Weihnachts-Erinnerungen aus Brasilien
Weihnachten! Nach fast vierzehnjähriger Abwesenheit von der Heimath ist es mir wieder vergönnt, die traulichsten Erinnerungen an die goldenen Tage der Kindheit durch eine echt deutsche Weihnachtsfeier aufzufrischen.
Drüben im Lande der Palmen feiert man auch Weihnachten, aber das ist nur ein schwacher Abglanz der Weihnachtslust, welche hier von Jung und Alt empfunden wird. In buntem Reigen ziehen in diesen Tagen wieder und wieder jene Weihnachtsabende an mir vorüber, wie ich sie in jenen vierzehn Jahren verlebt. Ich will Einiges davon aufzeichnen; vielleicht, daß sein fremd anmuthendes Farbenspiel auch Andere unterhält.
Es war im Jahre 1866, und ich mit ein paar Freunden auf dem Wege nach Porto Alegre, wo ich die Weihnachtsferien verleben wollte. Nach mehrtägigem Ritt durch Urwald und Camp (Grasebene) befanden wir uns glücklich in Rio Grande do Sul, just am 24. December.
Rio Grande do Sul ist eine langweilige, rings von Dünensand umgebene Hafenstadt. Nur dem Umstande, daß sie Hafenstadt ist, verdankt sie es, daß sich viele Europäer, besonders aber viele Deutsche, daselbst niedergelassen haben. Wo sich aber Deutsche niederlassen, da gründen sie eine „Germania“, das heißt: einen deutschen Club, in welchem deutsche Zeitungen gelesen und deutsche Biere und Weine getrunken werden. Auch Rio Grande do Sul besitzt seine „Germania“, und zwar eine ganz vorzügliche, was Speisen und Getränke anbelangt. Dorthin schlenderte ich nach meiner Ankunft, um mich an einem kühlen Glase Erlanger zu erquicken. In tiefer Andacht führte ich mein Seidel zum Munde, als ich den mir befreundeten Dr. E., Director der deutschen Schule, eintreten sah.
„Sie kommen mir gerade recht,“ sagte er, „wir wollten heute Abend eine Weihnachtsbescheerung in der Schule veranstalten, und nun hat der Tischler noch nicht einmal den Baum gemacht. Ich weiß nicht, wie ich fertig werden soll. Sie müssen helfen.“
Dazu war ich gern bereit. Der Tischler wohnte nebenan, und wir gingen zunächst zu ihm. Der Baum, den er fabricirte, war fast vollendet; er leimte soeben in den Stamm die obersten [849] Zweige ein. Stamm und Zweige waren glatt gehobelt, und das Ganze sah wie ein Kleiderständer aus. In einen Baum sollte ich es verwandeln. Nachdem der Lehrbursche das Gestell in den großen Schulsaal getragen, umwand ich es mit den grünen Zweigen einer Ginsterart, welche als einziges Grün in den Dünen von Rio Grande wuchert. Schüler und Schülerinnen des Dr. E. schleppten große Körbe voll von diesem Kraute herbei. Im Zeitraum von einer Stunde war aus dem Kleiderständer ein Tannenbaum geworden, und nun wurde die liebe Jugend hinausgeschickt, damit sie nicht sehe, was weiter den Baum schmücken sollte. Wir aber hatten ihn bald mit Lichtern, vergoldeten Nüssen und Confect behängt und auf weißgedeckten Tischen die sonstige Bescheerung für die Zöglinge geordnet.
Es war ein furchtbar heißer Tag und ein ebenso heißer Abend; ein wahres Schwitzbad hatten Eltern, Lehrer und Zöglinge auszustehen, als sie sich gegen Abend vor dem in reichem Lichterglanze prangenden Weihnachtsbaum versammelten und ein heimatliches Weihnachtslied anstimmten. Eine hübsche Ansprache des Directors und die Vertheilung der aus nützlichen Büchern und Süßigkeiten bestehenden Geschenke beschloß die Feier.
