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Was die Schaufenster sind etc.

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Heinrich Beta
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Titel: Was die Schaufenster sind etc.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 7–8
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Lebens- und Verkehrsbilder aus London
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Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

Von Heinrich Beta in London.
Was die Schaufenster sind. – Folgen der Schlacht von Waterloo. – Blücher’s Urtheil über London. – Heller Tag bei Nacht. – Ein Prachtladen. – Vor funfzig Jahren und jetzt. – Die Kosten eines Gewölbes und das Budget eines deutschen Fürstenthums. – Gaunerei in Läden. Die Schattenseiten eines freien Handels und Wandels.

Schaufenster und Läden sind Titelblätter und Inhaltsverzeichnisse einer ganzen Cultur. In London, wo die Blüthen und Früchte der Cultur aller Nationen der Erde am Dichtesten zusammenströmen, vertreten sie, wie eine immerwährende, erweiterte Ausstellung die höchste Gesammt-Civilisation der Erde. Man braucht nicht in Bibliotheken und Museen diese Bücher durchzustudiren, nicht Reisen um die Erde zu machen, um die Welt kennen zu lernen und Weisheit zu sammeln; wer diese offenen Bücher in verständlicher Sprache und redenden Bildern zu lesen und sehen versteht, weiß bald in der ganzen Welt Bescheid. Welche Wunder des Fleißes und der Geschicklichkeit, der Entdeckung und Erfindung, der Kunst und Wissenschaft, des Wohlstandes und Reichthums, des Muthes und der Kühnheit, der Arbeit und Ausdauer, von Gefahren und Erfolgen. Was auch die Kunst Rühmliches, die Wissenschaft Stolzes schuf, das Schaufenster stellt es offen hin vor alle Welt. Im Schaufenster zu prangen, ist die höchste Spitze des Ruhms und des Lohnes, den ein Unternehmen, ein Verdienst erreichen kann. Für das Schaufenster, für den Ladenbesitzer pflügt das Schiff des Meeres den Ocean und „das Schiff der Wüste“, das Kameel die Sandmeere Afrika’s; für das Schaufenster steigt die Wissenschaft über die Wolken und die Industrie in die Schachten; der indische Taucher holt ihm Perlen aus dem Meeresgrunde und der Mexikaner Erze aus ungeheuren Klüften; für den Ladenbesitzer ächzt und kämpft die Dampfmaschine athemlos über Fluthen und Gebirge, für ihn ist der Blitz des Zeus Briefträger und die Sonne des Himmels Lithograph geworden. Das Schaufenster und der Laden zeigen allen Ständen und Klassen, ohne Ansehen der Person, in der gefälligsten, verständlichsten Form, was die einzelnen Arbeitsklassen, was eine Nation, was die Welt werth ist, was sie gethan hat, thut, will und kann, um es der Menschheit bequem, angenehm und „comfortable“ auf der Erde zu machen. Sie zeigen mit einem Blicke, auf einem einzigen Spaziergange, wie weit es der Mensch in Ueberwindung der Natur, in Vergeistigung, Veredelung und Schönheit ihrer rohen Kräfte und Materialien gebracht hat.

Die Engländer waren von jeher am Liebsten Handelsleute und Krämer, doch erst der neuern und neuesten Zeit, welche Waaren, Geschmack und Geschick vom Continente dazu herüberschaffte, blieb es vorbehalten, eine ganz neue Wissenschaft und Kunst des Ladenhandels auszubilden. Das neue Laden-London entstand erst nach der Schlacht bei Waterloo, nach Erfindung der Gasbeleuchtung und der Spiegelscheiben und mit dem Fortschreiten auf der Bahn des Freihandels. Die deutschen und französischen Kunst-Industrie-Schöpfungen findet man am Schönsten und Massenhaftesten in London. Von ihnen lernten die Engländer Geschmack, mit ihnen machten sie Geld genug, um ihnen geschmackvolle, prächtige Tempel zu bauen.

