Weltverbesserer/Thomas Morus und die „Utopia“

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Autor: Dr. J. O. Holsch
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Titel: Thomas Morus und die „Utopia“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 170–173
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
III.
Thomas Morus und die „Utopia“.
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Als Thomas More, der Sohn eines Richters, im Jahre 1478 zu London das Licht der Welt erblickte, da rang die jetzige Welthandelsstadt mit der noch mächtigen Hansa um ihre Existenz. Im Hause des gelehrten und staatsmännisch bedeutenden Kardinals Morton erhielt der junge Engländer eine vorzügliche humanistische Bildung, wurde Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt, von der er, kaum 26jährig, unter Heinrich VII. in das Parlament entsandt ward. In welcher Weise er für das Wohl seiner Mitbürger eintrat, erschließen wir aus der glaubhaften Anekdote, daß ein Vertreter des Königs diesem die Ablehnung einer neuen Zehentauflage mit den Worten meldete, ein bartloser Knabe habe den Wunsch des Königs vereitelt. Zu verschiedenen wichtigen Aufträgen, namentlich handelspolitischer Natur, durch das Vertrauen der Londoner Kaufherren berufen, stieg er im öffentlichen Ansehen immer höher und wurde, als er nach langem inneren Widerstreben in den Staats- – damals Königs- – dienst trat, bald Lord Chancellor, englischer „Reichskanzler“. Da er sich aber weigerte, die Ehe des berüchtigten Königs Heinrichs VIII. mit Anna Boleyn als gesetzlich anzuerkennen, wurde er, den Gepflogenheiten der damaligen unumschränkten Monarchie entsprechend, wegen Hochverraths zum Tode in der entsetzlichsten Form verurtheilt, „zur Enthauptung begnadigt“ und am 6. Juli 1535 im Tower hingerichtet.

Dieser Mann, der auf der einen Seite mit den hervorragendsten Humanisten seiner Zeit, z. B. mit Erasmus von Rotterdam, aufs [171] innigste verbunden war und mit ihnen an Kenntniß des klassischen Alterthums wetteiferte, der aber gleichzeitig in stetem unmittelbaren Verkehr mit den Bedürfnissen des Handels und des gewöhnlichen täglichen Lebens stand und auch in die bewegenden Kräfte der politischen Vorgänge den tiefsten Einblick hatte – dieser Mann mußte nothwendig in seinem Innern in schärfster Weise den tiefen Zwiespalt fühlen, der das damalige äußere und innere Leben Englands zerriß; als geistvoller Schriftsteller, als Philosoph und Schüler Platos, als Kind des Zeitalters der Entdeckungen, als vorsichtiger Politiker kleidete er all seine Kritik, all seine Gedanken, seine Wünsche und Hoffnungen ein in ein Zwiegespräch, in welchem er einen fremden Reisenden das über die englische Nation und über das Ideal eines nationalen Staates überhaupt sagen läßt, was er zu sagen hat, ein Zwiegespräch, bei dem man nicht weiß, ob man das liebenswürdige Erzählertalent oder die satirischen Beziehungen auf die damaligen Zustände des königlicheu Absolutismus oder die Fülle der Gedanken mehr bewundern soll.

Versenken wir uns in den Inhalt dieses Werkes.