Trotz der Hitze des Südens war mir weihnachtlich zu Sinn geworden und diese Stimmung hielt auch den ganzen Abend über an, [850] denn in den verschiedenen Familien, die ich später besuchte, traf ich auch strahlende Bäume – freilich nur künstliche – und fröhliche Kindergesichter; bei einem Maler war sogar der Baum von grüner Pappe angefertigt; er erfüllte aber doch seinen Zweck und wurde von den Kindern mit dem Liede: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter!“ angesungen.
Als ich um Mitternacht durch die Straßen schritt, waren diese wie ausgestorben. Alles schlief, aber im Hafen ertönte noch Gesang. Ja, dort unweit der Landungsbrücke schaukelte sich eine Hamburger Brigg auf den Fluthen. Bei dem Schiffslichte erkannte ich den wachthabenden Matrosen, welcher auf dem Verdeck hin und wider schritt und in die Nacht hinaussang: „Stille Nacht, heilige Nacht!“ So feierte der sein Weihnachtsfest. Leise in die schöne Weise einstimmend kehrte ich in meinen Gasthof zurück.
Der nächste heilige Abend sah mich in einer schrecklichen Lage. Die Colonisten von Sao Lourenço, größtentheils Pommern, waren durch Feinde ihres Coloniedirectors irre geleitet worden, und das verkehrte Auftreten des Letzteren hatte nicht wenig dazu beigetragen, sie in der falschen Ansicht, daß er ihnen eine zu hohe Summe Geldes für das von ihm verkaufte Land abgenommen habe, zu bestärken. Lange gährte es in der Colonie. Drohbriefe wurden an den Director gesandt, und Alle, welche sich auf die Seite des Letzteren stellten, wurden verhöhnt und mit dem rothen Hahn auf ihrem Dache bedroht. Die Regierung hatte auf meine Verwendung, durch die ich mir allerdings den Haß der aufrührerischen Colonisten zuzog, dreißig Mann Nationalgardisten, einen Officier und einen Sergeanten zur Aufrechterhaltung der Ordnung geschickt, leider waren aber in echt brasilianischer Weise die Waffen ausgeblieben, weshalb der Sergeant mit zwei Mann in die ferne Stadt gesandt werden mußte, um sie zu holen.
Am 23. December 1867 saßen der Director, der Officier und ich, der ich inzwischen die Function eines Adjuncten übernommen hatte, am Spieltisch beim portugiesischen Solo. Die Vaterlandsvertheidiger lagen im Schatten des Hauses und drehten sich aus Maisstroh und feingeschnittenem Tabak Cigaretten; die Damen des Hauses beschäftigten sich mit den Kindern. Da plötzlich erschien mit entfärbten Wangen eines der Dienstmädchen und rief: „Da kommen sie von allen Seiten, und Alle haben Pistolen und Messer!“
Kaum war dieses Wort ausgesprochen, so vernehmen wir schon Pferdegetrappel und hören die rauhen Stimmen anscheinend betrunkener Bauern.
Wir schließen die Thür. Der Officier tritt an das einzige geöffnete Fenster und fragt die Leute in portugiesischer Sprache nach ihrem Begehr. Er wird nicht verstanden. Ein wüstes Geschrei erhebt sich, und der Anführer der Rotte, ein desertirter schwedischer Matrose, der schon zweimal als Mörder in Haft war und später wegen Mordversuchs an seinem Schwiegervater von den Pommern mit Knütteln todtgeschlagen wurde, schwingt sein Waldmesser und sucht am Fenstersims emporzuklettern.
„Die muthige Donna Maria tritt an das Fenster – die Colonisten draußen verstummen. Alle haben große Achtung vor dieser Frau, welche sie als gute Mutter und Gattin kennen.
„Was wollt Ihr, Leute?“ fragte Donna Maria.
