Wie ich zu dem Helden von „Sturmfluth“ kam

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Autor: Friedrich Spielhagen
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Titel: Wie ich zu dem Helden von „Sturmfluth“ kam
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 268–271
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Wie ich zu dem Helden von „Sturmfluth“ kam.

Von Friedrich Spielhagen.

Es war nach Tisch an einem Augusttage des Jahres 1874. Wir saßen – eine Gesellschaft von Herren und Damen – kaffeetrinkend in der Veranda des Kurhauses von Heringsdorf. Ein wunderlieblicher Tag: hier und da an dem tiefblauen Himmel ein weißes Wölkchen; hier und da auf der tiefblauen, von einer leichten Brise kaum gefurchten See ein weißes Segel von Vergnügungs- oder Fischerbooten; am fernsten Horizonte ein letzter verschwindender grauer Streifen Rauches aus dem Schlote eines Dampfers, der von Swinemünde nach Schweden ging. Von dem blauen Himmel und dem blauen Meere hoben sich die weißen Säulen, welche das Dach der Veranda trugen, prächtig ab – es gehörte kein großer Aufwand von Phantasie dazu, um sich nach Italien versetzt zu glauben.

Besonders nicht für mich, der ich im Frühling und Frühsommer des vergangenen Jahres Italien und Sicilien bis hinab nach Syrakus durchstreift und erst gestern von meinem Verleger die ersten Exemplare meines „Skizzenbuches“ erhalten hatte, das unter anderem auch die ausführliche Schilderung meines Aufenthaltes im Lande der Citronen und Goldorangen enthält. Eines dieser Exemplare lag, halb versteckt unter Seiden- und Wollsträhnen, in dem Nähkörbchen einer Dame, der gegenüber ich, etwas abseits von der übrigen Gesellschaft, an einem dicht an die Balustrade der Veranda gerückten kleinen Marmortischchen saß. Das Buch war auf durchaus legitime Weise in das Nähkörbchen gekommen. Oder was wäre legitimer, als daß ein Dichter sich beeilt, der schönsten Dame des Kreises, in welchem er sich augenblicklich bewegt, ein Exemplar seines neuesten Buches zu überreichen, selbstverständlich mit Hinzufügung eines handschriftlichen, für die Empfängerin nicht ganz unverbindlichen Sonetts. Zu meiner sporadischen Gelehrsamkeit gehörte die Notiz, daß bei den Phöniziern die Göttin des Liebreizes und der Anmuth „Ana“ hieß. Ich hatte es für geboten erachtet, mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit an diese philologische Thatsache zu erinnern in einem Gedichte, welches „An Anna“ überschrieben war.

Die schöne Frau hatte die kurze Sommernacht drangesetzt, um das „Skizzenbuch“ trotz seines immerhin stattlichen Umfanges von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Ich sah darin selbstverständlich nur das Interesse, welches sie für die neuere Litteratur im allgemeinen nahm, trotzdem sie jetzt die Güte hatte, mir im besonderen über die Art und Weise, wie ich Dinge und Menschen anschaue, und dergleichen mehr viel Schmeichelhaftes zu sagen.

„Wie glücklich,“ äußerte sie in dem weichen Ton ihrer Stimme, die immer wie lieblichste Musik an mein Ohr klang; „wie glücklich müssen Sie sein! Wir anderen! Nun, wir sehen das alles, fühlen das alles ja auch. Aber mit der Zeit verflattert, verweht es und schwebt nur noch als bleicher Schatten in der Erinnerung. Sie können es bannen durch den Zauber des Wortes für Sie selbst und für die anderen, die nun so an Ihrem Glücke theilnehmen dürfen.“

„Wenn dieses Glück nur nicht so theuer erkauft wäre, gnädige Frau!“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich meine, es fährt sich sehr behaglich auf der Eisenbahn in einem Coupé erster Klasse, während der Zug auf den glatten Schienen auf hohen Dämmen, durch tiefe Einschnitte, über kühne Brücken rollt mit all den hübschen Ausblicken nach rechts und links; aber von wie vielen heißen Stirnen mußte der Schweiß in Strömen rinnen, bis dem Fahrgast seine angenehme Situation ermöglicht wurde!“

„Im Gegentheil!“ sagte die schöne Frau eifrig. „Wer in der Welt könnte auf dieser Fahrt eine höhere Lust empfinden als der Meister selbst, der die Bahn gebaut hat!“

„In einem gewissen Sinne fraglos,“ erwiderte ich; „nur ist dabei ein Uebelstand. Es ist nämlich zehn gegen eins zu wetten, daß der betreffende Meister sich bereits wieder mit dem Projekte einer neuen Bahn trägt und er, den Kopf voll von dem Zukunftswerke, nicht Aug’ und Sinn mehr für das alte hat.“

Die schönen braunen Augen hoben sich mit schnellem Aufblick von der Arbeit zu mir.

