Wanderungen durch Wien/Vorstädte und Vororte

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Autor: V. Chiavacci
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Titel: Vorstädte und Vororte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 506–511
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Kurzbeschreibung: Serie: Wanderungen durch Wien
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Wanderungen durch Wien.

Von V. Chiavacci.0 Mit Zeichnungen von W. Gause.
Vorstädte und Vororte.

Wie die Jahresringe einer mächtigen Eiche haben sich im Laufe der Jahrhunderte die gewaltigen Häusermassen, welche heute die zehn Bezirke und die sogenannten Vororte von Wien umfassen, um den Kern der inneren Stadt geschlossen, anfangs lückenhaft, vielfach von Feldern, Weingärten und saftigen Wiesengründen durchsetzt, dann immer dichter und dichter. Um die Besitzungen der Adelsgeschlechter und reicher Klöster bauten Handwerker, Gärtner, Fischer ihre ärmlichen Hütten; an den Heerstraßen, welche schon im 12. Jahrhundert einen lebhaften Verkehr mit Ungarn und Böhmen, mit den steyrischen Ländern und Kärnten, sowie mit dem „Reiche“ vermittelten, entstanden Einkehrwirthshäuser mit weitläufigen Gehöften, Wagenschuppen und Stallungen für das zahlreiche Lastfuhrwerk; und nach Jahrzehnten des Friedens schlang sich um die gewerbreiche Stadt ein anmuthiger Gürtel von Dörfern, Meierhöfen, Mühlen, die einzelne Gemeinwesen bildeten, welche den Namen „Luken“ führten und als die ersten Anfänge unserer Vorstädte sich bis nahe an die Stadtmauern drängten.

Eine der ältesten dieser Ansiedlungen war die St. Niklas-Vorstadt, welche an der Stelle der jetzigen Vorstadt Landstraße stand; ferner Michelbeuern, welches schon im 12. Jahrhundert als Ansiedlung um das gleichnamige reiche Kloster genannt wird. Der „mittelbairische Grund“ war bis in unsere Tage der Name einer der 34 Vorstädte.

Aber die Einfälle der Türken, Ungarn, Kurutzen vernichteten oftmals die aufblühenden Niederlassungen, und die Sicherheit der Stadt verlangte es, daß ein Theil von jenen, welche sich zu nahe an die Stadtmauern geschmiegt hatten, wieder abgetragen werden mußte. Eine Verordnung Rudolfs II. verfügt, daß niemand in weniger als 50 Klafter Entfernung vom Stadtgraben ein Gebäude aufführen dürfe. Vor dem zweiten Türkenkriege wurde diese Vorschrift auf 200 Klafter Entfernung ausgedehnt und nach demselben endgültig mit 600 Schritt bemessen. Vor allem besiedelten sich die Anhöhen, welche die späteren Vorstädte Mariahilf, Windmühle, Laimgrube, Gumpendorf bildeten. Das St. Theobaldkirchlein wird schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts genannt; hier befanden sich bereits zu Ende des 13. Jahrhunderts ausgedehnte Ziegeleien, von welchen damals die erste Ansiedlung „ob der Laimgrube“ hieß. An den sanften Abdachungen gegen den Wienfluß zu zogen sich reiche und ergiebige Weingelände hin, welche den Herren von Gumpendorf gehörten.

Ein Stück vom alten Linienwall.

Bei der Währinger Linie.

Diese Weinrieden erzeugten den köstlichsten Tropfen in der ganzen Umgebung. Von ihnen behielt die Vorstadt Gumpendorf ihren Namen. Die Benennung der auf einem Hügel gelegenen Vorstadt Windmühle erklärt [507] sich von selbst. Längs des Wienflusses, der damals noch ein viel gewundeneres Bett hatte als heute, lagen zahlreiche Mühlen, die gegenwärtig noch theilweise erhalten, aber außer Gebrauch gesetzt sind. Die Bärenmühle, die Schleifmühle, die Heumühle stehen heute noch da. Das älteste dieser Gebäude, die Staubmühle bei der Stubenthorbrücke, ist erst vor wenigen Jahren ein Raub der Flammen geworden.

Als zu Ende des 17. Jahrhunderts die Einfälle der Kurutzen, eines wilden Reitervolkes aus den ungarischen Ebenen, immer kühner und verwegener wurden, ließ Prinz Eugen im Jahre 1704 von den Bürgern der Stadt rings um die Vorstädte einen Erdwall errichten, der in wenigen Wochen zustande kam und erst 34 Jahre später durch eine kunstgerechtere Anlage aus Ziegeln mit einem breiten Graben ersetzt wurde. Durch diesen Wall, der „Linienwall“ genannt, bekam die Stadt eine natürliche Abgrenzung; denn alle jene Liegenschaften, Gehöfte und kleineren Gemeinden innerhalb desselben wurden nunmehr der Stadt einverleibt und genossen deren politische und Gemeinderechte. Jener Wall, welcher bald seinen Zweck als Befestigungswerk verlor, diente später als Grenze des Verzehrsteuergebietes; die Verbindungen mit dem Flachlande wurden durch Einlaßthore, sogenannte „Linien“, vermittelt. An diesen Thoren werden noch heute die städtischen Verbrauchssteuern auf Lebensmittel und die Pflastermauthen für Fuhrwerke erhoben, und erst die folgenreichen Beschlüsse der jüngsten Zeit, welche uns den Anstoß zu diesen „Wanderungen“ gaben, haben darin Wandel geschaffen. Mit dem Schluß dieses Jahres wird die alte Steuergrenze durch eine neue ersetzt, weit, weit draußen vor den letzten Häusern der heutigen Vorstädte, und keine hemmende Schranke trennt dann mehr die Glieder von Groß-Wien.