Wer Cheapside, Strand, Oxfort- oder Regentstreet seit 30 Jahren heute wieder zum ersten Male sähe, würde keinen einzigen Vergleichspunkt mehr herausfinden. Man stelle den Vergleich bei „Lichte“ an. Damals schmuzige, löcherige, lebens- und taschengefährliche Straßen, aus deren spärlichen, schmuzigen Schaufenstern einige kurzsichtige Oellampen oder Talglichter sich vergebens anstrengten, nur die Finsterniß etwas sichtbar zu machen; die Ladenthür geschlossen und nur vorsichtig auf besonderes Klingeln geöffnet. Alles todt und trübe, nur Leben in den knarrenden, quiekenden Ungeheuern von Schilden und Symbolen, die im Winde oben geisterhaft auf das trübe Licht herabdrohten. So sah’s noch aus in dem Jahre, als bei Waterloo gefochten ward, so sah es Blücher, der beim ersten Anblick London’s ausrief,: „Jott, wat eene prächtige Stadt vor’s Plündern!“

Und jetzt? Jetzt verkündet die sinkende Sonne den anbrechenden Tag. Solch ein Licht, wie die Gasflammen der großen Klein-Industrie bis in die engsten Straßenwinkel verbreiten, gelingt der Sonne in London nicht am heitersten Sommertage. Breite, fließende Ströme des Lichts lodern oft hundertweise in den engsten Straßen und züngeln und flimmern um solche Massen aufgebauter und aufgeschichteter Vorräthe aller möglichen Art und Abkunft herum, daß man glaubt, selbst London könne dies nicht Alles vertilgen. Nur eine große unsichtbare Krystall-Wand trennt den barfüßigen, zerlumpten Kreuzfeger, der die Straßenübergänge kehrt, von den kostbarsten Schätzen dahinter, und er würde sich wenigstens die Nase an den Spiegelscheiben platt drücken, wenn nicht massive Metall-Barren ihm ein ehrerbietiges Halt zuriefen.

In Fleetstreet ist jetzt ein Rahmen- und Spiegelladen vollendet worden, dessen zwei untere Stockwerke von Spiegelscheiben bestehen, welche je nur Eine Scheibe bilden. Gehen wir in einen dieser Prachtläden, so sieht man nach Oben und in der Perspektive oft kein Ende. Ueber den Galerien oben wölben sich Himmelslichter (Fenster im Dache oben) und an den Zahltischen hin haben wir schon 80 Diener auf einmal beschäftigt gesehen. In Tottenham Court Road sind in einem Schnittwaarengeschäfte über 200 Diener beschäftigt. Am Eingange empfängt uns ein Ceremonienmeister mit weißem Halstuche und ganz neuen Handschuhen und führt uns in dem Labyrinthe von Waaren just zu dem Orte, wo wir für 1 Schilling 6 C. oder 2 Schilling 101/2 C. ein Paar Handschuhe und das Kupfer in einem eleganten Enveloppe zurück bekommen, damit wir unsere Finger nicht durch Berührung des gemeinen Metalles zu entweihen brauchen. Auf dem Wege in diesem Laden treten wir geisterhaft, ungehört auf die weiche, bunte Wiese eines Teppichs, dessen zarte Halme bei jedem Tritte einsinken, wie junges Gras, und unser eigenes Bild begleitet uns oft von beiden Seiten und wundert sich aus den großen Spiegeln heraus über unsere Thorheit, daß wir hier beim Kauf von ein Paar Handschuhen alle diese Pracht mit bezahlen helfen. Warum gehen wir nicht in eine, oft dicht angrenzende, wohlfeile Gegend? Wir können’s, nur der Mann und die Frau und die Tochter der hohen Gesellschaft, welche mit Pferden und gepuderten Dienern vorfahren, können und dürfen es nicht und wollen es nicht: sie wollen den Vorzug haben, den doppelten Preis für Alles zu zahlen, um selbst im öffentlichen Laden mit keinem Menschen ohne Geburt und Geld zusammen zu treffen.