Nun erheben sich erst einzelne Stimmen und lassen die ungerechtfertigtsten Klagen und die wahnsinnigsten Forderungen laut werden, plötzlich aber schreit die ganze Rotte: „Wir wollen das Geld heraushaben, das man uns zu viel abgenommen; wir wollen den Director aufhängen.“ Dazwischen ertönten einzelne Rufe: „Reißt den Zaun ein, und wenn man uns nicht hören will, so steckt das Haus an allen Ecken in Brand!“
Schon hört man, wie die Aexte in Bewegung gesetzt werden, und immer größer wird der Haufe der Revoltanten. Es sind gewiß über hundert Kerle, die das Haus umzingelt haben, alle offenbar trunken vom Genuß des Zuckerbranntweins, den sie auch jetzt noch unter sich kreisen lassen, unter gemüthlicher Betheiligung der waffenlosen Vaterlandsvertheidiger.
Noch hält sich Donna Maria tapfer am geöffneten Fenster und beschwört die Leute, aus einander zu gehen, und diese Zeit benutze ich, um ihren wie Espenlaub zitternden Gemahl auf dem Bodenraum hinter Kisten und Gerümpel zu verstecken. Während dieser Zeit hat sich Donna Maria mit den Kindern entfernt, wohin? weiß ich nicht; ich selbst behalte eben Zeit, den Revolver, den ich in der Hand trage von mir zu werfen, um nicht mit Waffen ergriffen zu werden, worauf ich dem Keller zuspringe – eine Vertheidigung wäre ja doch nicht möglich gewesen. Kaum hat sich die Fallthür hinter mir geschlossen, so weicht die Hausthür dem Andringen so vieler Menschen, die mit starken Pfählen dawiderstoßen, und die Menge der Trunkenen wogt in das Haus. Die Kellerluken sind vergittert; an ein Entfliehen ist nicht zu denken. Ich höre, wie über meinem Haupte geflucht, gelästert, getanzt, gesungen und vor allen Dingen geraubt wird; denn über mir ist das große Waarenlager des Directors, der zugleich Kaufmann ist. Das schurrende Geräusch, welches ich gerade von dorther vernehme, bezeugt, daß man die Waarenkisten zerschlagen und zum Anzünden des Hauses gebrauchen will. Einmal droht eine Stentorstimme allen Hausinsassen mit Gurgelabschneiden.
Inzwischen ist es dunkel geworden, und durch die Luken fällt Sternenschein in mein freiwilliges Gefängnis, aus welchem zu entrinnen ich nicht hoffen kann, wenn die Unmenschen ihre Drohung, Feuer anlegen zu wollen, ausführen. Ich öffne ein wenig die Fallthür, und im Kerzenschein, der vom Corridor hereinfällt, erkenne ich den Officier, welcher einigen Colonisten seinen Degen übergiebt und sich als ihr Gefangener erklärt. Er wird nebst seiner Frau hinausgeführt und sein Gepäck ihm nachgetragen. Dann höre ich ein Zerschlagen von Waarenkisten, und schon wähne ich Alles verloren – da erklingt über mir eine wohlbekannte laute Stimme und übertönt das Geschrei der Anderen: „Wo Sie auch immer im Hause sein mögen, Herr R…, kommen Sie getrost her! Es soll Ihnen nichts geschehen. Wir sind hier, Ihre Freunde!“
Nun folgt ein kurzer Kampf zwischen den gutgesinnten und den aufrührerischen Colonisten, der anscheinend zu Gunsten der ersteren entschieden wird. Es tritt Stille ein; ich schließe, daß der Director zum Vorschein gekommen ist und, geschützt von den Freunden, die gestellten Forderungen unterzeichnet.
Gegen Mitternacht verziehen sich die Ruhestörer, und ich kann nun mein Versteck verlassen. Dort sitzt der Mann noch mit der Feder in der zitternden Hand, und Donna Maria geht weinend im Zimmer auf und nieder.