Herr Hainfelder, welcher seinem Gast als kundiger Führer durch die innere Stadt, sowie durch das Stadterweiterungsgebiet gedient hatte, zeigte sich auch erbötig, ihn durch die Vorstädte zu geleiten.

Im Kaffeehause zur „Casa piccola“ am Eingang der Mariahilfer Straße trafen sie zusammen. Es ist eines jener alten Stammlokale, welche in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gebaut wurden und die durch ihre vornehme Einfachheit und wohlige Behaglichkeit noch heute mit den modernen Prachträumen erfolgreich wetteifern.

„Sehn S’, lieber Herr von Werner,“ sagte Hainfelder zu seinem Schützlinge, „an dem Tisch is mein seliger Vater 40 Jahr’ lang jeden Tag g’sessen; net länger als a halbe Stund’; denn er war pünktlich wie eine Uhr. Da war halt seinerzeit ein schönes Platzl. Vor sich hat man die ganze Stadt mit’m Burgglacis g’sehn, links das Wagen- und Menschengewühl der Mariahilfer Straß’n, rechts die ‚’Treidmarkkasern‘ mit dem ‚’Treidmarktbergel‘, an derselben Stell’, wo jetzt die Rahl-Stieg’n steht. Im Winter, wenn viel Schnee g’fall’n is, sind wir Bub’n mit unseren Schlitten wie der Blitz über das ‚’Treidmarktbergel‘ hinabg’saust. Das war’n damals ganz andere Winter wie heutzutag; da is der Schnee monatelang liegen blieb’n. Ich weiß net, hat sich ’s Klima verändert oder räumt die Transportgesellschaft den ganzen Schnee weg; mir is halt so, als ob damals die Jahreszeiten pünktlicher ihr Programm eing’halten hätten. Jetzt is auf die Jahreszeiten gar kein Verlaß mehr. Grad’ so, wie sich die Wienerstadt geändert hat, is auch das Klima ein anderes word’n.

Zu meiner Zeit war in den Vorstädten oder ‚Gründen‘, wie man sie g’heißen hat, ein viel patriarchalischer’s Leben. Der Vorstädtler ist viel seltener in die innere Stadt gekommen, denn die Wanderung übers Glacis erschien ihm wie eine Landpartie. Tramway und Omnibusse hat’s damals auch nicht gegeben. Die Zeiselwagen vor den Linien hat man meist nur für Fahrten übers Land benutzt. So ist der seßhafte Bürger auf seinem ‚Grund‘ geblieben und hat sich in die Eigenart seines ‚Grundes‘ so eingelebt, daß ihm schon eine andere Vorstadt fremdartig erschienen ist. An Sonntagen ist er wohl nach Lerchenfeld, wo die zahlreichen Weinburgen g’standen sind, hinausg’wandert, oder weiter auf die ‚Länder‘ zum Heurigen. Manchmal im Jahr’ war auch ganz Wien auf den Beinen. So am 8. September, wo der Mariabrunner Kirchtag viele Tausende hinausg’lockt hat auf den Hadersdorfer Berg, oder zum Brigittakirchtag, wo es in der Brigittenau hoch her’gangen is. Damit war sein Bedürfniß, zu seh’n, wie’s draußen in der Welt zugeht, vollkommen befriedigt. An solchen Festtagen sind die alten Wiener zusammen gekommen wie die Eidgenossen aus den entlegenen Alpenthälern und haben beim Wein und beim Klang der Lannerschen Walzer erkannt, daß sie eines Stammes sind.

Die 34 Vorstädte haben alle ihre Eigenart gehabt, wie die Kantone der Schweiz, ja selbst die Sprache war verschieden. Wie oft habe ich eine Mutter, wenn ihr Bub’ einen ‚allzuharben‘ Dialekt angeschlagen hat, mit lokalpatriotischem Stolz sagen hören: ‚Schamst Di net, Bua, Du hast ja a Aussprach’ wie a Liachtenthaler;‘ denn der Dialekt von ‚Lichtental‘ oder vom ‚Thuri‘ hat ein ganz anderes Bukett g’habt wie der Dialekt von Erdberg oder Lerchenfeld. Der Bewohner der Vorstadt Wieden bildete sich ein, daß seine Aussprache klassisch sei im Vergleich zu der Redeweise derer vom ‚Ratzenstadtl‘.