Noch vor 50 Jahren waren die meisten Läden kleine, gemüthliche Kramläden, die ihren Mann ernährten und beschäftigten und nicht mehr, und dabei betrug die Zahl derselben kaum den vierten Theil. Jetzt sind viele in Regent-, Oxford-, Fleetstreet, St. Paul Church Yard u. s. w. jeder eine Welt, eine kleine Stadt für sich. Mancher einzige Laden ernährt 100 Familien in ihren eigenen Häusern draußen vor der Stadt, von wo die Diener Morgens hereingefahren kommen. Ein einziger Theeladen in Ludgatehill schickt alle Morgen 20 beladene Wagen hinweg, lauter Pfunde, Viertelpfunde, sogar Lothe, die den Kunden alle einzeln vor’s Haus gefahren und fein gepackt überliefert werden. Manch einzelner Laden füllt 5 – 6 Häuser neben und hinter einander und der Eigenthümer hat noch andere Geschäfte in andern Stadttheilen und 50 – 60 – 100 in andern Städten Englands. Solcher Gliederungen einzelner Detailgeschäfte durch das ganze Land, oft mit Filialen in den Colonien und in Amerika oder China giebt’s in großer Menge. Ein Laden in Lombardstreet mit lauter chinesischen Artikeln beschäftigt in Kanton Hunderte von Menschen für seine alleinige Rechnung. Der Unterschied zwischen Engros- und Detailgeschäft, einst so scharf geschieden und durch besondere Gesetze getrennt gehalten, verschwindet in diesen Tagen mit zunehmender Geschwindigkeit. Schon die große Firma „Dombey und Sohn“ vereinigte Beides. Eben so übermächtigen die großen Detailgeschäfte zusehends die Reste kleiner Kramläden, die mit eigenem Fleiße und Capitale sich zu nähren suchen. Das mächtige Capital tritt auch hier immer gewaltiger in Association auf, und Beschaffung von Rohmaterialen, drei- bis zehnfache Veredelung und Verarbeitung derselben und deren Verkauf [8] im Ganzen und Einzelnen wird oft von einer einzigen Capitalisten-Gesellschaft betrieben. Die Brauer von London lassen Dreiviertel der Bierlokale auf eigne Rechnung betreiben, außerdem gehört ihnen schon eine ganz große Zeitung, der Morning-Advertiser.

Diese monopolisirende Macht des associirten Capitals erklärt zum großen Theile das Zusammensinken der vielen Mittelleute und deren massenhafte Auswanderung, eben so das gewaltige Fieber der Arbeitseinstellungen. Es ist ein Bürgerkrieg des Arbeits-Capitals mit dem associirten und monopolisirten des Geldes und Credites.

Gegen die vereinigte Macht des Detail- und Engros-Geschäfts giebt es keine Macht mehr, weil sich in ihnen der Gewinn beider Geschäftsarten ohne Mittelspersonen vereinigt. Dem Käufer kommt dies einstweilen zu Gute, denn er hat blos einen Profit zu zahlen. Freilich, wenn sich das Monopol erst seiner bewußt wird, schröpft es die Leute in der Regel um so ärger. Dabei ist die Ladenmiethe mit jedem Jahre so bedeutend gestiegen, daß der Käufer mit jedem Schritte in ein solches Geschäft bedeutend dazu beitragen muß. Mancher Laden in London kostet mehr, als das ganze Budget eines deutschen Fürstenthums austrägt. Er kostet täglich mehr, als den ganzen Jahrgehalt eines gut situirten Schulmeisters. Um in einen guten Laden nur hineinzukommen, sind schon 2000 Pfund oder 14000 Thaler bezahlt worden. Ich denke hier an ein ganz bestimmtes Beispiel: es war ein bloßer Bilderladen. Aber bei aller Theurung und den massenhaften Abgaben, die auf Häusern und Läden liegen, steigt doch der Begehr und Preis letzterer seit 20 Jahren ununterbrochen fort, weil die Vortheile vielleicht noch im höhern Grade steigen, als der Preis und die darauf ruhenden Kosten – denn der Londoner Ladenbesitzer wohnt nicht nur mitten unter 21/2 Millionen Menschen, die alle gern kaufen, sondern auch in der Stadt, wo für alle Welt gekauft und gearbeitet wird und die ganze Aristokratie Englands mit ihren Millionen alle Jahre 5–6 Monate wohnt und halb England zu Wasser und zu Lande herbeieilt, um hier einzukaufen. So strömt ein ununterbrochener Fluß baaren Geldes stets über seinen Zahltisch: er giebt und bekommt keinen Credit. In der Provinz hat der Ladenbesitzer bestimmte Kunden, die bald Credit verlangen und haben müssen und von denen alle Jahre so und so viel durchgehen. Das kennt man in Londoner Läden nicht. Immer mit einer Hand das Geld, mit der andern die Waare. Blos Bäcker, Fleischer und Schneider geben gut situirten Familien Credit, außerdem die großen Detail-Geschäfte für die Aristokratie in Regent- und New-Bondstreet u. s. w., welche warten müssen, bis es dem Lord oder der Lady einfällt, nach der Rechnung zu fragen. Auf die geringste Mahnung würde die ganze „Klike“ wegbleiben. Wer’s da aushalten kann, ist in 7–10 Jahren ein gemachter Mann. Die kleineren Capitalisten gehen dabei natürlich zu Grunde. Oft hat schon Dieser und Jener einen Schein-Bankerott gemacht und seine schweren Aristokratie-Rechnungen einem Freunde zum Einkassieren übergeben, um selbst nicht zu mahnen.