In einfachen, harmlosen Worten erzählt zunächst Thomas selbst, wie er als diplomatischer Unterhändler seines Königs nach Brügge in Flandern kommt, um mit Vertretern des späteren Kaisers Karl V. Verhandlungen zu führen. Bei dieser Gelegenheit macht er von dort einen Ausflug nach Antwerpen und wird daselbst durch seinen Freund Peter Giles mit dem portugiesischen Seefahrer Rafael Hythlodäus bekannt, einem der 24 einst von Amerigo Vespucci auf dem neuen Welttheil Zurückgelassenen. Thomas More ladet diesen merkwürdigen Mann zum Essen ein, und bei der Tafel entwickelt sich im vertrauten Kreise dreier Freunde eine lebhafte Unterhaltung. Hundert Fragen stürmen auf den weitgereisten, hochgebildeten Rafael ein, der es verstanden hat, auf seinen Reisen mit bewunderungswürdigem Scharfsinn zu beobachten. Die Fragen entspringen aber nicht oberflächlicher Neugier nach Aeußerlichkeiten, sie richten sich vielmehr vorzugsweise auf die gesellschaftlichen Einrichtungen und Sitten der Völker, welche Rafael Hythlodäus kennengelernt hat. „Zufällig“ stellt sich heraus, daß er früher auch einmal auf der Insel England gewesen ist und daß er dort bei dem Kardinalerzbischof von Canterbury, dem Kanzler von England Jean Morton, dem Gönner des Thomas, einen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse des damaligen England erhalten hat. In sehr drastischer Weise berichtet der freimüthige Portugiese, wie damals bei der Tafel ein Schwätzer die englische Justiz gerühmt habe, weil sie die Diebe hänge, während derselbe gleichzeitig habe zugeben müssen, daß trotz dieser entsetzlichen Strafe für Eigenthumsvergehen sich die Diebstähle vermehrten. Hythlodäus zwang damals die Anwesenden, auf die wirklichen Ursachen der Zunahme der Diebstähle und des Landstreicherthums, auf die Scheidung der Bevölkerung in Arbeitende, Nützliches Erzeugende und in drohnenartige „Herren“ und „Gefolge“ sowie auf die rücksichtslose Ausbeutung des Bodens durch die lediglich nach Geldgewinn gierigen Wollproduzenten zurückzugehen, wobei er mit unverkennbarem Hohne durchblicken ließ, daß die Tischgesellschaft immer erst dann einer Sache Beifall zollte, wenn der mächtige Kirchenfürst sie durch Wort oder Miene bestätigt hatte. Rücksichtslos werden die Triebfedern der damaligen Fürsten bloßgelegt, und ausdrücklich erklärt Rafael, seine innerste Ueberzeugung sei nach allen Erfahrungen, die er gemacht, die: überall, wo das Eigenthumsrecht herrsche, wo man alles mit Geld messe, werde von Billigkeit und gesellschaftlichem Wohlbefinden nie die Rede sein können; das einzige Mittel, die Güter mit Gleichheit und Billigkeit zu vertheilen und das Glück des menschlichen Geschlechts zu begründen, bestehe in der Aufhebung des Eigenthumsrechts. Solange dieses die Grundlage des gesellschaftlichen Gebäudes bilde, werden der zahlreichsten und schätzenswerthesten Klasse nur Mangel, Kummer und Verzweiflung zutheil werden. More, welcher bei der Debatte scheinbar als skeptischer Gegner des begeisterten Rafael auftritt, wendet ein, in einem derartigen Staate würde kein Mensch mehr arbeiten wollen, Anarchie und allgemeine Unzufriedenheit würden die unmittelbaren Folgen sein – allein es wird ihm erwidert: „Ihre Ansicht befremdet mich keineswegs; wären Sie aber in Utopien gewesen, hätten Sie das Schauspiel der Einrichtungen jenes Landes gesehen wie ich, der ich dort fünf Jahre meines Lebens zubrachte und es zu verlaffen mich nur entschließen konnte, um den Blick der alten Welt auf diese neue zu richten: Sie würden gestehen, daß es ‚nirgend anderswo‘ eine vollkommener organisierte Gesellschaft giebt.“ Und nun muß Hythlodäus nach kurzer Rast eine genaue Beschreibung der Phantasie-Insel Utopia und ihrer Bewohner geben.

Utopia, genannt nach dem genialen Gesetzgeber und Eroberer Utopus, liegt auf der südlichen Halbkugel der Erde, dicht bei dem „neuen Kontinent“, mit dem sie als Halbinsel früher zusammenhing. Utopus ließ vor 1760 Jahren, also etwa 250 vor Christus die 15000 Schritte breite Landzunge abgraben, so daß eine größere mondsichelförmige Insel mit geräumigem wohlgeschützten Hafen entstand, auf der 54 Städte liegen, alle gleichartig gebaut und je etwa eine Tagereise voneinander entfernt; die Hauptstadt, Amaurotum genannt, in der Mitte des Gebietes, an schiffbarem Flusse in Verbindung mit der See gelegen, wird genau beschrieben. Auf dem Lande liegen zerstreut, aber planmäßig vertheilt, Meierhöfe, je von einer sogenannten Familie, bestehend aus 20 Männern und 20 Frauen nebst 2 Sklaven, bewohnt und bebaut. Jede Familie untersteht einem „Vater“ und einer „Mutter“, und je 30 Familien haben einen „Philarchen“, d. h. Wirthschaftsdirektor, unter sich. Jährlich wird die Hälfte der Landbewohner durch Städter ersetzt, damit jeder Utopier die Landwirthschaft verstehen und üben lerne. Die Erzeugnisse des Landes werden in die Magazine der Stadt abgeführt, von wo die Landbewohner ihrerseits die Erzeugnisse der gewerblichen und sonstigen Arbeit der Städter beziehen.