Der Wiener der vormärzlichen Zeit (vor dem Jahre 1848) war an seine Vorstadt geheftet wie die Auster an den Meeresgrund, und es war der größte Stolz, wenn einer hat sagen können: ‚I bin a Kind von Grund; mei Vater und Großvater und Urgroßvater san alle in derselben Pfarr’ ’tauft worden.‘ Und hat ja einen einmal das Schicksal getroffen, daß er in eine andere Vorstadt hat übersiedeln müssen, so war ihm das grad’ so hart, als wenn er hätt’ nach Amerika auswandern müssen.

Aber zu leben, lustig und fidel zu leben hat der Wiener damals verstanden. Im Apollosaal, im Odeon, beim Dommayer in Hietzing, im Elysium und beim Sperl haben unsere Alten ihr Leben bei Tanz und Spiel genossen; Strauß Vater und Josef Lanner haben ihre seelenvollsten Weisen gefiedelt und der alte Silberzwanziger war damals noch die Wünschelruthe für ein ‚Tischlein deck’ dich‘ mit Backhendln und Salat. In den kleinen Wirthshausgärten der Vorstädte hat es bis in die späte Nacht geklungen vom ‚picksüßen Hölzl‘ (Flöte) und ‚Schunkenban‘ (Geige). Dazu haben die Volkssänger ihre lustigen Schnurren, Bänkel und Gassenhauer aufgeführt. An Sonntagabenden sind die Vorstädter in Scharen durch die Linien hereingezogen, singend und jauchzend, voran der Harmonikaspieler, der unermüdlich die feschen Tanz’ aufgespielt hat. Die Zuhausegebliebenen sind auch nicht ganz leer ausgegangen. Die Werkelmänner (Drehorgelmänner) und Harfenisten, die Liedersänger und Evangelienaufsager sind von Haus zu Haus gezogen und haben jung und alt mit ihren zweifelhaften Genüssen erfreut.

Ja, lieber Herr, unsere Alten haben es verstanden, ihr Leben zu genießen. Aber zu ihrer Ehre muß es gesagt sein, sie haben auch rechtschaffen gearbeitet. Manche blühende Industrie, die heute nur noch kümmerlich fortbesteht, hat damals Wohlstand und Behaglichkeit verbreitet. Die Band- und Seidenzeugfabrikanten von Schottenfeld haben’s zu großem Reichthum gebracht. Freilich haben sie auch eine Menschengattung in die Welt gesetzt, die Fabrikantensöhne vom ‚Brillantengrund‘, die’s verstanden haben, den erworbenen Reichthum mit vollen Händen zu vergeuden, und wie der Wettkampf mit dem Ausland schwieriger ’worden is, sind die Geschlechter rasch verarmt. Jetzt sind sie im Aussterben begriffen, die Fabrikanten vom Brillantengrund. Die Vorstadt Mariahilf war von jeher das gewerblichste Viertel der Stadt und die Mariahilfer Hauptstraße bildet noch heute die belebteste und gewerbfleißigste Verkehrsader unter den Wiener Vorstädten. Die Vorstadt Spittelberg war bekannt durch ihre Möbelfabrikation, die auch heute noch blüht. Auf der Wieden, Laimgrube und in Margarethen war die Meerschaumpfeifenindustrie zu Hause, die damals Tausenden reichlichen Verdienst bot. In der Rossau ist der Holzhandel im großen betrieben worden. Seinerzeit hat auch das Schanzel, eine Uferstrecke nächst der Stefaniebrücke, für den Handel mit Oberösterreich, Bayern und Württemberg große Bedeutung gehabt. Auf den mächtigen Getreide- und Obstschiffen sind sie herabgeschwommen, die biedern Bayern und Schwaben, und haben sich hier niedergelassen. Mit diesem stammverwandten Blut ist unser Wienerthum stark vermischt und der Charakter des Wieners hat etwas von dem rührigen und hitzköpfigen Schwaben, wie von dem schwerblütigeren gemächlichen Bajuvaren behalten.

Das patriarchalische Leben der Vorstädte hat aber eine gründliche Umwandlung durch die Stadterweiterung erfahren. Dadurch, daß der nicht überbaute Gürtel zwischen Stadt und Vorstadt gefallen ist, sind auch die schroffen Uebergänge geschwunden. Die [508] Zinspaläste der Ringstraße und des Stadterweiterungsgrundes haben sich unmittelbar an die Vorstädte angeschmiegt, und dadurch ist auch in den Straßen und Plätzen der Vororte die Baulust rege geworden. Viele alte Gebäude mußten den Forderungen des Verkehrs weichen; an die Stelle von großen, weitläufigen Gebäuden mit ungeheuren Höfen traten ganze Straßenzüge mit modernen Häuserfronten; in kurzen Zwischenräumen erscheint heute noch in den Zeitungen die Nachricht, daß ‚wieder ein Stück Alt-Wien‘ der großen Umwandlung zum Opfer gebracht worden ist, und dann erfährt man aus dem ‚Nachruf‘ die denkwürdigsten Geschichten aus dem Leben dieses ‚steinernen Organismus‘.“