„Sie haben wieder etwas unter der Feder – natürlich!“

„Unter der Feder? – leider nein! Ich werde aber allerdings schon seit geraumer Zeit von einer Idee zu einem Roman verfolgt, die mich nicht losläßt – ich darf wohl sagen: Tag und Nacht! Denn ich kann nicht in der Nacht erwachen, ohne daß sie sofort vor mir steht – wie – wie einer jener Schemen, die sich an Odysseus herandrängten, als er im Hades das Blut des schwarzen Widders in die Grube fließen ließ.“

„Nun, und –“

„Und denken Sie, dieser Schemen will nicht von dem Blute trinken, und bevor er nicht getrunken hat, kommt kein Wort über seine bleichen Lippen.“

„Wenn ich Sie verstehen soll – und ich möchte Sie gar gern verstehen – müssen Sie sich entschließen, in weniger dunklen Räthseln zu sprechen. Sie sagen, Sie haben die Idee zu einem Roman. Ich denke, das ist die Hauptsache?“

„Im Grunde, ja, und trotzdem eine Klinge, zu der der Griff fehlt und mit der man infolgedessen schlechterdings nichts anfangen [269] kann, wenigstens nichts auf dem Gebiet des Romans. Sie erinnern sich der Anfangsworte von Byrons ‚Don Juan‘?“

„I want a Hero?“

„Das ist genau mein Fall: mir fehlt es an einem – sagen wir: dem Helden.“

„Ich gestehe zu meiner Beschämung, das abermals nicht zu verstehen.“

„Da ist nichts zu schämen, gnädige Frau, so wenig als daß Sie das schmucke Boot da nicht zu steuern verstünden. Es legt eben um und scheint hierher zu wollen. Es wird bei dem Winde noch ein paar Schläge machen müssen.“

„Ich glaube, Sie sind unter anderem auch Seemann?“

„So ein bißchen davon. Ich bin ja an der Küste dieses Meeres groß geworden.“

„Ich weiß; aber bleiben wir bei unserem Thema! Es interessiert mich zu sehr. Was ist das mit dem Helden, den Sie ja, wie ich wohl begreife, zu einem Roman haben müssen und den Sie nicht finden zu können behaupten, was ich nicht begreife. Das scheint mir doch verhältnißmäßig das Allerleichteste.“

„Unter Umständen ja, wenn er mit der Idee, wie es wohl geschehen kann, zusammen geboren und eins mit und untrennbar von ihr ist. Die Sänger der Ilias und der Odyssee sind gewiß nicht um ihre Helden verlegen gewesen. Auch Cervantes, wenn er das abgelebte Ritterthum und die schwulstigen Abenteuerromane verspotten wollte, hat sicher nicht lange nach dem edlen Manchaner zm suchen brauchen, wobei ihm der Ruhm, im Finden und Erfinden dieser Gestalt eine der allergrößten dichterischen Thaten vollbracht zu haben, unbestritten bleiben soll. Um das Stück Welt zu sehen, das diese und andere Dichter schildern wollten, gab es, sozusagen, nur dies eine Fenster. Aber so einfach liegt die Sache nicht immer. Es kommen Fälle, in denen das Weltfragment, welches der Romandichter seinem Leser vorzuführen gedenkt, sehr kompliziert ist, so daß es schwer hält, es von einem Standpunkte zu überblicken; oder um ein anderes Bild zu brauchen: der Strom seiner Dichtung ein an Quellen besonders reiches Gebiet durchläuft, die doch alle in das eine Strombett geleitet sein wollen, wenn ein für die Phantasie überschauliches Ganzes, d. h. ein Dicht- und Kunstwerk, daraus werden soll. Die Bürgschaft aber, daß es ein solches wird, kann einzig und allein der Held übernehmen. Er und er allein sorgt dafür, daß die Phantasie sich nicht ins Grenzenlose verläuft – eine Gefahr, die für keinen Dichter so groß ist wie für den epischen. ‚Melde den Mann mir, Muse, den Vielgewandten‘ – sehr schön! aber: ‚der vielfach umgeirrt, als Troja, die heilige Stadt, er zerstöret; vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat‘ – da fängt die Gefahr für den Sänger an: die Gefahr, daß er die Geister, die er rief, nicht wieder los wird und vor all’ den Städten all’ der Menschen, die sein Held gesehen und die er uns nun auch sehen lassen möchte, den Helden aus den Augen verliert, und daß so statt der Odyssee eine Art ‚Voyage du jeune Anacharsis en Grèce‘ zustande kommt – sehr lehrreich zu lesen, aber nur bei Leibe kein Dichtwerk.“