Die politische Verfassung ist ein auf völlig demokratischer Grundlage sich erhebendes Wahlkönigthum. Der Fürst ist lebenslänglich; die anderen Obrigkeiten werden jährlich gewählt, in wichtigen Fragen wird auf Volksabstimmungen zurückgegriffen.

Besonders anschaulich ist die Schilderung der Arbeit und des geselligen Lebens in Utopien. Die Landwirthschaft hat wie gesagt jeder Angehörige Utopiens ohne Ausnahme theoretisch wie praktisch zu erlernen; außerdem aber noch einen besonderen Beruf, je nach Geschicklichkeit und Wunsch. Sechs Stunden, drei vor- und drei nachmittags, werden auf materielle Arbeit verwendet, neun Stunden wird geschlafen. Großartige Speisesäle, Musikaufführungen, Spiele etc. verbinden die Bewohner tagtäglich. Da auch die Frauen durchweg in den ihnen angemessenen Berufen thätig sind, und Tagediebe, wie solche in den europäischen Staaten sich zahlreich finden, nicht geduldet werden, so genügt die sechsstündige Arbeit vollauf, zumal alles planmäßig geordnet ist, keinerlei unnöthige Luxuswaren erzeugt und Kleider beispielsweise so einfach, gut und dauerhaft hergestellt werden, daß sie sieben Jahre halten. Ist die Arbeit besonders ergiebig, so kann die Regierung durch einfaches Dekret sogar noch eine größere Verkürzung der Arbeitsdauer eintreten lassen. Der Zweck aller sozialen Einrichtungen in Utopien ist also der, „zuerst dem öffentlichen und individuellen Verbrauche seine Bedürfnisse zu sichern, dann aber jedem soviel wie möglich Zeit zu lassen, um sich der Knechtschaft des Leibs zu entledigen, seinen Geist frei auszubilden. Nur in dieser vollständigen Entwicklung finden sie (die Utopier) wahres Glück.“

Das gesellige Zusammenleben ist auf die erweiterte Familie gegründet; jede erwachsene Jungfrau von 18 Jahren und mehr erhält nach Wahl einen Gatten von 22 oder mehr Jahren; überzählige treten in unterzählige Familien über; wird die Landesbevölkerung zu groß, so greift ein Auswanderungsdekret ein, es werden Kolonien gegründet. Der Familienvater, dem Weib und Kinder gehorchen, holt auf dem Markte seines Stadtviertels alle Bedürfnisse für die Seinen, ohne Geld zu brauchen, lediglich auf seine Person hin. Wer irgendwie kann, nimmt jedoch an den öffentlichen Mahlzeiten theil, bei denen Alt und Jung, Mann und Frau nach Rafaels Urtheil planvoll und reizvoll gemischt sitzen, plaudern und zuhören. Für Kranke liegen vor der Stadt gut eingerichtete Spitäler; auch die Schlachthäuser liegen vor der Stadt, in ihnen arbeiten nur Sklaven, da das Metzgerhandwerk den Utopiern nicht zusagt. Diejenigen, welche eine Reise machen wollen, lassen sich Pässe geben, arbeiten, wo sie hinkommen, in ihrem Berufe, da der ganze Staat nur eine Verwaltung hat. Geld wird nicht gebraucht. Gold und Geschmeide dienen nur den Unmündigen zum Spiel und den Sklaven als Sinnbilder der Erniedrigung. Die Halsketten der Sklaven prangen wie die Nachtgeschirre in purem Golde. Um das schroffe Verhalten der Utopier schmuckstrotzenden „hohen [172] Herren“ gegenüber recht deutlich zu kennzeichnen, flicht Rafael die Anekdote ein, wie ein fremder Gesandter den seiner Meinung nach armen Utopiern durch Pomp imponieren will. „Sieh doch diesen großen Schelm,“ sagt ein Junge zu seiner Mutter, „der noch Juwelen trägt, wie wenn er ganz klein wäre!“ – „Schweig’, mein Sohn,“ antwortet die Mutter. „er ist, denk’ ich, einer von den Spaßmachern der Gesandtschaft.“