Nachdem Herr Hainfelder seinen Gast genügend vorbereitet glaubte, trat er mit ihm den Rundgang durch die zehn Bezirke an. Die Mariahilfer Straße, das erste Ziel ihrer Wanderung, macht durch ihren überaus lebhaften Verkehr, die ununterbrochene Reihe von Verkaufsgewölben, die stattlichen, zum Theil modernen Häuser und öffentlichen Gebäude einen weltstädtischen Eindruck. Die Straße bildet die Grenze zwischen den Bezirken Mariahilf und Neubau und verbindet mit ihren Endpunkten die innere Stadt mit dem stark bevölkerten Vororte Fünfhaus. Abends, wenn die Arbeiterbevölkerung nach ihren in den Vororten gelegenen Wohnungen zurückkehrt, herrscht in der Straße ein derartiges Gedränge von Fußgängern und Fuhrwerk, daß man Mühe hat, durchzukommen. Die rechte Ecke der Mariahilfer Straße bildet das Hofstallgebäude, ein ziemlich ausgedehnter Bau, nach den Plänen des Fischer von Erlach ausgeführt. Es bildet jetzt den ziemlich schmucklosen Hintergrund des großartigen, seitwärts von den Hofmuseen eingerahmten Maria Theresia-Platzes. Weiter oben steht die neugebaute, mächtig wirkende Stiftkaserne mit der technischen Militärakademie. Der Thurm der Stiftkirche fällt durch seine zierliche Bauart mit der mehrfach durchbrochenen Krönung angenehm auf. Die Mariahilfer Kirche mit einem vielverehrten Gnadenbilde der Madonna giebt dem Bezirke seinen Namen. Vor derselben ist das von Natter ausgeführte Marmorstandbild Josef Haydns.

Die Karlskirche.

Durch das Barnabitengäßchen an der Langseite der Kirche vorbei gelangt man zum Esterhazygarten mit dem gleichnamigen Palais, einst ein Besitz des allmächtigen Kanzlers Fürsten Kaunitz. Durch einen Theil des Grundstückes wurde die mit prächtigen Neubauten umgebene Amerlinggasse geführt. Das geschäftige gewerbreiche Leben dieser Hauptverkehrsader setzt sich auch theilweise in dem anstoßenden Bezirke Neubau fort, insbesondere in der Kirchengasse und der ehemaligen Vorstadt Spittelberg.

Mit dem Bezirke Mariahilf sind die einstigen Vorstädte Laimgrube, Windmühle und Gumpendorf verschmolzen worden. Die Vorstadt Laimgrube bietet noch vielfach das Bild des früheren einfachen Lebens; doch hat auch hier schon die Baulust mächtig eingegriffen und manches altehrwürdige Gebäude der Vernichtung geweiht. An der Stelle des sagenumwobenen Jesuitenhofes steht gegenwärtig die k. u. k. Geniedirektion und die Kriegsschule. Das weitläufige Dreihufeisenhaus mußte der Engelgasse weichen, und auch das Wasenhaus, welches durch seine Schauspielerherberge „Im Loch“ eine burleske Berühmtheit erlangte, ist in jüngster Zeit abgebrochen worden. Nur die Laimgrubengasse, die stille Theobaldgasse mit dem ehemaligen Zwangsarbeitshause, die Bienen- und Fillgradergasse, dann die Königsklostergasse mit der Bettlerstiege sind bisher verschont geblieben. Ein nicht sehr erfreuliches Ueberbleibsel aus alter Zeit ist das „Ratzenstadtl“ auf dem ehemaligen Magdalenengrund, ein unschönes Häusergewirre mit Giebeln und Vorgärten und vernachlässigten ärmlichen Behausungen, in welchen merkwürdigerweise die Würstelindustrie, eine Spezialität des Wiener Selchergewerbes, blühte.

Der Bezirk wird an der Ostseite vom Wienflusse begrenzt. Zahlreiche Brücken stellen die Verbindung mit den Bezirken Wieden und Margarethen her. In der Nähe der Leopoldsbrücke ist das geräumige „Theater an der Wien“, ein blühender Musentempel, in welchem vorzugsweise die Operette gepflegt wird und der eine stolze Vergangenheit aufzuweisen hat.

