Was ist „Stil“

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Autor: Friedrich Offermann
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Titel: Was ist „Stil“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 211–212
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Was ist „Stil“?

Von Friedrich Offermann.


Zu den beliebtesten Schlagworten unserer Zeit, die allerorten, wo von Kunst die Rede ist, herüber und hinüber fliegen, gehört unstreitig das Wörtchen „Stil“.

Wenn man nicht unzutreffend von Personen sagt, daß sie die Eigenschaften, die sie immer im Munde führen, gewöhnlich nicht besitzen, so hieße das, auf die Gegenwart angewendet, daß ihr der Stil im ganzen fehlt – eine Behauptung, die leider kaum bewiesen zu werden braucht. Da darf es denn ganz und gar nicht wunder nehmen, daß man sich im allgemeinen nur höchst unklare Vorstellungen von der Bedeutung dieses Wortes macht, umsomehr, als man es von Eingeweihten auf die anscheinend verschiedenartigsten Dinge und Beziehungen angewendet sieht. Es dürfte also recht nützlich sein, einmal festzustellen, was denn nun eigentlich darunter zu verstehen ist, ja, wenn möglich, einen Zusammenhang zu finden unter den mancherlei Erscheinungsgruppen, die als „Stil“ bezeichnet werden.

Wie es die Zeit der stilvollen, besser stilgemäßen Einrichtungen mit sich bringt, welche äußerlich nachgeahmte Erzeugnisse vergangener Jahrhunderte in eine gänzlich veränderte Umgebung setzt, wird das Wort zumeist nur im niedrigsten Sinne verwendet. Man spricht von romanischem, gothischem und Renaissancestil und glaubt, daß man seine Bedeutung erfaßt habe, wenn man einen vom andern unterscheiden kann. „Stil“ heißt in diesem Sinne kurz der Geschmack und die Formenausdrucksweise eines gewissen Zeitabschnitts oder Volkes, eine Erklärung, die besonders auf Architektur und Kunstgewerbe zu beziehen ist. Sie ist leicht gegeben und leicht zu behalten, weil sie oberflächlich ist und mit dem eigentlichen Stil durchaus nichts zu thun hat. Mehr in das Wesen desselben führt uns schon ein anderer Ausdruck. Die Kunsthandwerker des 16. Jahrhunderts z. B. haben nämlich auch ihren Stil gehabt. Der bestand aber nicht nur in einer besonderen Formenausdrucksweise, das heißt darin, daß sie dies und jenes Blattwerk so und so behandelten oder die Gliederungen ihrer Architekturen anders gestalteten als andere. Das war ihnen selbstverständlich und wird nur von uns, die wir das Ganze übersehen können, schlechthin als Stil bezeichnet. Ihr Kunsthandwerk war vielmehr deswegen groß, weil seine Erzeugnisse den Zweck, dem sie dienen sollten, in schöner, harmonischer Weise zum Ausdruck brachten, und damit kommen wir zur tiefern Bedeutung des Stilbegriffs. Was hier gesagt wurde, gilt natürlich keineswegs allein von der Renaissance, sondern nicht minder von andern Epochen. Sehen wir uns z. B. eine antike Säule an! In pulsirendem Leben erhebt sie sich von der Basis, die breiter ausladend ihr einen festen sichern Stand giebt. Sie schwillt an in der Mitte, strotzend von Gesundheit, verengert sich dann oben wieder, gleichsam ihre ganze Kraft zusammennehmend, und trifft nun mit dem Kapitell, dessen reicher Schmuck straff nach oben schießend noch mit tragen hilft, auf das schwer lastende Architekturglied: eine herrliche Vereinigung von Zweckmäßigkeit und Schönheit. Ein einfacher Wasserkrug, eine schlichte thönerne Vase, die sich auf schlankem Fuß in satter Schwellung rundet und oben knapp wieder zusammenschließt, mit lustig geschwungenen Henkeln daran, was sind sie anders als der lebendigste Ausdruck des echten Stilprinzips: dem Auge eine Freude, dem Verstande Zweckmäßigkeit. So soll uns die Säule sagen: ich trage sicher, was dich zerschmettern könnte, der Krug: ich halte zusammen, was auseinander will, der Stuhl: laß dich nieder, ich stütze dich, und alle sollen es zugleich schön sagen. Die Dinge müssen, mit einem Wort, im Sinne der Natur geschaffen sein, dann sind sie stilgemäß, müssen übereinstimmen in Form und Inhalt, müssen so sein, als wären sie gewachsen: organisch lebendig. Nun wird aber der Baum aus festem Holze eine andere Bauart haben als der aus biegsamem. So tritt denn zu unserer Erklärung: Stil ist künstlerisch verklärte Zweckmäßigkeit, die Bedingung hinzu: und verlangt, daß ein Gegenstand zugleich die besonderen Eigenschaften des Stoffes erkennen lasse, aus dem er geschaffen wurde. Das heißt eine Säule aus Eisen muß nothwendig anders geartet sein als eine solche aus Stein. Für den Wissenden wird das im Vorhergesagten enthalten sein; dem Laien kann es nicht oft und klar genug gesagt werden.