Jagd und Hazardspiel sind verachtet; erstere ist nur den Metzgern erlaubt und gilt für eine unwürdige Thätigkeit. Zu Sklaven nimmt man diejenigen, welche als Feinde mit Waffen in der Hand gefangen genommen worden sind, Ausländer, die, auswärts zum Tode verurtheilt, von den Utopiern losgekauft wurden und – solche Utopier welche schwere Verbrechen begangen haben: letztere werden am niedrigsten geachtet. Die Zahl der Gesetze ist sehr gering und die gewöhnliche Strafe ist Sklaverei, kommt aber nicht sehr häufig vor. Advokaten giebt es nicht, und da der Richter lediglich nach seiner persönlichen Vertrauenswürdigkeit gewählt wird, so fallen die Urtheile gewöhnlich ganz gerecht aus; in den meisten Fällen genügen Verwarnungen völlig. Streng wird auf Sittlichkeit geachtet; die Verlobten prüfen sich vor der Ehe gegenseitig genau; Ehescheidung ist möglich, aber schwer; auf Ehebruch jedoch steht Sklaverei.

Verträge mit fremden Völkern werden nicht abgeschlossen, da dieselben nach Erfahrung der Utopier doch nicht gehalten werden. Ein besonderer Greuel ist dem Volke der Krieg, obwohl es sich, Mann wie Weib, in den Waffen übt. Mit allen Mitteln, z. B. durch Bestechung der Gegner mit Gold, suchen sie ihn zu verkürzen oder wenigstens durch fremde Söldlinge ihn zu führen. Diese Abneigung gegen den Krieg hängt zusammen mit der ganzen Weltanschauung der Utopier und ihrer religiösen Grundstimmung.

Dieselbe ist auf eine ruhige und bewußte Freude am Leben gerichtet; alle Handlungen, sogar die Tugenden, werden auf die Freude des Menschen als ihren Endzweck bezogen. Der größte Theil der Einwohner glaubt an einen einzigen, ewigen, unermeßlichen, unbekannten, unerklärlichen, erhabenen Gott, den sie „Vater“, „Mythra“, nennen und dem sie alles Gute zuschreiben. Die Seele des Menschen hat Gott als unsterbliche geschaffen, damit sie glücklich sei. Neben dieser Grundanschauung und auf ihr aufgebaut gehen vielerlei eigenartige Sekten und besondere Kulte einher, die aber alle durch gemeinsame Züge verbunden sind und zum gemeinsamen Ziele Verehrung der göttlichen Natur haben. Völlige Religionsfreiheit herrscht auf Utopia, nur der eigentliche „Materialist“ wird verachtet und gestraft, weil seine Anschauung den Menschen erniedrige, der „Spiritualist“, sein Gegenbild, wird nur als Schwärmer angesehen. Die Priester sind Männer von hervorragender Frömmigkeit; sie genießen ein großes Ansehen, üben ein gewisses Censorenamt aus und leiten das öffentliche Erziehungswesen; auch Frauen gehören diesem Stande an. Der öffentliche Kultus ähnelt nach Rafaels Beschreibung durchaus dem katholischen Ritus. Gemeinsame weihevolle Feste verbinden bei erhebendem Gesang die Bürger der Insel und flößen ihnen das tröstliche Gefühl der gemeinsamen Liebe und der steten Zusammengehörigkeit ein.

In scharfen Worten stellt am Schlusse der Erzähler diesem Bilde wunderbaren Volkswohles dasjenige der damals in der alten Welt herrschenden Zustände noch kurz entgegen: der Stolz, die Leidenschaft, die Selbstsucht setze der Umwandlung der europäischen Völker einen unüberwindlichen Widerstand entgegen! Rafael wünscht von Herzensgrund allen Ländern eine Verfassung wie die, welche er geschildert hat; auch More, obwohl er gesteht, daß die Grundlage dieses Staates; nämlich die Gemeinschaft des Lebens und der Güter ohne den Gebrauch des Geldes, allen seinen Vorstellungen widerspreche, ersehnt eine Reihe der geschilderten Einrichtungen für sein Vaterland, läßt aber einen Tropfen bitteren Zweifels in diese Sehnsucht sich mischen, indem er mit den Worten schließt: „Ich wünsche es mehr, als ich es hoffe.“