Der Bezirk Margarethen, aus den Vorstädten Margarethen, Hundsthurm, Nikolsdorf, Matzleinsdorf bestehend, ist der Sitz des Kleinbürgerthums und hat in den letzten Jahren durch Neubauten von ganzen Straßenzügen eine große Bevölkerungszunahme zu verzeichnen. – Der Bezirk Wieden wird wegen seiner Lage zunächst den Verkehrsmittelpunkten, wegen seiner neuen und bequemen Häuserviertel und der im anstoßenden Bezirke Landstraße gelegenen großen öffentlichen Gärten gerade so wie der letztgenannte Bezirk mit Vorliebe von der wohlhabenden Bevölkerung, dem Gelehrten- und höheren Beamtenstand zum Wohnorte gewählt. Die Elisabethbrücke verbindet die Wiedener Hauptstraße mit der verlängerten Kärntnerstraße. In unmittelbarer Nähe der Elisabethbrücke befindet sich ein großer offener Marktplatz für Obst, Gemüse und Geflügel, der bei den Wienern sehr volksthümliche Naschmarkt, welcher in den Morgenstunden ein bewegtes, überaus buntes und lustiges Bild des Markttreibens bietet. Hier findet man noch eine Anzahl der urwüchsigen Wiener Typen beisammen: die zungengewaltige Naschmarkt-Fratschlerin (Hökerin), die jede Neckerei mit einem bilderreichen Schwall von Grobheiten beantwortet; den Greisler (Gemischtwarenhändler) mit seinem von einem Hunde gezogenen Handwagen; den Zwiesel-Kravat (Slowaken), die Kapäunlerin (Geflügelhändlerin), den Patschen- (Pantoffel-) und Waschel- (Scheuerbüschel-) Händler, den Vogelkramer und den Vogeldresseur, welcher abgerichtete Vögel hält, die den abergläubischen [509] Dienstmädchen kleine Papierrollen mit Prophezeiungen und Nummern ziehen, u. s. f.

Die Aspernbrücke.

Gegenüber dem Naschmarkt liegt das polytechnische Institut, ein ausgedehntes Gebäude mit schöner Fassade und Giebelgruppe. Davor, inmitten eines kleinen Parkes, das Denknal Ressels, des Erfinders der Dampfschraube. Rechts davon die herrlich wirkende Karlskirche, ein prächtiger Kuppelbau von Fischer von Erlach, welcher von Karl VI. zum Andenken an die Abwendung der Pest gestiftet wurde.

Hinter der Karlskirche breitet sich ein neues, elegantes Häuserviertel aus, welches von der Allee-, Schwind-, Karls- und Gußhausgasse durchschnitten wird. Zwischen der Alleegasse und der Favoritenstraße, welche zum Süd- und Staatsbahnhofe führen, liegt der stattliche Garten des Theresianums, einer Erziehungsanstalt für Söhne des Adels. Die Grenze zwischen den Bezirken Wieden und Landstraße bildet die Heugasse, deren eine Seite von den Wirthschaftsgebäuden und der Gartenmauer des fürstlich Schwarzenbergischen Palastes, eines Prachtbaues von Fischer von Erlach, und von einem Theile des Belvederegartens begrenzt wird. Hier reiht sich überhaupt Garten an Garten: der herrliche, im englischen Stile gehaltene Schwarzenberggarten, der kleine Garten der Arcieren-Leibgarde, welche ihr Quartier auf den Rennweg hinaus hat; dann der im französischen Zopfstile angelegte, durch prächtige Gitterthore ausgezeichnete Belvederegarten, welcher vom Rennwege aus terrassenförmig emporsteigt und an seinem oberen Ende von dem durch Hilbebrand 1724 erbauten „Belvedere“ gekrönt wird. Hier hatte einst Prinz Eugen von Savoyen seinen Wohnsitz und hier waren bis vor kurzem die kostbaren Bilderschätze der sogenannten Belvederesammlung zu sehen, welche jetzt in das neue Hofmuseum übergeführt werden. Endlich folgt noch der Klostergarten der Salesianerinnen und der botanische Garten.

Schmiedeeisernes
      Gitterthor
Das Belvedere.

In der Nähe dieser Gärten entstanden auf den sogenannten Metternichschen Gründen neue prächtige Quartiere. Die Hauptverkehrsadern dieses Bezirkes sind die Landstraßer Hauptstraße und der Rennweg, welche diesen Stadttheil mit dem aufblühenden Vorort Simmering verbinden; gleich dem zehnten Bezirk Favoriten bildet Simmering den Wohnsitz einer zahlreichen Arbeiterbevölkerung, welche in dem nahen Arsenal, auf dem Süd-, Staats- und Aspangbahnhof, in der Simmeringer Waggonfabrik, dem Schlachthaus und den zahlreichen Steinmetzwerkstätten beschäftigt ist.

Das k. und k. Artillerie-Arsenal vor der Belvederelinie, ein Gebäude von gewaltiger Ausdehnung, ist von den Architekten van der Nüll und Siccardsburg entworfen, während das im maurischen Stil aufgeführte Waffenmuseum, welches einen Theil dieses Riesengebäudes bildet, von Theophil Hansen gebaut ist. Durch den sonst so stillen Rennweg bewegen sich am Nachmittag zahlreiche Leichenzüge, da er die nächste Verbindnug mit dem Centralfriedhof bildet, dem riesigen und nach Aufhebung der zahlreichen Vorort-Friedhöfe einzigen Totenfelde der Wiener.