„Und davor schützt den Dichter der Held?“

„Ich wiederhole: er einzig und allein. Mit ihm fängt der Roman all, mit ihm endet er. Was vor seinem Auftreten etwa geschieht, ist gewissermaßen nur Präludium; was, nachdem er abgetreten, Nachklang und Nachspiel. Er ist das Centrum, welchem innerhalb der Peripherie alles zustrebt; er ist auch der Radius, welcher den Umfang der Peripherie bestimmt. Wer und was nicht mit dem Helden in irgend einem Zusammenhange steht, gehört nicht in den Roman, und dieser Zusammenhang darf nicht zu entfernt sein, oder der Roman verliert in dem Maße der Entfernung an Uebersichtlichkeit und mit der Uebersichtlichkeit an Schönheit.“

„Und dieser Allerweltsmann von einem Helden fehlt Ihnen für Ihren Roman?“

„Leider.“

„Und Sie können, bis Sie ihn haben, nicht anfangen?“

„Nicht eine Sekunde früher.“

„Ja aber, was ist da zu thun?“

Ich zuckte die Achseln.

„Geduld haben, gnädige Frau, und fromm sein. Den Frommen soll es ja der Herr im Traume schenken. – Sie brechen auf?“

„Mein Fräulein ist krank; ich muß einmal nach meinen Kindern sehen.“

„Und ich hatte mich so auf den obligaten Nachmittagsspaziergang gefreut!“

„Aus dem wird wohl heute nichts werden. Vielleicht eine Abendpromenade am Strande. Inzwischen schlafen Sie vielleicht ein Stündchen. Es ist von wegen des Traumes, wissen Sie – des Traumes vom Helden!“

Die schöne Frau hatte ihre sieben Nähsachen in das Körbchen zusammengepackt, das Körbchen in die Hand genommen und mit einem freundlichen Lächeln zu mir und einem anmuthigen Nicken des Kopfes gegen die übrige Gesellschaft die Halle verlassen.

Die Gesellschaft war inzwischen ziemlich zusammengeschmolzen; von denen, die geblieben, gehörte keiner zu meinen näheren Bekannten; so mochte ich ruhig auf meinem Platze verbleiben. Das Gespräch, das ich mit der schönen Freundin geführt hatte, ging mir weiter durch den Kopf. Welcher Genuß war es doch, mit einer klugen Frau über diese Dinge sich zu unterhalten! Wie hatte sie alles so mühelos verstanden! Wenn ich jetzt einschlief – müde genug war ich – und mir der Himmel im Traum meinen längst ersehnten Helden schenkte – mein Verdienst würde es nicht sein; nur, weil die liebe Heilige für mich armen Sünder gebeten!

Während ich so, wirklich halb träumend, dasaß, war das Fahrzeug, auf das ich vorhin ihre Aufmerksamkeit gelenkt hatte, näher gekommen. Daß es keines der gewöhnlichen Fischerboote von hier oder Ahlbeck war, hatte ich längst gesehen. Es erinnerte mich in seinem Bau und seiner Takelage an den Regierungskutter, auf dem ich mit meinem verstorbenen Vater seiner Zeit so manche schöne Fahrt auf den pommersch-rügenschen Gewässern gemacht hatte. Und jetzt war es so nahe, daß ich durch den Krimstecher, den ich selten auf dem Zimmer ließ, die Flagge erkennen konnte: ein Lotsenbot, und dann vermuthlich das des Kommandeurs. Nun brauchte ich nicht länger mit meiner Müdigkeit zu kämpfen; eifrig beobachtete ich jedes Manöver des Kutters, der sich im Zickzack vollends herankreuzte und jetzt, immer noch in einiger Entfernung vom Ufer, die Segel reffte und den Anker fallen ließ. Dann wurde die Jolle längsseit geholt, ein Mann in Uniform – jedenfalls der Herr Kommandeur – bestieg sie, betrat nach wenigen Minuten die Landungsbrücke und kam, als er den Strand erreicht, geradeswegs auf das Kurhaus zu, begleitet von ein paar Herren, die [270] ihn auf der Landungsbrücke erwartet hatten. Einer dieser Herren war mir bekannt; und er muß es gewesen sein, der mich dann wieder mit dem Lotsenkommandeur Friedrich Müller bekannt machte, nachdem die kleine Gesellschaft auf der Veranda in meiner Nähe sich niedergelassen, ein Glas Wein zu trinken.