„Was haben Sie gethan?“ frage ich.
Er schiebt mir ein Blatt Papier hin, welches vor ihm liegt. Es enthält ganz unmögliche Versprechungen, welche er mit den Anführern der Rotte zusammen unterzeichnet hat. Ein Exemplar des Vertrages haben Letztere mitgenommen.
„Das ist ein werthloser Wisch,“ sage ich. „Sie haben hier unter dem Druck der Gewalt Ihr Wort verpfändet und brauchen es aus diesem Grunde nicht zu halten. Vor Allem müssen Sie und Ihre Familie so schnell wie möglich gerettet werden. Geben Sie mir Geld, und lassen Sie mich für Alles sorgen.“
Ich ging, um mein Pferd zu satteln, fand es aber in der Dunkelheit nicht und benutzte daher das erste beste Soldatenpferd, das ich erwischte. Der Officier lagerte draußen im Freien mit seiner Frau und wagte sich nicht in das Haus zurück, weil ihm dies von den Colonisten verboten worden.
Nachdem ich das nöthige Geld empfangen, ritt ich fort. In vielen Colonistenhäusern schimmerte noch Licht, und dann und wann hörte ich Stimmen vor mir auf dem Wege. Ich mußte daher vorsichtig reiten. Bei Tagesanbruch lag der Urwald hinter mir, und vor mir, vom Schein der Morgenröthe erhellt, breitete sich der weite Camp aus, von der Lagoa dos Patos (das große südbrasilianische Binnenmeer) wie von einem Purpurband umsäumt.
Nach einer kleinen Stunde hielt ich vor dem Hause eines befreundeten brasilianischen Kaufmanns, der an der Mündung des Sao Lourençoflusses wohnte. Ich pochte an die Hausthür. Eine Sclavin öffnete mir und führte mich in das Haus. Ich trat an das Bett des Freundes, erzählte ihm kurz, was geschehen, und theilte ihm meinen wohl durchdachten Rettungsplan mit. Er weckte sogleich seine männliche Dienerschaft und einen Herrn, der in seinem Hause logirte und Besitzer von Pferd und Wagen war. Letzterer war bereit, Hülfe zu leisten. Kaum ließen sich die Herren Zeit, einen Morgenimbiß zu nehmen; dann trabten sie fort, und das erwähnte Fuhrwerk folgte ihnen auf dem Fuße.
Ich begab mich jetzt zu dem portugiesischen Schiffsführer des einzigen Schiffes, welches im Hafen lag. Er weigerte sich, allem Herkommen zuwider, am ersten Feiertage in See zu gehen, [851] doch überwand ich seine christlichen Bedenken mit der Schilderung der traurigen Folgen, welche sein Zögern haben könnte, vor allen Dingen aber wohl mit dem Inhalt der wohlgespickten Börse, die ich bei mir führte. Er sagte endlich zu und versprach, im Laufe des Tages Alles seeklar machen zu wollen.
Beruhigt kehrte ich in das Haus des Freundes zurück, um mich dem Schlummer hinzugeben. Noch lag ich mit offenen Augen auf einer Feldbettstelle – da trat die schwarze Sclavin herein und flüsterte mir zu:
„Sie werden verfolgt. Draußen im Laden sind Colonisten, welche Sie suchen. Kommen Sie! Ich werde Sie verstecken.“
Ich folgte ihr in eine Waarenkammer, wo ich hinter großen Tonnen eine günstige Deckung fand. Bald erkannte ich die Stimmen meiner Verfolger, welche den Aussagen der Sclavin, daß ich gar nicht hierhergekommen, keinen Glauben schenken wollten und bis in den Raum vordrangen, in welchem ich mich befand. Sie gingen einen Schritt von mir jenseits der Tonnen, hinter welchen ich saß, vorüber und verzogen sich dann. Bald hörte ich draußen Pferdegetrappel, das sich entfernte, und ich verließ mein Versteck. Schlaflos verging mir der Tag, der mir wie eine Ewigkeit erschien, und der Abend zog herauf – der heilige Abend.