Auch heute noch wird niemand das in jeder Beziehung gedankenreiche Werk des Kanzlers More lesen, ohne sich davon angezogen zu fühlen. Welch eine Gluth der Menschenliebe, welch eine Verachtung des Niederen am Menschen spricht aus diesen Schilderungen! Warum sollten wir auch nicht für diesen Mann Theilnahme gewinnen, von dem wir wissen, daß er in ruhiger Fassung, ein Scherzwort auf den Lippen, sein Haupt unter das Fallbeil legte, weil er nicht gesonnen war, sich der unwürdigen Laune eines derjenigen Fürsten zu beugen, von denen er in seinem Werke so richtig sagt, daß sie, statt als treue Hunde die Herde der Schafe zu bewachen – selbst Wölfe seien!

Bei Plato hat es sich lediglich um die folgerichtige Durchführung einer Staatsidee gehandelt; bei den christlichen Chiliasten, die wir in unserem letzten Artikel besprochen haben, trat uns ein Bild rein inneren unfaßbaren Glücks entgegen. Hier bei dem großen Engländer treffen wir zum ersten Male auf den Gedanken, thatsächliche Verhältnisse zur Grundlage zu nehmen und auf ihnen weiterzubauen; wir stehen im Morgengrauen der neuen Zeit, an der Schwelle der Erfindungen und Entdeckungen, am Beginn der großen reformatorischen Bewegung der Geister.

Die Grundlage für Mores Utopie bilden nicht abstrakte Ideen oder bestimmte Glaubenssätze, sondern ganz konkrete und anschauliche Thatsachen: auf der einen Seite die wirthschaftlichen Zustände Englands, auf der anderen die Reiseschilderungen der Seefahrer, die aus den Landen der Entdeckungen heimkehrten. Die Stelle, da das Land der Glücklichen zu suchen ist, liegt hier nicht „jenseits“ im Sinne der Propheten des Alten Testaments und der christlichen Dogmatiker, sie liegt nur „jenseits“ in geographischem Sinn – nicht in der „anderen“, unzugänglichen Welt, sondern nur auf der „anderen“ zugänglichen Halbkugel!

Es ist Thatsache, daß eine Menge kleiner Züge, welche sich in den Erzählungen des Rafael vorfinden, wirklich mit Reisebeschreibungen aus der Zeit der Entdeckungen übereinstimmt. Nichts von den Lebensgewohnheiten und Einrichtungen der Utopier trägt den Charakter des eigentlich Wunderbaren, des Unbegreiflichen; kein einziger Zug ist vorhanden, welcher nicht entsprechenden Eigenschaften des damaligen Menschen entlehnt werden konnte. Das Höchste, was sich der Utopist nach dieser Richtung hin gestattet, sind künstliche Brutanstalten für Geflügel, die allerdings auch heutzutage noch drüben im neuen Erdtheil weit großartiger zu sein scheinen als bei uns in Europa. In diesem Maßhalten der Phantasie, in dieser ruhigen Beherrschung des Gedankens liegt einer der einnehmendsten Vorzüge der Utopie. Diese ist so wenig eine bloße Nachbildung platonischer Gedanken, daß vielmehr ganze Abschnitte, so die Schilderung der Wollproduktion, der politischen und dynastischen Machinationen, des Adels etc., vollkommen treue Schilderungen der damaligen englischen Zustände genannt werden müssen. Gerade dies ist so überraschend in der Anlage, daß es unmöglich übersehen werden könnte, auch wenn man den wichtigen und überaus charakteristischen Brief nicht hätte, welchen Erasmus von Rotterdam, der berühmte Humanist, im Jahre 1519 an Ulrich von Hutten schrieb, den berühmten Ritter, der vor Sehnsucht brannte, More kennenzulernen. Dort heißt es: „Die Utopia verfaßte er (More) mit der Absicht, zu zeigen, worin es liege, daß die Staaten in schlechtem Zustand seien, namentlich aber hatte er bei seiner Darstellung England vor Augen, das er gründlich durchforscht und kennengelernt hat.“ Die Wirkung, insbesondere nach der kritischen Seite hin, war denn auch, obwohl das Werk lateinisch geschrieben ist, eine ungeheure; es wurde in fast alle Sprachen übersetzt, und es liegen Zeugnisse vor, welche seinen Eindruck auf die Geister wiederspiegeln, derart, daß viele an das wirkliche Vorhandensein der neuen Insel Utopia glaubten und daher das Verdienst des More mit dem Hinweis darauf zu verkleinern suchten, daß er ja nur eine Beschreibung der Dinge geliefert habe.