Es ist nicht die Aufgabe einer kurzen Uebersicht, alles zu erschöpfen, was sich hierüber noch aufdrängt. Wer den Sinn des Vorstehenden richtig erfaßt hat, dem wird es ein Leichtes sein, sich selbständig an hundert Beispielen von der Richtigkeit zu überzeugen.

Wie gesagt, werden die genannten beiden Stilbegriffe zumeist in Architektur und Kunstgewerbe angewendet. Ein dritter neuer gilt sonderlich von den bildenden Künsten, Malerei und Plastik. So sagen wir von einem groß aufgefaßten Bildwerk – einer Landschaft beispielsweise vom älteren Preller oder einem Figurenbilde des Cornelius – sie seien „stilisirt“. Was heißt das hier? Worin liegt hier der „Stil“?

Was an allen diesen Werken zunächst und hauptsächlich in die Augen springt, ist, daß sie niemals mit Kunstleistungen verwechselt werden können, die sich unmittelbare Naturnachahmung zur Aufgabe stellen. Wir vermissen an ihnen zahlreiche Einzelheiten, die wir in der uns umgebenden Natur wahrnehmen. Am Bildwerk scheint das vielgestaltige Spiel der Muskeln nach einem großen ruhigen Schema vereinfacht und geklärt. Wir empfinden das Ganze als etwas, das nicht alle Bedingungen der uns bekannten Natur erfüllt und doch keine Lüge ist. In der Landschaft, die wir gern „heroisch“ nennen, sehen wir in Baumschlag, Wolken, Gelände oder Felsen überall eine Summe von Einzelheiten zu charakteristischen Gruppen oder Massen zusammengezogen. Wir erkennen die Bäume als Eichen, Pinien oder Pappeln, haben aber doch den Eindruck, als wären sie einfacher, größer, als sie uns die Wirklichkeit zeigt. Die schäumende Brandung selbst in ihrer immer wechselnden Gestalt wird auf einfachere Formen zurückgeführt. Wir können demnach in diesem Falle kurz sagen: Stil ist Weglassen des Unwesentlichen! Das ist jedoch mehr ein Merkmal als eine Erklärung des Stils.

Weswegen „stilisirt“ denn nun der Künstler eigentlich? Man könnte sagen: er giebt auf diese Weise seine besondere Anschauung von der Welt zu erkennen, und demnach wäre also Stil die persönliche künstlerische Auffassung, die jemand von der Welt hat, oder die Art, wie sich die Schöpfung in seiner Seele spiegelt. Die Ursache, warum es so ist, haben wir damit aber immer noch nicht.

Der Künstler modellirt, malt oder zeichnet keineswegs zufällig, wie er’s thut, sondern er ist sich wohl bewußt, daß er in manchen Dingen von der Natur abweicht.