Heiliger Abend! Ja, ich will an Dich denken, so lange ich lebe! Es war schon dunkel – und noch keine Nachricht, ob die Familie des Directors gerettet sei oder nicht! Der Schiffsführer kam und meldete, daß Alles bereit sei. Großer Gott, wo blieben die Unglücklichen? Waren sie vielleicht überfallen und ermordet? Ich lief in die Nacht hinaus, und auf dem ersten Berge, den ich erreichte, warf ich mich nieder und legte das Ohr auf den Boden, um besser horchen zu können. Nichts! Nichts! Ueber mir stand der Orion, das freundliche Gestirn, das heute über so viele weihnachtsfrohe Menschen seinen Glanz entsandte, und hier sah es auf ein Menschenkind in unsäglicher Qual.
Ich kehrte an den Hafen zurück. Die Negerin stand vor der Thür; das gute Geschöpf schien an unserm Schicksal herzlichen Antheil zu nehmen.
„Es in schon Mitternacht,“ sagte sie, „oben bei Guimaraes haben eben die Hunde gebellt; wenn sie jetzt nicht kommen, so ist gewiß ein Unglück geschehen.“
Ich seufzte und strengte mein Gehör an. Bei Gott! Das war Pferdegetrappel, welches mit jeder Secunde näher kam. Ich trat in den Schatten des Hauses, um, selbst ungesehen, mich über die Personen der Kommenden vergewissern zu können. Schon von Weitem erkannte ich die Stimme des Directors, und bald hielt er mit seinem Begleiter, einem Soldaten, vor der Thür und stieg ab. In diesem Augenblicke trat die Negerin mit einer Laterne vor das Haus. Welch ein Anblick! Blutend und mit zerfetzten Kleidern standen der Director und sein Begleiter vor mir. Mit wenigen Worten erzählten sie mir, daß kein anderes Mittel zum Entweichen gewesen, als sich quer durch den Urwald, der Richtung des Compasses folgend, Bahn zu brechen, ohne indeß ein Waldmesser zu benutzen, wodurch ihre Fährte zu leicht verrathen worden wäre. Die zahlreichen Urwaldsdornen hätten ihnen die Kleider und die Haut zerfetzt. Ein wohlwollender, diesseits des Waldes wohnender Brasilianer hätte ihnen Pferde gegeben; sonst hätten sie noch gar nicht hier sein können.
„Wo ist meine Frau mit den Kindern?“ fragte der Director. „Sie müssen ja schon lange hier sein, wenn die Colonisten sie durchgelassen haben.“
Ich zuckte die Achseln und entgegnete beruhigend: „Sie werden schon kommen.“
„O Gott, o Gott!“ rief er aus und sank schluchzend in einen Lehnstuhl. Ich sah dem Manne an, daß er bis zum Tode erschöpft war, und wirklich hemmte der Schlaf bald den Lauf seiner Thränen. Als ich ihn schnarchen hörte, ließ ich ihn allein. Der Soldat lag draußen und schlief auch. Ich aber fand keinen Schlaf und lief ruhelos auf dem Camp umher, und Alles, was ich dachte, war – Donna Maria und ihre Kinder!