Hinter dem ehemaligen Rasumofsky-Garten, auf dessen Fläche jetzt ein stattliches Häuserviertel erbaut ist, beginnt Erdberg, eine ärmliche Vorstadt mit urwüchsiger Bevölkerung, welche der Wiener mit Stolz zu den „enteren“ (d h. draußen liegenden) Gründen zählt. Dle Bevölkerung besteht zumeist aus Gärtnern, Wäschern und kleinen [510] Handwerkern. Hier findet man noch ganze Straßenzüge mit ärmlichen, verwahrlosten Hütten, von denen ein Wiener Gassenhauer singt:

„Wo d’ Fenster san verschmiert mit Lahm,
Is Unserans daham.“

Der Donaukanal bildet die Grenze zwischen den Bezirken Landstraße und Leopoldstadt. Er bietet, insbesondere von der mächtig wirkenden Aspernbrücke aus betrachtet, ein sehr belebtes Bild mit fesselnder Umrahmung. Links dehnt sich die stolze Häuserzeile des Franz Josefs-Quais, dann die innere Stadt mit ihren Thürmen und alterthümlichen Bauten, im Hintergrunde das Kahlengebirge. Zahlreiche Lokaldampfer vermitteln insbesondere an Renntagen den Verkehr mit dem Prater und weiter aufwärts mit Nußdorf, Klosterneuburg und Greifenstein. Rechts begrenzen die Häuserreihen der Leopoldstadt das Bild. An den Uferböschungen bietet sich ein ländlich behaglicher Anblick des Müßiggangs und der Beschaulichkeit. Geduldige Angler sitzen stundenlang unbeweglich, um immer wieder die Erfahrung zu machen, daß die Fische durch den Dampfschiffverkehr äußerst rar geworden sind. Arbeitsscheue Bursche, die der Wiener „Pülcher“ nennt, liegen ausgestreckt im Grase und lassen sich die Sonne auf den knurrenden Magen scheinen. Im Sommer gesellt sich noch eine eigenthümliche Berufsklasse dazu, die „Pudelscherer“, welche ihre Opfer zwischen den Knieen halten und sie behutsam mit der Schere von ihrem lästigen Vließ befreien.

Der Bezirk Leopoldstadt, ehemals der Sitz der Kaufmannschaft, hat durch deren theilweise Uebersiedlung auf den Franz Josefs-Quai viel von seiner ehemaligen Bedeutung eingebüßt. Dies und der Umstand, daß an die Leopoldstadt keine bevölkerten Vororte stoßen, ist die Ursache, daß Unternehmungen wie das Karltheater und die großen, ehemals sehr besuchten Gasthöfe mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Nordbahn und Nordwestbahn, welche in diesem Bezirke münden, bringen allerdings einen bedeutenden Fremdenzufluß; aber der Verkehr aus Ungarn, welchen früher die Nordbahn ausschließlich vermittelte, ist durch die Staatsbahnlinie zum großen Theile auf den Bezirk Wieden abgelenkt worden. Man hofft indessen von der neu errichteten Fruchtbörse einigermaßen einen Ersatz für die erwachsenen Schäden.

Die Hauptverkehrsader der Leopoldstadt, die Praterstraße, ist von den erwähnten Nachtheilen am wenigsten betroffen worden. Sie verdankt dies dem ausgedehnten Verkehr, welcher sich dort an schönen Sommertagen nach dem Prater, dem großartigsten und beliebtesten Vergnügungsorte des Wieners, entwickelt. An Sonntagnachmittagen bilden die ungeheuren sich überall stauenden Menschenmassen, die ununterbrochene Wagenreihe, der riesige Straßenbahnverkehr zwischen der Aspernbrücke und dem Tegetthoff-Denkmal einen wahrhaft weltstädtischen Anblick. Die Leopoldstadt besitzt außerdem einen zweiten Park, den Augarten, welcher noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts das Stelldichein der vornehmen Welt gebildet hat. Hier hielt Wolfgang Amadeus Mozart seine berühmten Morgenkonzerte ab, welche dann von anderen bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts fortgesetzt wurden. Allein gegenwärtig ist der schöne Park vereinsamt, und nur die zahlreichen Nachtigallen setzen zu ihrem Privatvergnügen die stolzen Ueberlieferungen dieses von den Klängen Mozartscher Melodien geweihten Naturtempels fort.

Eine ähnliche musikalische Erinnerung knüpft sich an das Gasthaus „zum wällischen Bauer“ in der Praterstraße, das unter anderem Namen heute noch besteht. Auf seinem ziemlich geräumigen Vorplatze haben Strauß und Lanner mit den beiden Brüdern Drahanek ihre ersten musikalischen Lorbeeren gepflückt. Hier saßen sie auf einer schmucklosen Tribüne, fiedelten ihre Weisen, welche später die Welt eroberten, und Johann Strauß, der ältere, damals ein Jüngling von 17 Jahren, ging nach den Stücken mit dem Teller von Tisch zu Tisch zum Einsammeln. Einige Jahrzehnte später spielte er am Hofe Louis Philipps, umjubelt und gefeiert von der ganzen französischen Gesellschaft.