Wer „Sturmfluth“ gelesen hat, weiß, daß dies der große, von mir so heiß ersehnte Augenblick war, in welchem mir auf die Fürbitte meiner lieben Heiligen der Held des Romans beschert wurde.

Außer gewissen anderen Eigenschaften, von denen wir alsbald zu sprechen haben werden, befähigte den Mann dazu auch seine Erscheinung, die ich, bereits ehe ich ihm vorgestellt war, mit Vergnügen beobachtet hatte: die Gestalt etwas über Mittelgröße, der man ihre Kraft und Geschmeidigkeit ansah; ein von einem braunen oder dunkelblonden Bart umrahmtes männlich schönes Gesicht, aus dessen offenen Zügen Entschlossenheit und Bravheit, Intelligenz und Herzensgüte sprachen. Besonders imponierte mir der klare feste Blick der großen blauen echten Seemannsaugen.

An Anknüpfungspunkten zu einem lebhaften Gespräch fehlte es uns beiden nicht. Kannte ich doch den Schauplatz seiner Thätigkeit, das Meer zwischen Pommern und Rügen und die Küsten, die es umschließen, so gut! Mehr als einmal war ich in Begleitung meines Vaters, dem, als Regierungs- und Baurath des Bezirkes, auch die königlichen Lotsenstationen unterstanden, in dem Dorfe Thiessow auf der rügenschen Halbinsel Mönchgut gewesen, wo jetzt, wie sein Vorgänger, auch der Lotsenkommandeur Müller residierte. Selbstverständlich hatte ich diesen seinen Vorgänger gut gekannt; mehr noch: der originelle, behaglich rundliche Mann mit der unverwüstlichen Gutmüthigkeit und unerschütterlichen Seelenruhe war für mich das Urbild meines Lotsenkommandeurs in der Novelle „Auf der Düne“ gewesen. Weiter: der Schauplatz besagter Novelle war die winzig kleine Insel Ruhden zwischen Mönchgut und der pommerschen Küste, die man im Scherz meines Vaters Königreich nannte, weil er sie durch geschickte Bauten und zweckmäßige Pflanzungen so wacker und erfolgreich gegen die anstürmenden Fluthen vertheidigte und so dem Staate eine wichtige Lotsenstation erhielt, über welche jetzt Friedrich Müller kommandierte, wie zu meiner Knaben- und Jünglingszeit der gemütliche prächtige W.

Ich hatte dem Kommandeur durch die Anekdoten, die ich von dem liebenswürdigen alten Herrn zu erzählen wußte – der, nebenbei bemerkt, auch meinem Landsmann Heinrich Kruse in seinen köstlichen „Seegeschichten“ wiederholt Modell gestanden hat – manch behagliches Lächeln entlockt; aber bald kam ein ernsteres – ein furchtbar ernstes Thema an die Reihe: die Sturmfluth vom Herbst 1872.