Thut er das denn aber auch wirklich? Anscheinend ja – und vielleicht doch nicht! Er weicht nämlich wohl sehr oft von der Wirklichkeit ab, nicht aber von der Natur im höhern Sinne. Denken wir einmal, ein Bildhauer wolle eine männliche Figur, einen Adam oder dergleichen, modelliren. Er sieht sich nach Modellen um und findet am Ende auch eine ganze Anzahl. Aber ach, das eine hat schöne Arme und kräftig entwickelten Oberkörper, dabei aber ziemlich verkümmerte Beine; das andere ist durchweg recht gut gewachsen, hat aber einen kurzen Nacken und dicke plumpe Gelenke; bei dem dritten endlich sind die sonst guten Formen von Fettpolstern bedeckt u. s. f. Kurz, er findet nirgends alles beieinander, was er sich wünscht. Nähme er nun gleichwohl das verhältnißmäßig beste und arbeitete danach, hätte er dann Natur vor sich? Nein! Die Natur ist eben im Individuum von tausend [212] Zufälligkeiten in ihrer freien Entwicklung gehemmt worden. Wollen wir ihre Absichten erkennen, so müssen wir sie aus der Summe vieler Einzelerscheinungen herauszulesen suchen, müssen das Wahre vom Zufälligen unterscheiden lernen.

So lebt in unserem Künstler das Bild eines Menschen, wie er sein würde, wenn alle Umstände glücklich zusammenträfen. Nach diesem trägt er die Schönheiten, die er einzeln in der Wirklichkeit vorfindet, zusammen. Er sieht bei dem einen ein Hautfältchen, das bei dem andern fehlt, und sagt sich danach: es ist nicht wesentlich, lassen wir es fort – er „stilisirt“! Wo sich die Natur einmal uneingeschränkt offenbaren kann, da wird sie denn auch beinahe wirken wie ein stilisirtes Kunstwerk. Vollendet schöne Menschen, wie man ihnen vielleicht noch hier und da in Italien begegnen kann, oder antike Figuren, die vielfach nichts anderes sind als fein beobachtete Studien aus der Palästra, der Ringschule, lassen das sofort erkennen. Wir haben also als Wesen des Stils hier das Streben zu betrachten, die Dinge der Zufälligkeiten zu entkleiden und auf ihre Grundideen zurückzuführen. So ist es denn gerade ein Drang nach Wahrheit im höhern Sinne, der den Künstler von der Wirklichkeit abweichen läßt. Gleichwie von der dargestellten Form gilt das auch von der Komposition überhaupt. Da ist im Figurenbilde oder in der Landschaft keine Gestalt – kein Baum, der nicht in vollstem Einklang mit der künstlerischen Idee stände. Die stummen Gewänder selbst fangen mit an zu reden und unterstützen durch Masse oder Bewegung, was die Menschen sagen; ein Accord der Uebereinstimmung von Innerem und Aeußerem – Wahrheit. –

Wir haben es nunmehr noch mit einem Stilbegriff zu thun, der in allen Künsten Anwendung finden kann, dem das liebe Publikum aber schier noch fremder gegenübersteht als den andern, ja dessen Nichtachtung es nicht selten als ganz besondere künstlerische Leistung ansieht. Seine Erklärung heißt kurz: „Stil ist das bewußte Sichfügen in die Forderungen des Darstellungsmaterials“!

Zur Erläuterung ein Beispiel aus der Musik. Wir hören im Konzertsaal einen Cellisten. Er spielt sein Instrument mit ausgezeichneter Geschicklichkeit, Passagen, Triller und Staccati wechseln in ununterbrochener Folge. „Nein, solch ein Spiel!“ heißt es, nachdem er schweißtriefend geendet hat, „der behandelt sein Cello ja wie eine Geige!“ – Ja, das thut er wirklich. – Aber ist das denn auch richtig? Gewiß nicht; denn hätte ein Geiger dasselbe Stück mit gleichem Können auf seinem viel beweglicheren Instrumente gespielt, so würde er bei minderem Aufwand eine noch schönere Wirkung erzielt haben. Der Cellist hat aber seinem Cello zugemuthet, was ihm nicht entspricht: allzugroße Beweglichkeit, und andererseits die Vorzüge, die es vor andern hat, schönen Gesangston u. dergl., geopfert; – das ist „stillos“!

