großmama gestern mitgebracht hat!“

„Und heute könnt ihr schon drei Reime auswendig?“

„O, noch viel mehr!“ klang’s zusammen. „Willst Du’s hören?“ Und nun kamen sie, die lieben sinnigen und unsinnigen, die herzigen und närrischen Kinderverschen:

„Gebt einmal das Deckbett frei,
Jungfer Miez will strampeln – –

Ich will mein Kälbchen wiegen,
Wer’s kauft, der kann es kriegen!“ – –

„In dem Garten grüne
Eins, zwei, drei,
Fliegt eine kleine Biene,
Eins, zwei, drei,
Hat zwei gelbe Höschen an,
Daß sie auch ’mal laufen kann“ – –

„Hört auf, hört auf, Kinder,“ rief ich und hielt mir die Ohren zu. „Zeigt mir einmal die Bilderbücher!“

Sie wurden eifrig herbeigeschleppt. Ich schlug auf und las: Zeichnungen von O. Pletsch mit Reimen von Victor Blüthgen.

„Du, Papa,“ nahm mein Aeltester das Wort, „weißt Du, das ist der, welcher die Geschichten ,Zum Nachtisch‘ und ‚Harte Steine‘ gemacht hat; ich habe sie neulich von Meyers Karl entlehnt.“

„Entlehnt, Schlingel? Weißt Du nicht, daß man Bücher nie entlehnen soll! Die kauft man!“

„Ja,“ entgegnete er, „aber die Geschichten sind so schön! Gelt, Du kaufst sie mir?“

Ich nickte. Der Freund aber sagte: „Ist das nicht derselbe Blüthgen, dessen achtundvierziger Roman ,Aus gährender Zeit‘ seiner Zeit so viel Aufsehen machte, als er in der ‚Gartenlaube‘ erschien?“

„Wird so sein. Dann ist’s wohl auch der, welcher eine der besten Erzählungen geschrieben hat, die ich je gelesen. Sie betitelt sich ,Der Preuße‘. Aber komm’ mit, das Konversationslexikon wird hierüber Auskunft geben.“

Und es gab Auskunft, wenn auch nur die sehr magere: Blüthgen, Victor, Novellist, Lyriker, Jugendschriftsteller, geboren Zörbig, 4. Januar 1844, und dann die Aufzählung eines Teiles von dem, was er geschrieben hatte.

Suchen wir diese mageren Notizen hier etwas vollständiger zu machen. Victor Blüthgens Name gehört nicht zu denjenigen, welche Mode sind; sein Name wird deshalb auch nicht mit der Mode vergehen. Wer sich einmal in die Kinderherzen eingesungen hat, wer die heranwachsende Jugend durch Geschichten zu begeistern versteht, wer die Erwachsenen durch Romane und Erzählungen, die nicht bloß von heute sind, um morgen in den Winkel gestellt zu werden, zu ergreifen und zu fesseln vermag, wer überdies noch Märchen geschrieben hat wie die „Hesperiden“, welche denjenigen des Dänen Andersen vollkommen ebenbürtig sind, der mag weniger genannt werden als die Modegrößen, der verdient aber sicher, um so mehr gelesen zu werden.

An Lebenserfahrungen ist Blüthgen reich, denn wechselvolle, nicht immer freundliche Schicksale sind über ihn hingegangen. Sein Vater war Postamtsvorsteher in der preußischen Provinz Sachsen; Victor, das älteste lebende Kind, wurde frühe für die Theologie bestimmt, deren Studium er sich in Halle nach vollbrachter Gymnasialzeit widmete. In dieser Zeit wanderte seine Familie nach Galizien aus, später, als der Vater gestorben war, nach Ungarn.

Bei dem Sohn folgten Lehrjahre, an deren Schluß ein schweres Siechtum seine Gesundheit, ja sein Leben bedrohte. Noch in diesem Siechtum befangen, ging er nach Elberfeld zu wissenschaftlich-litterarischer Privatthätigkeit, folgte dann nach einem kurzen Aufenthalt in Marburg einem Ruf an die „Crefelder Zeitung“ (Winter 1876 bis 1877). Aber nach einem halben Jahr schon legte er seine Redaktionsthätigkeit nieder, gründete mit Julius Lohmeyer in Leipzig eine Junggesellenhäuslichkeit und trat nach Ernst Keils Tode in die Redaktion der „Gartenlaube“ ein. Seit dem Jahre 1880 widmete er sich ganz dem freien Schriftstellerberuf.

In jener Zeit ist ihm das Höchste geworden, was einem Mann zu teil werden kann: eine ausgezeichnete Frau, welche die kühnsten Träume und Wünsche seiner Jugend erfüllte. Er hat aber auch den tiefsten Schmerz erfahren, den ein Mann erfahren kann: nach wenigen Jahren des glücklichsten Zusammenlebens wurde ihm seine Gattin durch den Tod entrissen. Trotzdem schafft er in seinem jetzigen Wohnort Freienwalde a. d. Oder, mit Mutter und Schwester zusammenlebend, die ihm eine behagliche Häuslichkeit bereiten und seinen Knaben erziehen helfen, ungebeugt weiter und hat vielleicht sein Bestes noch nicht gegeben, so viel Gutes wir auch seiner Feder, oder sagen wir besser, seinem Gemüte verdanken.

