Winzige Verderber

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Textdaten
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Autor: W. H.
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Titel: Winzige Verderber
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 80–82
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Winzige Verderber.

Manches Gute hat die neue Welt der alten geschenkt zum Danke für ihre Civilisation, und viele ihrer Erzeugnisse möchten wir heute um keinen Preis mehr missen. Aber auch andere Gaben hat uns Amerika gesandt, für welche wir ihm weniger dankbar sind. Von der entsetzlichen Bettwanze nicht zu reden, deren transatlantischer Ursprung – sie soll mit canadischen Hölzern nach dem großen Brande vom Jahre 1666 in London eingeschleppt worden sein – in der neueren Zeit erfolgreich bestritten worden ist, auch der Muskito’s nicht zu gedenken, welche im Sommer 1874 plötzlich in Darmstadt aufgetreten sind, wahrscheinlich mit Droguen für eine dortige große chemische Fabrik über das Meer gebracht, so bleibt noch eine ganze Reihe von gefährlichen Eindringlingen aus dem Thier- und Pflanzenreiche aufzuzählen, die voraussichtlich sogar noch auf zahlreichen Zuwachs zu rechnen hat, so daß in dieser Hinsicht stete Vorsicht anzuempfehlen sein wird. Welche Gefahren hier drohen, wie außerordentlich die Verluste sind, die dem Nationalvermögen durch das massenhafte Auftreten eines kaum sichtbaren kleinen Insects zugefügt werden können, davon hat die Gegenwart ein betrübendes Beispiel erhalten durch die Verbreitung der Wurzellaus des Rebstockes, Phylloxera vastatrix. Da dieselbe trotz aller Gegenmaßregeln von Jahr zu Jahr in rapidem Maße zunimmt und zu einer allgemeinen Plage für die Länder des edlen Weinbaues zu werden droht, so wird eine kurze Nachricht über das Wesen, die Naturgeschichte und die Schädlichkeit der neuen Geißel des Rebstockes den Lesern der Gartenlaube wohl nicht unwillkommen sein.

Es sind erst zwölf Jahre her, daß man in Südfrankreich auf eine eigenthümliche, vordem unbekannte Krankheit der Weinreben aufmerksam wurde. In früheren Zeiten hätte man dieselbe Gott weiß welchen Ursachen zugeschrieben, in denen der wissenschaftlichen Forschung und des Mikroskopes fand man aber bald aus, daß die Wurzeln der Pflanze von zahllosen Schmarotzern aus der Familie der Aphiden oder Blattläuse besetzt seien, welche derselben den Saft entzögen und sie somit zum Absterben brächten. Anfangs nahm man die Sache leicht, allein schon nach wenigen Jahren gewann sie ein sehr bedenkliches Aussehen. Mit reißender Schnelligkeit, die man auf fünfundzwanzig Kilometer von einem Infektionsherde aus im Laufe eines Sommers schätzt, schritt das Uebel nach allen Richtungen hin vorwärts; es überfiel die gesegnetsten Weindistricte Frankreichs einen nach dem andern. Binnen zehn Jahren hatte es sich über eine Million Hectar erstreckt und einen Schaden von dreißig Millionen Franken angerichtet. Weite Flächen, sonst übergrünt vom fröhlichen Rebenlaube, standen jammervoll verdorrt, und Tausende von fleißigen Winzern rangen die Hände über den räthselhaften Entgang ihrer Ernten. Im Auslande aber, namentlich überall dort, wo Weincultur florirt, blickte man mit Spannung nach dem Nachbarlande, in steter Erwartung, daß doch endlich der eingebrochenen Noth ein Damm gesetzt und dadurch das eigene Rebengebiet vor der Einschleppung behütet werde. Vergeblich, die Hiobsposten mehrten sich von Jahr zu Jahr. Schon 1870 wurde bekannt, daß auch in Portugal, namentlich am Douro, dem Districte der berühmten Portweine, die Reblaus verheerend aufgetreten sei; ganz gewiß ist sie auch schon bei den Spaniern eingekehrt, allein diese haben bekanntlich gegenwärtig keine Zeit, sich um dergleichen Bagatellen zu kümmern. In Oesterreich wurde sie im Jahre 1872 aufgefunden, bisher nur an einer Stelle, in der Schweiz im Herbste 1874 und endlich auch schon am deutschen Rheine, in einem Weingarten bei Bonn. So werden denn die winzigen Verderber, wie es scheint, die Rundreise machen durch alles Weinland, gleich als wollten sie die hochgerühmte Intelligenz und Thatkraft des Menschengeschlechts herausfordern zum Kampfe gegen eines der unbedeutendsten Wesen der Schöpfung.