Es mochte drei Uhr sein – da vernahm ich Wagengerassel und Donna Maria’s ferne Klagerufe: „Mein Mann! Mein unglücklicher Mann! O wenn ich doch wüßte, ob er gerettet ist!“
Da war es mir wirklich weihnachtlich zu Sinn, aber viel schöner noch wie sonst am heiligen Abend, denn so habe ich noch nie bescheert, und unsere Donna Maria ist wohl auch niemals so bescheert worden, wie damals, als ich ihr durch die Nacht zurief:
„Trösten Sie sich! Ihr Mann ist gerettet. Er ist hier.“
Wie jauchzte sie bei dieser Nachricht vor Freuden auf, und mit ihr jubelten die wackern Männer, welche sie sicher hierher geführt hatten.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren, Donna Maria!“ sagte ich und geleitete sie in das Haus, wo ich zunächst ihren Mann aus seinem festen Schlafe weckte. Das war ein fröhlich-trauriges Wiedersehen! Ich ließ es aber kaum zu einer Aussprache zwischen den Ehegatten kommen, sondern nahm das jüngste Kind auf den Arm, und mit den Eltern und den andern Kindern schritt ich an Bord. „Vorwärts, Matrosen!“
Schon vergoldeten die ersten Sonnenstrahlen die weite Wasserfläche der Lagoa dos Patos; da lag unser Schiff an dem Ausflusse des Sao Lourenço vor der sogenannten Barre. Es war zu wenig Wasser zum Auslaufen vorhanden, und selbst der Versuch, die Anker auszuwerfen und mit Hülfe der Ankerketten das Schiff über den Sand zu ziehen, förderte uns wenig. Schon sahen wir auf den benachbarten Bergen zahlreiche Reiter, welche dem Hafen zueilten, unsere – Verfolger, da säuselte ein freundlicher Westwind in den breitästigen Figueirabäumen am Ufer und blähte die aufgespannten Segel des Schiffes, das sich endlich in Bewegung setzte. Schnell zogen wir die Anker ein, und nun durchfurchte der Kiel die letzte Sandbank, und wenige Minuten später tanzte das Schiff auf den lustigen Wellen. Meine Hände hatte ich beim Ziehen der Ketten blutig gearbeitet, aber jetzt, da ich das Rettungswerk vollendet sah, war mir dies gleichgültig, und vergnügt brannte ich mir eine Cigarre an. Gegen Abend ankerten wir im Hafen von Rio Grande, von wo aus Schritte zur Bestrafung der Schuldigen eingeleitet wurden.
Jetzt ist über der ganzen Begebenheit schon lange Gras gewachsen; der Director R… schlummert hier auf heimathlicher Erde den letzten Schlaf, und seine Colonie, das Werk seines rastlosen Schaffens, erfreut sich einer gedeihlichen Entwickelung und friedlicher Zustände.
Im Jahre 1868 führte ich ein sehr bewegtes Leben. Gut, daß Einem der Kampf um’s Dasein nicht immer so schwer gemacht wird, wie dies in jener Zeit bei mir der Fall war. Der Weihnachtstag jenes Jahres fand mich fern von Menschen unter einer einsamen Palme lagernd. Meine Gedanken folgten den weißen Wolken, die unter dem tiefblauen Firmamente dahinzogen, und eilten ihnen bis über die Grenzen des sichtbaren Raumes voraus und immer weiter und weiter bis zum fernen Vaterhause, wo vielleicht gerade zu jener Stunde der Tannenbaum angezündet wurde. Ein tiefes, inniges Sehnen überkam mich, und in der Sprache der Heimath sang ich es hinaus in die einsame Fremde, mein Lied vom „Wihnachtsabend in de Frömd“:
Nu brennen to Hus woll de Dannenböm,
Un Allens fret sick un lacht,
Un nachsten, denn hebbens so selige Dröm,
Kinn Jes hett so Jeden bedacht.
Min Mutting allen wakt noch spät in de Nacht,
De Thran ut de Ogen ehr föllt:
„Kinn Jes hett den Enen ja doch nich bedacht;
De is jo so wit in de Welt.“
De Eu, min lew Mutting, de En dat bün ick,
Mi hett dat Kinn Jes nich bedacht;
För mi giw’t ken Lust un ken hüsliches Glück –
För mi giw’t ken heilige Nacht.
Ick sitt so verlaten, so trurig, allen,
Wo de Palmenbom ragt in dat Land,
Wo de Sünnenstrahl gläugt up dat Felsengesten,
Un stütt mi den Kopp in de Hand.