Am rechten Ufer der neueingedämmten Donau sind die Häuserparzellen der in Aussicht genommenen Donaustadt abgesteckt, von der man hoffte, daß sie sich in kurzem zu einem Fabriks- und Handelsmittelpunkt entwickeln werde. Die hochgespannten Erwartungen sind aber nicht in Erfüllung gegangen. Still und einsam wie ein modernes Dornröschen liegen die Ufer des mächtigen Stromes, in tiefem Schlafe liegen die kühnen Entwürfe da und harren des Ritters, der sie dereinst wecken wird zu schönerem Leben.

Auch der Bezirk Alsergrund hat durch die Stadterweiterung eine gründliche Umwandlung erfahren; Thuri und Liechtenthal, diese urwüchsigsten unter den „enteren Gründen“, sind mit ihren niederen Häusern und engen Gäßchen stark zurückgetreten und haben stattlichen Straßenzügen Platz gemacht. Das Häuserviertel hinter dem Schottenring, der herrliche Votivkirchenplatz, die belebte Nußdorfer- und Währingerstraße, der Liechtensteinpark machen diesen Stadtteil zu einem bevorzugten Wohnort der wohlhabenderen Klassen. Ein ungeheures Gebiet von der Ausdehnung eines ganzen Stadtteils dient hier den öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten. Fast unmittelbar neben einander liegen: das allgemeine Krankenhaus, die Gebäranstalt, das Garnisonsspital, die Bürger- und Armenversorgungsanstalten und die niederösterreichische Irrenanstalt; letztere ein stattliches, nach den heutigen Anforderungen eingerichtetes Gebäude mit einem großen prachtvollen Garten. An den Kliniken des allgemeinen Krankenhauses, sowie in den Lehrsälen wirken Männer von europäischem Rufe zum Heile der leidenden Menschheit.

Die Bezirke Josefstadt und Neubau gehören zu den ältesten Wohnsitzen des bürgerlichen Mittelstandes und der mannigfachsten Fabrikationszweige. Hier hat sich noch zum großen Theile das Bild des vorstädtischen Lebens erhalten. Die engen Gäßchen um die ehemaligen Vorstädte St. Ulrich, Neustift und Spittelberg haben noch ganz das Gepräge der vormärzlichen Zeit. In andere Theile des Bezirkes hat freilich die Baulust schon Bresche gelegt und Licht und neues Leben in die steinernen Zeugen ehemaliger Enge gebracht. Von öffentlichen Gebäuden in der Josefstadt müssen erwähnt werden das massive festungsartige Gebäude des Landesgerichts mit geböschten Mauern und vergitterten Fenstern, die Hochschule für Bodenkultur, das Gebäude der geographischen Gesellschaft, das Palais Auersperg und die umfangreiche Reiterkaserne.

Unmittelbar anschließend an die westlichen und südlichen Bezirke dehnen sich die reichbevölkerten Vororte Döbling, Währing, Hernals, Ottakring, Neulerchenfeld, Fünfhaus, Sechshaus, Rudolfsheim, Gaudenzdorf, Meidling aus. Sie waren bisher durch den Linienwall vom übrigen Stadtgebiete getrennt und galten noch als Landgemeinden, hatten aber schon den Umfang großer Städte von nahezu 100 000 Einwohnern. Wegen der billigeren Lebensverhältnisse wurden sie nicht nur von der Arbeiterbevölkerung, sondern auch von der Beamtenschaft gerne zum Wohnsitze gewählt. Der Verbrauch in den Vororten war ein ungeheurer, da die Lebensmittel durch den Wegfall der Verzehrsteuer sich beträchtlich billiger stellten als im Stadtgebiete. Die ärmere Bevölkerung und der Mittelstand suchten daher gerne die Wirthschaften der Vororte auf, wo sie mit Kind und Kegel um ein bedeutendes billiger leben konnten. In Neulerchenfeld, Hernals, Währing, Weinhaus, Nußdorf, Grinzing, Sievering stehen zahlreiche große und kleine Wirthschaften, wo sich das Volk bei einem guten Tropfen und beim Klang der Fiedel oder den Späßen der Volkssänger gütlich thut. Der „Heurige“ (junge Wein) bringt das leicht erregbare Blut des Wieners schnell in Wallung und erzeugt jene Stimmung, welche die Sorgen des Tages auslöscht und das Leben in rosigem Lichte zeigt. Der Wiener wird in dieser Stimmung nicht nur nachsichtig gegen sich selbst, sondern gesprächig und gemüthsweich, so daß er die ganze Welt umarmen möchte. Trotz der schweren Köpfe kommt es nur selten zu groben Ausschreitungen; jeder Mißton wird mit einem Witz hinweggescherzt. In solchen Augenblicken hört die Welt auf, für den Wiener ein Jammterthal zu sein.