In der Malerei hört man nicht selten die Ansicht: Womit man malt, ist doch ganz einerlei! Kann ich mit Pastell oder Aquarell eine Wirkung hervorbringen, die der Oelmalerei entspricht, wohlan! – Das ist aber gerade so falsch wie die Meinung des Cellisten. Jedes Material hat seinen Stil, der sich wie gesagt ergiebt aus seinen Vorzügen, die ausgebeutet werden müssen, und seinen Unzulänglichkeiten, die Beschränkung auferlegen.

Der Pastellmaler z. B. arbeitet mit dicken weichen Farbestiften; das schließt seine Technik schon von allen den Kunstäußerungen aus, die scharfgezeichnete kleine Einzelzüge mit sich bringen wie beispielsweise die Genremalerei. Seine Farbe ist an sich matt, und ihr fehlt mit dem Glanz auch die Tiefe. Das verweist die Pastellmalerei in das Gebiet lichter farbenzarter Erscheinungen; ein Satz, der übrigens am anschaulichsten durch ihre Herkunft – sie stammt aus der Puderzeit – bestätigt wird. Der Ruhm endlich: mein Bild wirkt aber wie ein Oelbild! wird auch nur solange dauern, als dieses nicht wirklich daneben hängt.

Jede Kunst, sei’s welche es sein möge, hat ihr festumgrenztes Reich, in dem ihr gewisse Erfolge von keiner andern streitig gemacht werden können. Verläßt sie es, so wird sie günstigsten Falles mit Gewaltanstrengungen nur das erreichen, was einer andern natürliche Sprache ist; wir brauchen das kaum noch an vielen Beispielen zu beweisen.

Alles in allem haben wir sonach vier verschiedene Anwendungen des Wortes Stil zu verzeichnen gehabt, und zwar Anwendungen auf recht vielartige Erscheinungen. Es wäre nun seltsam, wenn die Sprache für vier verschiedene Begriffe nur ein und dasselbe Wort haben sollte. Wir müssen deshalb wohl annehmen, daß sie alle untereinander in festem Zusammenhang stehen. Sehen wir sie darauf hin noch einmal an, so hieß unsere erste Erklärung: Stil ist die Formenausdrucksweise eines gewissen Zeitabschnitts. Wir fügten hinzu, daß damit jedoch nur eine Gruppe von Leistungen bezeichnet werde, die einzeln genommen unserer zweiten Forderung entsprächen, die war: Stil ist künstlerisch verklärte Zweckmäßigkeit. Beides ist also eigentlich eins! Das eine gilt für eine Summe, das andere fürs einzelne. Die dritte und vierte Erklärung alsdann hieß: Stil ist Weglassen des Unwesentlichen, und Stil ist das bewußte Sichfügen in die Forderungen des Materials. Wir sagen also in der Architektur und in dem Kunstgewerbe zum geschaffenen Dinge: scheine was Du bist, sei wahr! wir streben in den andern bildenden Künsten danach, die Wirklichkeit ihrer Zufälligkeiten zu entkleiden, nach Wahrheit, und verlangen endlich vom Material: rede wie dir der Schnabel gewachsen ist, sprich wahr! So finden wir denn in der Wahrheit das, was alle diese Verschiedenheiten zusammenhält, und können sagen: „Stil ist Wahrheit“. Damit wäre unsere Sprache vollauf gerechtfertigt und zugleich eine Handhabe gegeben, um etwas, das vielfach fälschlich mit Stil bezeichnet wird, die Manier, schroff davon zu scheiden.