Im Ganzen strömen aber immer fremde Leute in den Läden aus und ein, die stets baar bezahlen.

Mit der Wohlthat, keine Kunden, also auch keine schlechten auf Rechnung, sondern immer mit Fremden gegen baar zu thun zu haben, hängt freilich auch ein nicht unbedeutender Uebelstand zusammen. Es bilden sich in verschiedenen Hauptverkehrsstraßen Banden von Gaunern mit Läden, in denen nach den Anzeigen in den Zeitungen ganz besondere, unerhörte, kostbare Dinge, besonders für das schöne Geschlecht, zu haben sind. Eva’s Geschlecht ist neugierig. So nimmt manche Lady ihren Muff und ihren Hut und sucht den Laden auf. Hier wird ihr auf die mannichfaltigste Weise das Geld abgeschwindelt, wenn sie nicht gradezu beraubt wird. Wälder giebt’s nicht mehr für Räuber; so setzen sie sich in Läden oder wohl gar in große Kutschen und treiben ihr Geschäft unter gebildeten Menschen, oft in den besten Zirkeln. Ich kann hier die Gaunereien in und mit Läden nicht detailiren. Deren Art und Geschäft ist Legion. Nur der Curiosität wegen, daß sich unlängst ein Laden blos damit abgab, den Damen, die als Kunden herbeikamen, die Muffs wegzunehmen und sie in’s Schaufenster zum wohlfeilen Verkauf auszuhängen. Solche Gaunerstreiche passiren natürlich immer unter vier Augen. Das Gesetz kann ihnen nicht beikommen. Und wenn sie an einem Ende der Stadt entlarvt sind, setzen sie sich am andern Ende unter anderm Namen und so fort. London besteht aus 30–40 Städten. Sie werden reich, ehe sie überall entlarvt sind. Die verschienen Klassen der Gesellschaft stehen nicht in der geringsten Verbindung, so daß, wenn 100 Leute in der Tausendpfundklasse betrogen sind, noch alle Hundert in der Funfzehnhundertschicht übrig bleiben. Das Pfennig- und Gimpel-Fang-System hat hier auch bessere Gimpel und Gelegenheiten, als in den Hauptstädten anderer großen Länder. Die einzelnen abgeschlossenen Kasten Englands sind im Ganzen viel bornirter, als die mehr durcheinander fließenden Gesellschaften in Paris oder Berlin. Die Massen sind dabei fabelhaft leicht- und abergläubisch. Ein Mann, der einmal ankündigte, wer ihm 5 Schillinge einschicke, könne sich dadurch eine Leibrente von 100 Pfund sichern, bekam von der Post in Geld-Aufträgen über 800 Pfund ausgezahlt, wie wenigstens in den Hansehold-words versichert wird.

Das sind die Schattenseiten eines großen, freien, uncontrollirten Handels und Wandels. Unter strenger polizeilicher und gewerberäthlicher Aufsicht würde vielleicht die Gaunerei nicht so großartig betrieben werden, dann aber auch nicht Industrie, Handel und Wandel. Gegen Betrug kann und muß sich Jeder selbst schützen. „Niemand wird betrogen, Jeder betrügt sich selbst.“ Die Betrogenen sind Schuld, daß es Betrüger giebt. Vor den Folgen der Beschränkung, des Zwanges, der Gewerbegesetze kann sich Niemand schützen; deshalb haben sich die Engländer alle diese väterliche Fürsorge vom Halse geschafft und sind dadurch die Kassirer, Wechsler, Schiffer, Käufer und Verkäufer der ganzen civilisirten Erde geworden. Kein Volk hat solche Titelblätter und Inhaltsverzeichnisse, keins solchen Inhalt.