Doa denk ick torüg an de glückliche Tid,
Wo ick ok vör den Dannenbom stahn;
Min Hart ward so weik, min Hart ward so wit,
As füng dat to bläuden mi an.
Doa swewt mi dat Bild von den Kirchenplatz vör,
Von dat Varehus trulich un still.
Sneeschanzen liggen bet dicht vör de Dör,
Un de Flocken, se driben ehr Spill.
Wat kümmert de Snee mi; is’t Hart doch so het,
Un tüht an de Laden mi ran:
In de Laden tor Rechten ein Knastlock ick wet,
Wo nah binnen man rinkiken kann.
Doa stahn se denn All üm den Dannenbom
Un freuen sick äwer sin Licht,
Un ick – ick stah buten und kik as in’n Drom
In Mutting ehr lewes Gesicht.
Wo lücht’t ehr de Freud’ ut de Ogen so warm,
As se Jeden hett geben fin Del;
Dunn küssen’s ehr All un nehmens in’n Arm
Un seggen, dat wir doch to vel.
Wie Korlbror’ woll an den Clawzimbel geht
Un spelt den schönen Choral,
Dat olle, dat lewliche Wihnachtsled:
„Von’n Hewen hoch kam ick hendal!“
Un as nu dat Vörspill to Enn is gahn
Von de lewliche Melodie,
Dunn stimmen de Annern so fröhlich mit an,
Un ick? – Ick bün nich dorbi –
Ick sitt so verlaten, so trurig, allen,
Wo de Palmenbom ragt in dat Land,
Wo de Sünnenstrahl gläugt up dat Felsengesten,
Un stütt mi den Kopp in de Hand. –
In den nun folgenden Jahren verbrachte ich die Weihnachtsfeste in Porto Alegre, Sao Leopoldo oder auch auf den deutschen Colonien. Dort wird der Tannenbaum in der vollkommensten Weise durch die jungen Stämme der Araucarie ersetzt, und man feiert das schöne Fest ganz in heimathlicher Weise, ja, es hat die liebliche Sitte der Weihnachtsbescheerung und der Christbäume sogar schon bei den Brasilianern Eingang gefunden und gewinnt immer größere Verbreitung.
Traurig allerdings verfloß mir der Weihnachtsabend 1872. Da wurde mir kein brennender Tannenbaum, wohl aber ein brennender Tannenwald bescheert. Ich hatte mich einige Monate zuvor verheirathet und gedachte mit meiner Frau ein recht vergnügtes Fest zu verleben. Wir saßen bei Sonnenuntergang vor der Thür und sprachen von der fernen Heimath – da schlug in meinem unfern gelegenen Araucarienwalde eine helle Feuersgluth empor, und dunkle Rauchwolken wälzten sich in das Thal hinab, in welchem mein Haus lag. Auf die Ausnutzung dieses Waldes hatte ich meine Zukunft gegründet; der Verlust desselben wäre ein harter Schlag für mich gewesen. Ich warf den Rock ab, griff zu Axt und Hacke und eilte fort.
Es brannte glücklicher Weise nur ein kleiner, isolirter Theil des Waldes. Wenn es mir gelang, durch Aufwerfung eines Grabens das Feuer von dem andern Theile abzuschneiden, so konnte ich desselben Herr werden.
Meine Nachbarn waren auch herbeigekommen, und nun wurde mit vereinten Kräften gearbeitet. Oft hüpften die Flammen über die in Folge langer Dürre verdorrten Gräser dahin, und dann galt es, sie so schnell wie möglich mit darauf geworfener Erde zu ersticken. Einige von uns suchten alle brennbaren Stoffe aus der Nähe des Grabens, welchen die Anderen aufwarfen, zu entfernen, und so gelang es uns allmählich, besonders da der Wind umgesprungen war, die Gefahr des Umsichgreifens zu mindern.
