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Weiße Sclaven in den Vereinigten Staaten

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Textdaten
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Titel: Weiße Sclaven in den Vereinigten Staaten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 139–140
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[139] Weiße Sclaven in den Vereinigten Staaten. Etwa dreißig Meilen nördlich von Philadelphia fängt gleich hinter North-Wales, einer kleinen als Sommeraufenthalt bekannten Stadt, Montgomery-County an, dessen unfruchtbare Hügel, den Betrieb der Landwirtschaft ausschließend, nichts desto weniger mit unzähligen kleinen Wohnungen bedeckt sind, in denen täglich bis spät Abends das Geräusch der Nähmaschinen die Beschäftigung ihrer Bewohner anzeigt; es wohnen nämlich hier nur Schneider, die von den großen Kleidergeschäften, durch ihren Mittelsmann – Schneiderherrn dürfte wohl der passende Ausdruck dafür sein – ihre Arbeit erhalten.

Wenn auch gerade nicht arge Noth in diesem District herrscht, so ist doch der Verdienst bei sehr langer täglicher Arbeitszeit nur ein geringer, und wer sich einmal hier niedergelassen hat, dem ist es beinahe unmöglich, selbst mit schweren Opfern, diesen District verlassen zu können.

Die Bedingungen, die ihm der Arbeitgeber stellt, sind etwa folgende: Er verlangt von dem Arbeiter, daß dieser ein kleines Grundstück mit genügender Wohnung käuflich von ihm übernimmt und Alles, was er zu seinem Geschäft braucht, wie Nähmaschinen, die nöthigen Bedürfnisse des Lebens etc., von ihm und durch ihn bezieht; dafür verspricht letzterer ihm beständig Arbeit, natürlich zu einem Lohne, den er selbst festsetzt und von dem wöchentlich eine bestimmte Summe zur Abzahlung der Vorschüsse [140] und Abtragung der Schulden auf Haus und Hof zurückbehalten wird. Will der Arbeiter nun dieses in der Noth eingegangene Verhältniß lösen, so hat er den größten Theil der so gemachten Ersparnisse zu opfern. Er findet seinen Besitz unverkäuflich, da er ihn nur wieder an einen Schneider verkaufen könnte und dieser im Falle des Kaufs von keinem der Schneiderherren Arbeit erhalten würde; so sieht er sich denn gezwungen, mit dem seinigen sich auf einen Vergleich einzulassen, dessen Ausgang nicht schwer zu errathen ist, denn auch hier macht dieser, wie bei der Arbeit, seine eigenen Preise.

Um jedoch ihr Geschäft betreiben zu können, müssen die Schneiderherren über ein großes Capital zu verfügen haben, da sie gewöhnlich einige hundert solcher Familien beschäftigen. Ist auch in jenem District der Grund und Boden billig, und sind auch die Wohnungen sehr einfach erbaut, so ist die Capitalanlage doch eine bedeutende; ferner steckt in den Nähmaschinen, deren manche dieser Familien vier oder fünf braucht, ein hübsches Stück Geld, und endlich erfordert der Nebenbetrieb eines kaufmännischen Geschäfts, das Alles, was zum Leben nöthig ist, zu liefen im Stande sein muß, sehr bedeutende Geldmittel. Hat der Schneiderherr seine Contracte mit den Engroskleidergeschäften geschlossen, die manchmal die Anfertigung vieler tausend Anzüge bedingen und wobei die Concurrenz die Preise schon sehr gedrückt hat, so muß er noch eine bedeutende Caution diesen Geschäften gegenüber für gute Ausführung der Arbeit und für richtige und gute Ablieferung der ihm übergebenen Kleiderstoffe stellen. Er hat eine Menge Gespanne zu halten, welche den Waarentransport von und nach der Eisenbahn besorgen, geübte Leute, die den Verkehr mit den einzelnen Arbeitern vermitteln, Commiß, welche die complicirte Buchführung besorgen, Alles Ausgaben, die bestritten werden müssen; sein Verdienst besteht nun natürlich in dem Unterschiede des Preises, den er als Arbeitslohn von dem Engroshause erhält, und dessen, welchen er seinen Arbeitern zahlt, und da sich dabei immer der letztere nach ersterem zu richten hat, so begreift sich, wie kärglich der Verdienst der Arbeiter oft genug ausfällt.

Das Engrosgeschäft liefert die Kleidungsstoffe fertig zugeschnitten in Paketen; jedes derselben enthält ein Dutzend Anzüge derselben Größe und desselben Schnittes verpackt, dem alle nöthigen Zubehöre an Futter, Watten, Fäden, Knöpfen etc. beigepackt sind, und so werden sie auch dem Arbeiter übergeben, der sich nun mit der ganzen Familie bis hinunter zum Kinde von fünf oder sechs Jahren an die Arbeit macht; letzteres näht wenigstens die Knöpfe an die billigen Fünf-Mark-Sommeranzüge, die dann allerdings auch nur bis zu dem Augenblicke halten, wo man sich ihrer bedienen will. Noch spät Abends kann man diese Familien in emsiger Arbeit beisammen finden. Kommt es nun zur wöchentlichen Abrechnung und ist dann von dem zuweilen durch sechszehnstündige Tagesarbeit schwer erworbenen Wochenlohne die Abschlagszahlung auf Haus und Hof, auf die Nähmaschinen gemacht, und die nicht unerhebliche Rechnung des Ladens bezahlt, so bleiben nur wenige Pfennige – der etwaigen Strafgelder für schlecht oder zu spät gelieferte Arbeit gar nicht zu gedenken. Vergebens strengt der Arbeiter sich an, jene unsichtbare Kette socialer Verhältnisse zu sprengen, die ihn zum Sclaven gemacht hat.

Eben weil der Arbeitslohn bei den fertig gemachten Kleidern ein so geringer ist, der noch durch die Vermittlung der Lebensbedürfnisse bedeutend geschmälert wird, ist es möglich, diese Kleider ungewöhnlich billig zu liefern, wodurch dann dieses Geschäft mit fertigen Kleidern eine so ungeheure Ausdehnung gewonnen hat. Man kauft in den von den Montgomery-County-Schneidern versorgten Läden factisch einen Anzug billiger, als derselbe bei einem guten, auf Kundschaft arbeitenden Schneider an Arbeitslohn kosten würde.