„I bin jetzt in Himmel,
Da braucht ma ka G’wand,“

jauchzt der leichtsinnige Arbeiter, der seinen ganzen Wochenlohn verjubelt und auch den Rock dem Wirthe läßt, um mit dem Erlöse seine Zechgenossen freizuhalten.

Letzteres bildet übrigens glücklicherweise nur eine Ausnahme. Die große Mehrzahl geht nicht soweit in ihrer Lustigkeit, sondern begnügt sich, wie eine große Familie in fröhlichem Geplauder beisammen zu sitzen und, nachdem bei den ersten Gläsern über den Gemeinderath, die Straßenbahn, Wasserleitung, Gasbeleuchtung, über das städtische Pflaster und den Miethzins, über die Schulen und die unerschwinglichen Steuern weidlich losgezogen wurde, bei [511] den folgenden Gläsern die „liebe Weanastadt“ als den schönsten Fleck Erde zu feiern und den „Weaner“ als das Meisterstück der Schöpfung zu preisen, der das beste Gemüth besitzt, denn:

„’S Herz von an’ echten Weana,
Da kann ma no ’was lerna“

spielen ihnen die „Schrammeln“ vor, das geschätzteste Volksquartett, das sich auch in hohen Kreisen großer Beliebtheit erfreut, und der „Xandl“ singt es ihnen vor und der „Baron Schan’“ pfeift es ihnen vor; und der „Hungerl“ und der „Bratfisch“, die Volksbarden unter den Fiakern, fügen neues Lob in neuen Tonarten hinzu und versichern ihre Zuhörer, daß der Wiener keinen Grund hat, den Kopf hängen zu lassen:

„Immer lustig, fesch und munter,
Denn der Weana geht net unter.“

Wirklich ist auch seine Natur so geartet, daß er selbst ohne klassische Bildung stets ein gut Stück dichterischer Empfindung in seinem Gemüthe trägt. Uebermüthig rühmt das Volkslied:

„Das hat ka Goethe geschrieben, das hat ka Schiller ’dicht’,
’s is von kan’ Klassiker, von kan’ Genie.
Das is a Weana, der zu aner Weanerin spricht,
Und klingt halt doch wie lauter Poesie.“

Mit dem stolzen Gefühl, den übrigen Völkern als Muster der Vollkommenheit voranzuleuchten, kann man sich dann beruhigt der lautesten Fröhlichkeit hingeben.

Die großen Wirthschaftsanwesen, „Gschwandner“, „Stahlener“, „Mandl“, „Tökes“, die „Waldschnepfe“ in Dornbach und die ungezählten Heurigenschenken in den westlichen Ortschaften sind denn auch an Sonntagen von einer lustigen Menge überfüllt. Obwohl in den meisten Wirthschaften warme Speisen oder wenigstens „heiße Würstel“ verabreicht werden, bringen doch viele Wurst oder kaltes Geflügel mit. Hausierer bieten zum Weine süßes Backwerk oder sogenannte „Korsikanerln“ an, alte Weiber spielen Riesenkipfel aus, der „Gotscheeber“ (Südfrüchtehändler) verlost seine Ware mit dem beliebten Spiele „Grad oder Ungrad“; Blumenmädchen, Zündhölzchenjungen, Kurzwarenhändler gehen von Tisch zu Tisch – alles will leben und alles lebt.

Sind die Vororte einerseits der Sitz der lautesten und urwüchsigsten Fröhlichkeit, so sind sie andererseits auch eine Stätte des Gewerbefleißes und zahlreicher Industrien. In Währing ist außerdem ein anmuthiges Villenviertel mit reizenden Landhäusern und freundlichen Gärten entstanden. Döbling und Heiligenstadt, Weinhaus, Gersthof, Pötzleinsdorf, Hietzing, Lainz, Speising dienen auch als Sommerfrischen.

Mit dem jüngst beschlossenen Falle der Linienwälle tritt die Entwicklung des ganzen großen Stadtgebietes in einen neuen Abschnitt ein. Die frühere Gemeinde Wien wird dadurch einen Bevölkerungszuwachs von nahezu einer halben Million erhalten. Das neue Verbrauchsteuergebiet wird fast sämmtliche im bisherigen Polizeirayon inbegriffenen Vororte und Landgemeinden enthalten. Große, weit ausschauende Pläne gehen mit dieser lang ersehnten Veränderung ihrer Verwirklichung entgegen. Der Bau einer Stadtbahn, die Ueberwölbung des Wienflusses, die Verlegung der Kasernen, die Ueberbauung der Linienwallstrecken – das alles soll möglichst bald in Angriff genommen werden. Man erhofft von diesen Unternehmungen eine großartige Blüthe der Baugewerbe, einen neuen wirthschaftlichen Aufschwung und damit die Heilung der Wunden, welche ungünstige Umstände politischer und wirthschaftlicher Art dem großen Gemeinwesen geschlagen haben.