Wer die Utopia von More für einen Scherz, für eine nicht ernst gemeinte Sprachübung hält, oder auch, wer meint, More habe selbst nicht an den Inhalt „geglaubt“, der täuscht sich und versteht nicht, in dem großen Werke den Geist des großen Mannes zu lesen.

Allerdings – der kritische Zweck steht im Vordergrund: wer die Verflechtung der Geschicke des unglücklichen Kanzlers mit dem Leben des Wüterichs Heinrich VIII. kennt und weiß, daß damals die Fürsten, wie dies auch in der Utopie hervortritt, oft sowohl thatsächlich als der gemeinsamen Anschauung nach die Quellen des Guten wie des Bösen waren, das den Völkern zutheil wurde, der wird herausfühlen, daß solch eine Gegenüberstellung von Volkswohl und Tyrannenherrschaft einen denkenden Fürsten erschüttern sollte und erschüttern konnte. Die Utopia hat auch wirklich nach dieser Seite gewirkt, wenn auch nicht auf den [173] Fürsten, welchen sie zunächst anging, und sie wollte, ähnlich wie des Erasmus „Anleitung für den christlichen Fürsten“, ähnlich wie der „Fürst“ Macchiavellis, den Königen und insbesondere dem Könige zeigen, wie ein Volk regiert werden müsse, um zufrieden und glücklich zu sein. Aber neben dieser sogar bis auf die Beibehaltung der Inselgestalt und andere Einzelheiten sich erstreckenden kritischen Absicht, in welcher More dem englischen Zerrbild auf der nördlichen Halbkugel das Idealbild auf der südlichen gegenüberstellt, läuft noch eine bestimmte eigene Ueberzeugung her.

Ein sozialdemokratischer neuerer Darsteller der Utopie hat dieses Eigene, was an dem Werke ist, damit ausgedrückt, daß er More den Vater des „utopistischen Sozialismus“ nennt. Und zwar sei dieser Sozialismus utopistisch weniger wegen der Unerreichbarkeit der Ziele als wegen der Unzulänglichkeit der Mittel, die More zu deren Erreichung zu Gebote stehen oder die er anwenden wolle.

More ist, wie namentlich die Schlußbemerkung zeigt, die er selbst auf die Rafaelschen Erzählungen hin macht, bewußter wirthschaftlicher Kommunist ohne jegliche Einschränkung. Aber wie sein „Utopus“ es ist, der als kraftvoller, genialer Mensch und Eroberer die Landzunge durchsticht und das glückliche Land schafft, so denkt sich der große Kanzler Londons – und hierin ist er mit seinem Lehrer Platon einig – auch die kommende Verwirklichung des utopistischen Volksglückes von oben herab nach unten ins Leben tretend, wenn es überhaupt verwirklicht werden könne. Nimmermehr kann man also bei Morus das finden oder aus ihm herauslesen, was das innerste Wesen der modernen sozialdemokratischen Partei bildet, nämlich den Grundsatz der internationalen Verbrüderung und Organisation der Massen „von unten herauf“, noch weniger den einer schrankenlosen Volksherrschaft. Thomas More kennt nicht bloß einen König auf Lebenszeit für seine Utopier, er läßt auch von Sklaven auf Utopia erzählen, die vordem freie Bürger waren! –

Die „Utopia“ ist das Urbild für Dutzende späterer derartiger Werke geworden, die wir hier nicht aufzählen wollen, da sie alle mehr oder weniger hinter ihrem Vorbilde zurückbleiben. Mit Mores Werk treten wir ein in diejenige Periode, in der die wirthschaftlich ausgemalten Staatsromane mehr und mehr mit dem Sinn für Wirklichkeit zu rechnen anfangen und wo auch das Streben nach einer planmäßigen Verwirklichung der ausgedachten und ausgesprochenen Ziele sich zu zeigen beginnt.

Man kann von jetzt ab unterscheiden zwischen großangelegten, in allgemeinen Zügen gehaltenen Entwürfen von Staaten, Reichen etc. und zwischen kleineren, ja ganz kleinen praktischen Versuchen. Die letzteren namentlich sind deshalb von hervorragender Wichtigkeit, weil ihre Geschichte die Lehrmeisterin für die Beurtheilung der Theorien der Gegenwart sein kann, ja sein muß.