Wie schon aus dem obigen ersichtlich, hat Blüthgen hauptsächlich zwei Gebiete angebaut: er hat Schriften für die Jugend geschrieben, und zwar für das Kindesalter wie für die heranwachsende Jugend, und dann Romane und Novellen. Außerdem haben wir von ihm einen Band „Gedichte“, welche sich durchaus nicht im hergebrachten lyrischen Fahrwasser bewegen und viel allgemeiner bekannt zu sein verdienen.

Doch gute lyrische Gedichte machen heute viele, Kinderreime, wie sie Blüthgen zu Dutzenden aus dem kindheitsfreudigen Herzen fließen, gelingen nur wenigen. Um solche Kinderreime machen zu können, ist es mit ein bißchen Versgewandtheit nicht gethan, auch nicht mit bloßer Beobachtungsgabe: man muß selbst in seinem Herzen sich ein Stück von dem Paradiese der Kindheit bewahrt haben, und was aus Kindermund erklingt, muß im Dichter ganz von selbst mitklingen. Daß Blüthgen eine solche Natur ist, zeigt er auch in den „Hesperiden“, den Märchen für jung und alt. Vielleicht spricht nicht jedes dieser Märchen alt und jung zugleich an, aber jedes derselben entweder die Alten oder die Jungen. Einzelne sind mit einem geradezu entzückenden Feingefühl für das Leben und Weben der Natur, für das Seelenleben der Tiere und für die zartesten Regungen des Kinderherzens erzählt. Mit Recht sagt Blüthgen im Vorwort: „Bei weitem den meisten liegt eine tiefe Realität zu Grunde: eine Stimmung, welche Ausdruck suchte, ein Stück Natur, das geistig oder zum wenigsten physiognomisch ansprach und sich wie von selbst ins Menschliche umsetzte, eine Idee, welche Märchengestalt gewann.“

Und der Märchendichter hat auch Romane und Novellen geschrieben. Bei Romanen und Novellen fragen wir vor allem, ob es dem Verfasser gelungen ist, eigenartige Gestalten zu schaffen, diese Gestalten lebenswahr zu zeichnen und plastisch vor uns hinzustellen. Sodann fragen wir, ob der Verfasser die Zeit- und Ortsfarbe getroffen hat, und endlich, dafern wir an den Romanschreiber noch dichterische Anforderungen machen, wie er die Natur in Beziehung zu den Menschenherzen setzt und ob ihm Naturschilderungen – das Leichteste, wie viele meinen; vielleicht das Schwerste, was es giebt! – gelingen.

In all diesen Stücken hat Blüthgen seine vollgültige Berechtigung gezeigt, unter die ersten deutschen Erzähler gerechnet zu werden. In seinem Roman „Aus gährender Zeit“, der im Revolutionsjahr Achtundvierzig spielt, entwickelt er ein breites Zeitbild, und zwar mit der eigentümlichen Färbung, die dasselbe im Wupperthal erhielt. Dieses Zeitbild dürfte freilich schärfer sein und die Menge von Einzelzügen sollte sich besser zu einem Gesamtbild zusammenfügen; dafür dürften die romanhaften Ranken etwas weniger üppig gedeihen. Aber doch zeigt Blüthgen, daß er die richtige Witterung für die Zeit hatte, die er darstellen wollte, und seine Kunst, Gestalten zu zeichnen und lebenswahr und plastisch vor uns hintreten zu lassen, zeigt er hier schon; noch mehr freilich in seinen später erschienenen Erzählungen und unter diesen vor allem in „Ein Friedensstörer“ und „Der Preuße“. Dieser pommersche Baron in der erstgenannten Erzählung ist eine so eigenartige Figur, wie nur je eine gezeichnet wurde, und es ist eigentlich ein Wunder, daß sie nicht so bekannt ist wie Fritz Reuters Bräsig, zu dem sie im gewissen Sinne ein aus dem Adel genommenes Gegenstück bildet. Und wer Blüthgens Meisterschaft in der Schilderung von Naturereignissen kennenlernen will, der lese die Schilderung des Frühlingssturmes in derselben Erzählung; wir glauben, daß sich ähnliches nicht oft findet in der ganzen deutschen Erzählungslitteratur. Noch mehr Farbe und Stimmung hat die Erzählung „Der Preuße“, welche in den mittleren Karpathen spielt. Aber während über dem „Friedensstörer“ die lachende Sonne des Humors scheint, breitet sich über dieser der Schleier der Schwermut, entsprechend den Verhältnissen des Landes und den Schicksalen der [848] Helden der Erzählung. Es sind echte, starrköpfige, willensstarke, ehrenhafte Preußen, die im Kampfe mit dem verlotterten Polentum und den geistig zurückgebliebenen Ruthenen zuletzt sich selbst wiederfinden.

Wir müssen es uns versagen, von den anderen Werken Victor Blüthgens zu reden. Außer den genannten Büchern sind noch ein großer Roman, „Frau Gräfin“, sowie zwei Sammlungen von stimmungsvollen Novellen und Humoresken erschienen. Seine neuesten Schöpfungen, die ergreifenden Novellen „In letzter Stunde“ und „Kinderfüßchen“ sind den Lesern der „Gartenlaube“ in frischer Erinnerung. Da er in bester Mannes- und Schaffenskraft steht, so hoffen wir, von ihm noch manche schöne Gabe aus dem reichen Schatz seines Gemütes zu empfangen, dem anscheinend mühelos entquillt, was jung und alt ergötzt und entzückt.