Rauchgeschwärzt kehrten wir um Mitternacht nach Hause zurück; es brannte noch immer, aber kaum hatten wir die müden Glieder zur Ruhe gelegt, so vernahmen wir das ferne Grollen des Donners, und die Hoffnung auf ein regenbringendes Gewitter versetzte uns wieder in eine fröhlichere Stimmung. Immer heller zuckten die Blitze, und immer lauter folgte ihnen der Donner, bis er endlich rings in den Felsenkesseln des zerklüfteten Gebirges, in dem wir wohnten, widerhallte. Da schlugen die ersten schweren Tropfen eines warmen Tropenregens an die Fenster, und in Kurzem war kein Feuerschein mehr draußen im Walde zu sehen. Das war unsere Christbescheerung.
Weihnachten 1877 herrschte statt der Dürre eine ungewöhnliche Nässe; der Arroio do Paraizo, ein über zerklüftetes Gestein dahineilender Bach, an welchem mein Haus lag, übertönte mit seinen Wasserfällen unsere eigenen Worte.
Meine Christbescheerung trug ich auf dem Arme; mein blauäugiges Töchterchen war freilich schon vor sieben Monaten auf die Welt gekommen und sah schon ganz verständig in dieselbe hinein; aber da ich die Kleine am Weihnachtsfeste auf dem Arme trug, war es mir, als sei sie mir noch einmal bescheert worden, und meiner Frau ging es gerade so. Wir saßen am offenen Fenster und blickten hinab in den Gischt der Wellen, die sich am Gestein brachen. Die Kleine streckte die Arme aus, als wollte sie die Leuchtkäfer haschen, die am Fenster vorbeiflogen. Wunderbarer Anblick, diese brasilianischen Leuchtkäfer! Sie entwickeln am Kopfe und unter dem Bauche einen so starken phosphorischen Glanz, daß man bei dem Lichte eines einzigen Thieres lesen kann, wenn man dasselbe über das zu lesende Blatt hält. Sie fliegen mit großer Geschwindigkeit und könnten leicht für laternentragende Menschen gehalten werden, wenn sie nicht so zahlreich wären. Auch an jenem Weihnachtsabend schwirrten sie zu Tausenden durch die Luft und hoben sich in ihrem Glanze vortrefflich von dem dunklen Hintergrunde des Urwaldes ab.
„Wir haben keinen Weihnachtsbaum aufgeputzt,“ sagte ich zu meiner Frau, „da wollen wir wenigstens versuchen, ob wir denselben nicht durch Leuchtkäfer ersetzen können.“
Und ich öffnete die Fenster und zündete Licht an, um damit die Thiere anzulocken. Es dauerte auch nicht lange, so flogen einige große, prächtige Nachtfalter in das Zimmer herein, und ebenfalls vom Lichte angezogen, folgten Leuchtkäfer auf Leuchtkäfer, ein herrlicher Anblick! Nun drehte ich die Lampe herunter. Die Augen meines Töchterchens folgten dem glänzenden Fluge der Käfer voll Entzücken, und wenn einer ihr zu nahe am Näschen vorbeisummte, dann streckte sie die Aermchen aus, als wollte sie ihn haschen, bis endlich der Sandmann sich einstellte und der seltsamen Christbescheerung ein Ende machte.
Und nun, nach langen Jahren fällt mein Blick wieder auf eine winterliche Landschaft, die mich an das nahende Weihnachtsfest gemahnt. Zwar haben sich die lieben, treuen Mutterhände, die mir als Kind meinen Weihnachtstisch schmückten und den Tannenbaum anzündeten, lange schon zum letzten Schlaf gefaltet; Schnee bedeckt den Grabhügel, unter welchem die Unvergeßliche schlummert, und in dem epheuumrankten Elternhause am Kirchplatze, wo einst so viele Strahlen der Liebe und des Glückes das Christfest zum schönsten Tage des Jahres machten, wohnen Fremde. O, das thut bitterlich weh!