Aus Gründen, die der Leser bereits ahnt, war mir dieses Thema ganz besonders interessant, und ich zweifle keinen Augenblick, daß ich den Kommandeur darauf hingelenkt hatte. Selbstverständlich hatte ich alles gelesen, was die Zeitungen seiner Zeit über das ungeheure Ereigniß gebracht; aber hier durfte ich, ich möchte sagen: aus der Quelle schöpfen. Am 1. November 1872 war Friedrich Müller auf die Lotsenkommandeurstelle in Thiessow berufen worden; ein paar Wochen später kam die Sturmfluth. Der Mann durfte beweisen, daß man sich nicht in der Person vergriffen hatte, als man ihm den verantwortlichen Posten anvertraute. Von dem, was er uns über seine persönliche Betheiligung an den Ereignissen jener Schreckenstage mittheilte, geziemt mir hier zu schweigen. Ich müßte fürchten, nach so langer Zeit nicht mehr sicher in den Einzelheiten zu sein, und erfunden habe ich auf Kosten des bescheidenen Mannes schon gerade genug. Ebenso muß ich auf die Auseinandersetzung der interessanten Theorie verzichten, die er sich von der Entstehung der Sturmfluth gemacht hatte und nun uns, seinen dankbaren Zuhörern, zum besten gab. Der Leser findet sie in dem neunten Kapitel des ersten Buches von „Sturmfluth“, wo ich sie – wie sie mir im Gedächtniß geblieben war – meinen Helden Reinhold Schmidt auf Schloß Golm der um die Abendtafel versammelten Gesellschaft vortragen lasse.

Wie interessant mir der Mann durch das alles schon geworden war! Und doch sollte das Beste, das Entscheidende, das, wofür ich ihm Zeit meines Lebens die innigste Dankbarkeit bewahren werde, noch kommen!

Nun weiß ich nicht: waren die beiden Herren, die bis dahin in unserer Gesellschaft gewesen waren, verschwunden, oder nur für mich verschwunden, weil ich für niemand sonst noch Aug’ und Ohr hatte, als für ihn allein – an dem ich mich fest gesogen wie die Biene an der Honigblume – jedenfalls hat sich die Sachlage in meiner Erinnerung so gestaltet, daß wir einander gegenübersitzen, auf dem kleinen Tische zwischen uns eine Flasche Röderer carte blanche, aus der bald er mir einschenkt, bald ich ihm das Glas fülle; und er erzählt – aber nicht mehr von dem Graus der Sturmfluth, sondern die Geschichte seines Lebens.

Ich frage mich jetzt, wie das möglich gewesen ist nach einer Bekanntschaft von zwei Stunden. Aber es hat Philosophen gegeben, die behaupteten, daß die Zeit, die immer war und immer kommt, gar nicht existiere, außer in der Vorstellung der Menschen, die sich ohne diesen Ariadnefaden in der konfusen Welt vollends verirren würden. Sicher ist sie ein sehr relatives Etwas, wie jeder Liebende bestätigen wird, der die Allgewalt des „Herrschers Augenblick“ empfunden. Mit der Freundschaft ist es nicht anders. Auch sie kann einem allerersten Eindruck ihr Dasein verdanken. Es gehört nur die Berührung zweier Geister dazu, die sich durchaus sympathisch sind. Das findet nicht eben häufig statt, und in die Wahl des Menschen ist es nicht gegeben – es ist ein Geschenk des Zufalls, der uns im Leben soviel böse Streiche spielt und für dies eine Mal ausnahmsweise seine Gebelaune hat.

Nun denn, hier hatte er seine Gebelaune, seine allerbeste, und zwei Männer zusammengeführt, die sich nur in die Augen zu sehen brauchten, um einer den anderen von allen Präliminarien der gewöhnlichen Freundschaft zu entbinden. Wenn ich eine Million gehabt hätte, dem da mir gegenüber hätte ich sie ohne weiteres in Verwahrung gegeben, und wenn er mir nun, wie er es that, die Geschichte seines Lebens erzählte – was war es anderes als ein Beweis der herzlichen Zuneigung, die er für mich gefaßt, und ein Votum unbedingten Vertrauens?

Habe ich dies Vertrauen mißbraucht, als ich die „Sturmfluth“ schrieb? Ich tröste mich mit der Zuversicht, daß Friedrich Müller selbst, wenn er – was sicher der Fall gewesen ist – das Buch gelesen, mich von diesem Vorwurf freigesprochen hat. Sind doch die Thatsachen, wie der Leser sich überzeugen wird, so verwandelt und verschleiert, daß der wahre Zusammenhang nur den Menschen, die ihm im Leben nahe standen, klar sein konnte, für alle übrigen aber undurchdringliches Geheimniß bleiben mußte. Und nach einer Seite hätte ich überhaupt gar keine Diskretion zu üben brauchen: dieser Mann durfte in einem Hause von Glas wohnen.

