Wildemann
Als die ersten Bergleute in den Harz kamen
und von Zellerfeld aus in die Umgegend gingen
und Erze suchten, kamen sie auch in das Innerstetal,
da, wo jetzt die Bergstadt Wildemann ist.
Die Innerste war gerade angeschwollen gewesen
und hatte einige Gänge aufgewaschen; diese fanden
die Bergleute, dabei gerieten sie aber auch auf
eine Menschenspur, die im Innersteschlamm zu
sehen war. Die Bergleute wußten, daß keine
Menschen weiter im Harz waren, als sie; deshalb
suchten sie weiter und sahen bald darauf einen
Menschen in der Nähe der Gänge, der lief nackend
und sein Weib auch, beide hatten Mooskappen
auf dem Kopf und einen Laubgürtel um den Leib.
Wenn die Bergleute ihnen nahe kamen, so rannten
sie fort, so scheu und wild waren sie, und verstanden
auch nicht, wenn sie gerufen wurden. Oft
hatten die Bergleute Jagd darauf gemacht, sie aber
niemals erwischt. Die Bergleute gaben sich
alle mögliche Mühe, die Menschen zu fassen, es
mißlang aber immer. Endlich verwundete man den
Mann so, daß er nicht fort konnte und fing ihn
dadurch. Er war groß und stark, hatte einen
langen dicken Bart und lebte mit seinem Weibe,
das ihm ähnlich war, in dieser Einsamkeit des
Waldes. Sie nährten sich von Beeren und Wildfleisch,
und der Mann hatte einen ziemlich starken
Tannenbaum in der Hand, den er auch als Waffe
gebrauchte. Dabei konnten sie furchtbar schnell laufen,
waren gelenk wie die Eidechsen, und stark wie
Riesen. Es war daher keine Kleinigkeit, den Mann
zu fangen. Was das für ein Kampf war, kann
man gar nicht erzählen. Als sie den wilden Mann
gefangen hatten, – sollte er arbeiten, er tat’s aber
nicht. Man fragte ihn, woher er wäre, und was
er getan hätte, er antwortete aber nicht. Man
reichte ihm Essen und Trinken, er berührte nichts.
Dabei sah er immer nach der Gegend hin, wo die
Gänge waren, als könne er sich nicht davon trennen.
Bis dahin hatte man zwar Ganggestein gefunden,
aber es war kein Erz darin. Da nun der Mann
durchaus stumm war und blieb und auch kein Wort
verstehen wollte oder konnte, so schickte man ihn
nach Braunschweig zum Herzog. Der Herzog bekam
ihn aber nicht zu sehen, denn auf dem Wege dahin
war er gestorben. An dem Tage, an dem die
Nachricht zurück kam, daß der wilde Mann unterwegs
gestorben wäre, gruben die Bergleute an der
Innerste das erste Erz auf, das war sehr reich an
Silber, und die erste Grube daselbst wurde der alte
Wildemann, jetzt Ernst August genannt. Zum Andenken
an den wilden Mann, der wahrscheinlich die
Gänge so lange taub gemacht, so lange er lebte,
pflanzte man auf die Stelle, wo er gefangen war,
eine Linde, baute sich da an, nannte den Ort
Wildemann und nahm das Bild des Wildenmanns
in das Stadtsiegel auf, daher der Name und das
Wappen der Bergstadt Wildemann. Die Linde
steht jetzt noch vor dem Rathause, ist aber ganz
hohl, darin sind aber drei junge Linden empor
gewachsen, die sie stützen, und erneuen die alte Linde.