Dann war unsere Flasche – es mögen auch ihrer zwei gewesen sein – zu Ende; er wollte diesen Abend noch nach Swinemünde; der übrigens günstige Wind hatte stark abgeflaut, würde sich aber, wie er sagte, später wieder aufmachen. Jedenfalls mußte geschieden sein. Ich gab ihm das Geleit bis zum Kopfe der Landungsbrücke. Wir schüttelten uns die Hände. Er stieg in seine Jolle. Ich blickte ihm nach, bis er den Kutter erreicht, der schon die Segel aufgezogen hatte. Er winkte, auf dem Decke stehend, mit der Hand. Der Kutter drehte in den Wind. Er hatte das Steuerruder ergriffen; das große Segel schob sich zwischen mich und ihn. Ich habe ihn nie wiedergesehen. –

Am nächste Vormittag traf ich meine schöne Freundin wieder in der Veranda. Sie saß auf ihrem gewohnten Platze an der Balustrade; das lichtbraune Haar floß ihr, aufgelöst, in pruchtvollen Wellen bis über den Gürtel.

„Aber, mein Gott,“ sagte sie nach der ersten Begrüßung, „was ist Ihnen? Sie sehen blaß aus, ordentlich mit Ringen unter den Augen. Haben Sie so schlecht geschlafen?“

„Ich habe gar nicht geschlafen, gnädige Frau.“

„Aber Sie sollten es doch und von Ihrem Helden träumen!“

„Ich habe von ihm geträumt – mit offenen Augen. Er ist gefunden, gnädige Frau, und der Roman ist fertig!“

Sie sah mich mit ungläubigem Lächeln an.

„Das geht schnell,“ sagte sie.

„Freilich,“ rief ich, „denn

‚Aus den Wolken muß es fallen,
Aus der Götter Schoß das Glück.‘

Haben Sie Zeit und Geduld, mir zuzuhören?“

„Einen Ocean von beiden.“

„Nun denn! Ich sagte Ihnen gestern, daß ich mich schon seit einem Jahre und darüber mit der Idee zu einem Roman trage, den ich nicht beginnen könne, weil mir der Held fehle. Heute, da ich meinen Helden sicher habe, darf ich auch von der [271] Idee sprechen. Sie ist in aller Kürze folgende: ich möchte ein Bild der Verwüstung geben, welche der Milliardenunsegen in ökonomischer und sittlicher Beziehung über Deutschland gebracht hat. Den Verlauf, welchen diese Dinge genommen, habe ich aufs eifrigste studiert aus den Zeitungen und Broschüren, die aber nicht so wichtig waren wie die Mittheilungen meiner Freunde – Finanzleute, Industrielle, Politiker, die mitten in dem Getriebe stehen und auf deren Aussagen und Urtheil ich mich verlassen darf. Als Eduard Lasker, dem ich, wie Sie wissen, sehr nahe stehe, am 12. Mai im Reichstag seine prachtvolle Rede gegen den Gründungsschwindel gehalten hatte, wollte ich ihn zum Helden meines Romans machen, aber ich stand bald wieder davon ab: ein Romanheld darf nicht zu aktiv sein, nicht an der Spitze der Phalanx marschieren; er absorbiert sonst alles Interesse, und für die anderen, die man auch gern auf den Plan bringen möchte und bringen muß, soll man sich in die nöthige epische Breite entfalten können, bleibt nichts oder nicht genug übrig. Auch sah ich, mit Lasker als Helden, keine Möglichkeit, die Sturmfluth vom Herbste 1872 in meinen Plan zu ziehen; und davon konnte ich nicht lassen; das war bei mir zur fixen Idee geworden: der Zusammenkrach des Gründungsschwindels und die verheerende Fluth in einen Zusammenhang zu bringen, trotzdem sie schlechterdings nichts miteinander zu thun haben, ja selbst der Zeit nach mindestens ein halbes Jahr auseinanderliegen. Und durch Laskers Rede, die, wie Sie sich erinnern, eine specifisch pommersch-rügensche Gründung zum Gegenstand hat, bin ich vollends in meinem Vorhaben bestärkt: Pommern-Rügen, der Schauplatz der Sturmfluth, muß auch der Schauplatz meines Romans und ‚Sturmfluth‘ muß sein Titel sein.

Aber soweit, oder ungefähr soweit war ich bereits gestern und würde heute noch nicht weiter sein, wäre, nachdem Sie mich gestern nachmittag verlassen, er nicht gekommen.“

„Wer?“

„Mein Held!“

„Der Herr, mit dem Sie hier, wie ich höre, eine so wenig kurgemäße Sitzung gehabt haben?“

„Derselbe – und der mir die Geschichte seines Lebens in großen Zügen erzählt hat, von der das für mich Wichtige und Entscheidende dies ist:[1] Reinhold Schmidt –Pardon! in Wirklichkeit heißt er Friedrich Müller – hatte als Kauffahrerkapitän in einer preußischen Ostseestadt die Bekanntschaft der Familie eines hochstehenden Offiziers gemacht und eine leidenschaftliche Liebe zu der schönen Tochter des Hauses gefaßt. Indessen stellten sich der Vereinigung des liebenden Paares Hindernisse entgegen, die er mir nicht näher bezeichnet hat. Es mußte vor der Hand geschieden sein. Das war kurz vor dem Jahre 1870. Im Juli dieses Jahres lag Müller mit seinem Schiffe im Hafen von Cardiff, im Begriff, eine lange Fahrt nach einem überseeischen Lande anzutreten. Da erreicht ihn die Nachricht vom Ausbruch des Krieges. Er wartet nicht auf seine Stellungsordre, giebt sein Kommando in die Hände der Reeder zurück, eilt, so schnell er kann, in die Heimath, meldet sich bei seinem Regiment, macht ein halbes Dutzend der Hauptschlachten mit, erkämpft sich das Eiserne Kreuz und den Offiziersrang, schließlich auch die Geliebte, die der Vater jetzt willig den Händen eines Mannes anvertraut, von dessen Tapferkeit er sich während des Feldzugs mit eigenen Augen überzeugt hat.“

„Das ist alles?“ fragte die schöne Frau verwundert.

„Das ist alles!“ rief ich begeistert, „wenigstens alles, was ich brauchte: der feste Punkt, auf dem stehend ich die Welt, an der mir liegt, aus den Angeln hebe. Gestern lächelten Sie ungläubig, als ich Ihnen die Tugenden eines Helden für den Roman aufzählte; jetzt kann ich Sie überzeugen – überzeugen von der Kraft, die der Held ausstrahlt, so mächtig, daß, was gestern im besten Falle Schemen waren, heute Menschen von Fleisch und Blut sind. Und damit ist schon viel zu viel gesagt: sie sind, weil er ist. Weil er ist – lachen Sie nicht! – ist sie da, sein geliebtes Mädchen, dem selbstverständlich die Ehre der Mitregentschaft im Roman zufällt. Das holde Wesen führt mir ihren Vater, den General, zu; außerdem ihren Bruder – er heißt Ottomar, ist Offizier und liebt Ferdinanden, Onkel Schmidts geniale Tochter. Wer Onkel Schmidt ist? Aber, gnädige Frau, Reinhold, mein Held, kann doch nicht allein in der Welt stehen. Einen Vater hat er sich verbeten; der würde seine Selbständigkeit zu sehr drücken; er zieht also einen Onkel vor. Wenn General von Werben – so heißt er – arm ist – denken Sie an die Hindernisse, die sich der Vereinigung der Liebenden in der wahren Geschichte entgegenstellten! – so ist Onkel Schmidt desto reicher; aber noch nicht so reich wie sein Sohn Philipp, Ferdinandens Bruder, in welchem ich die Ehre habe, Ihnen den ersten Gründer in meinem Roman vom Gründungskrach zu präsentieren: den bürgerlichen Gründer. Einen vom Adel – und der dem bürgerlichen an Verwegenheit noch über ist – hätte ich schon erwähnen sollen: er tritt, soviel ich weiß, wenn nicht im ersten, so doch in einem der ersten Kapitel auf. Es ist Graf Golm. Sie kennen den Grafen Golm nicht? Aber, Sie sagten mir doch neulich, Sie hätten Laskers Rede – aber freilich, bei Lasker heißt er anders. Namen thun ja nichts zur Sache, und die Sache ist, daß Graf Golm für die von ihm und Genossen im Interesse ihrer Güter projektierte pommersch-rügensche Eisenbahn die Subvention des Staates haben will und haben muß, soll über die hochgeborene Clique nicht der schmählichste Bankerott hereinbrechen. Der General von Werben ist gegen das Projekt, vor allem gegen die Anlage eines Kriegshafens, in welchem die Bahn auslaufen wird, auf Golmschem Grund und Boden an der Ostküste Rügens, eben der, welche dem ersten Anprall einer Sturmfluth, wenn sie kommt, ausgesetzt ist. Und Reinhold Schmidt ist überzeugt, daß sie kommen wird. Sollte er da nicht gegen das Schwindelprojekt sein und sich dadurch die bittere Feindschaft des Grafen Golm um so sicherer zuziehen, als dieser auch sein Nebenbuhler in der Bewerbung um die Gunst der schönen Generalstochter ist?“

Und so erzählte ich der erstaunten schönen Frau beinahe den ganzen Roman. Nicht, wie er heute dem Leser als Buch vorliegt! Zwischen einem Romanplan, wäre er dem Dichter noch so deutlich, und seiner Ausführung schwebt noch gar viel! Da sind Ströme zu überbrücken, Abgründe auszufüllen, Berge abzutragen, an die man nicht gedacht, von denen man sich nicht hat träumen lassen. Das kostet unsägliche Geduld, erfordert eine nicht zu brechende Energie. Aber Geduld und Energie sind Tugenden, die man sich anerziehen kann und der Romandichter sich anerziehen muß, oder er mag das Metier nur aufgeben. Und die Ausübung dieser Tugenden wird ihm nicht allzu schwer werden, so er nur seinen Helden hat. Dann darf er sich versichert halten, daß er an dessen starker Hand zum Ziele gelangen wird, mag der Weg auch noch so lang und beschwerlich sein.

„Glauben Sie nicht, gnädige Frau?“

„Weshalb sollte ich es nicht glauben, da Sie es mich versichern, der Sie schon soviel Erfahrung in diesen Dingen haben. Und so wünsche ich Ihnen denn von ganzem Herzen Glück und Segen zu Ihrem Werke.“

Der Wunsch der gütigen Freundin ist in Erfüllung gegangen, ich habe an der „Sturmfluth“ viel Freude erlebt, die nur durch eines getrübt ist: daß ich dem Manne, dem ich für das Zustandekommen des Werkes soviel, ich möchte sagen alles, verdanke, im Leben nicht noch einmal habe die Hand drücken dürfen.




  1. Wenn der folgende kurze Bericht mit einem längeren, welcher vor einigen Monaten unter dem Titel „Ein Held in Leben und Dichtung“ seinen Weg durch die Zeitungen gemacht hat, ziemlich wörtlich übereinstimmt, so braucht man mich nicht des Plagiats zu beschuldigen. Jener Zeitungsartikel hat zum Verfasser einen meiner jüngeren litterarischen Freunde, welcher mich gebeten hatte, ihm meine Beziehungen zu Friedrich Müller, der am Neujahrstag dieses Jahres zu Swinemünde gestorben war, mitzutheilen behufs eines Nekrologes, mit dem er den Dahingeschiedenen zu ehren gedachte. Er hat von meiner ihm gern ertheilten Erlaubniß, sich des Inhalts meines Briefes nach Gutdünken bedienen zu dürfen, den entsprechenden Gebrauch gemacht, und ich habe ihn nur um Entschuldigung zu bitten, wenn ich zum Zwecke dieses für die „Gartenlaube“ bestimmten Aufsatzes das ihm Anvertraute nachträglich doch auch wieder für mich verwerthen muß. Ueberdies enthält seine Darstellung verschiedene Berichtigungen der meinigen, wie ich ihm auch für die Mittheilung mancher Daten aus dem Leben Friedrich Müllers, die mir entfallen oder unbekannt geblieben waren, zu Dank verpflichtet bin; so: daß er 1835 in Luckau als Sohn eines königlichen Forstmeisters geboren wurde, das Gymnasium seiner Vaterstadt besuchte und als Einjähriger bei den Lübbener Jägern seiner Wehrpflicht genügte, bevor er sich dem Seemannsberufe widmete. Weiter: daß unser Kronprinz selbst es gewesen ist, der ihm nach der Schlacht von Wörth das Eiserne Kreuz überreichte; daß ihm für seine bei der Bergung der Mannschaft einer Bark am 5. Dezember 1875 bewiesene Aufopferung die Rettungsmedaille am Bande verliehen wurde; schließlich, daß seine Versetzung von Thiessow nach Swinemünde am 1. Januar 1885 erfolgte, an welchem Orte er denn auch gestorben ist.