Sobald man ein Uebel mit Erfolg bekämpfen will, muß man es möglichst genau kennen zu lernen suchen. An Bestrebungen dazu hat es, trotz zu bewältigender großer Schwierigkeiten, gegenüber der Wurzellaus des Weinstockes nicht gefehlt; die hervorragendsten Gelehrten, wie Balbiani, Lichtenstein, Dumas, Rösler, Vogt und Andere, haben sich eingehend damit beschäftigt, aber noch sind nicht alle Räthsel gelöst. Man hat es hier mit einem Thiere zu thun, das einer ganz absonderlichen Gruppe angehört, deren Lebensmetamorphosen den Forschern schon vieles Kopfzerbrechen gemacht haben. Was wir über seine Naturgeschichte mit Bestimmtheit wissen, ist das Folgende.

Die Reblaus oder Wurzellaus des Rebstocks, Phylloxera vastatrix (von φύλλον, Blatt und ξηραίνειν vertrocknen) ist eine Blattlausart, deren nächste Verwandte auf den Blättern der Eichbäume (daher der griechische Name) leben, während sie selber ein unterirdisches Dasein an den Wurzeln des Weinstocks führt. Das Insect ist mikroskopisch klein, nur punktgroß, vereinzelt

[81] daher mit unbewaffnetem Auge schwer zu entdecken. Seine Farbe ist gelb. Da immer eine große Zahl von Rebläusen dicht zusammengedrängt sitzt, so sind die dadurch gebildeten gelben Flecken deutliche Merkmale des Vorhandenseins, das dann unter der Loupe leicht zu constatiren ist. Die Vermehrung dieser Insecten geschieht in verschiedener Weise, am meisten durch geschlechtslose, besser vererbte Zeugung. Wie bei den Blattläusen überhaupt, entwickeln sich die Männchen erst kurz vor Winter, als vollkommene Insecten;

Fig. 1.

die Weibchen werden befruchtet und legen dreißig bis vierzig Eier, welchen im Frühjahre nur weibliche, oder geschlechtslose Individuen, sogenannte Ammen, entschlüpfen, die in verschiedenen Generationen, deren man bis zwölf im Laufe eines Sommers annehmen will, fort und fort Eier legen, bis die Befruchtungskeime erschöpft sind. Alsdann verwandeln sich die Ammen in sogenannte Nymphen, und diese in das vollkommene, geflügelte Insect. In welcher ungeheueren Progression die Vermehrung dieser winzigen Verderber vor sich geht, lehrt ein einfaches Rechenexempel. Gesetzten Falles, die Ammen legten jedesmal dreißig Eier, und diese kämen sämmtlich ungefährdet zur Entwickelung, so würde sich in der zwölften Generation die Nachkommenschaft eines Insects auf die ganz unermeßliche Zahl von 17,714,700,000,000,000 Individuen belaufen. Daraus geht aber auch die Gefährlichkeit dieser kaum sichtbaren Wesen hervor. Uebrigens sollen neuere Forschungen dargethan haben, daß auch ungeflügelte Männchen der Phylloxeren auftreten, sowie, daß die Weibchen zu gewisser Zeit ein besonders großes Ei legen, aus welchem dann die fruchtbare Stammmutter einer ganzen Generationsreihe erwächst. Es kann aber keineswegs unsere Aufgabe sein, hier die verschiedenen Ansichten und Beobachtungen der Gelehrten in dieser Sache abzuwägen, oder des Tieferen in die Physiologie des Insectes einzudringen.


Fig. 2.

Die junge, dem Ei entkrochene Phylloxera läuft emsig hin und her, bis sie einen Platz gefunden hat, um sich festzubohren. Sie thut dies zunächst an den zarten Thauwurzeln, hier bohrt sie an geeigneter Stelle mit ihrem Rüssel durch das Zellengewebe und senkt dann ihre vier Saugeröhren ein, um den Saft zu saugen. Von nun an bleiben die Thierchen unbeweglich sitzen, dicht aneinander gedrängt, gleich einem Schuppenpanzer. Die verwundeten Stellen der Wurzeln aber bilden Wülste oder Verdickungen von hellerer Farbe; an ihnen ist das Dasein der Wurzelläuse zunächst mit Bestimmtheit zu erkennen; allmählich gehen sie in Fäulniß über, und das Absterben des Weinstockes beginnt. Diesem selber sieht man im ersten Jahre nicht an, daß zahllose winzige Verderber an seinem Marke zehren. Erst im zweiten oder dritten, je nach dem Grade der Befallung, beginnt er von oben nach unten zu vergilben; die Trauben gelangen nicht zur vollkommenen Ausbildung; die Reben werden dürr, und zuletzt verdorrt der ganze Stock. Bemerkenswerth ist, daß einzelne Rebensorten den Wurzelläusen besser widerstehen, als andere, namentlich die amerikanischen. Denn aus Amerika, wo es schon im Anfange der fünfziger Jahre genau beschrieben worden, ist das Insect, wahrscheinlich mit Wurzelreben der Vitis cordifolia oder Labrusca nach Europa gelangt.

Fig. 3.

Doch hat auch die Ansicht volle Berechtigung, daß es längst einheimisch gewesen, früher aber niemals so massenhaft aufgetreten oder aus Mangel an genügenden Hülfsmitteln nicht entdeckt worden sei. Die Phylloxera verbreitet sich entweder durch die Pfade der Risse und Spalten in festem Erdreiche – im rinnenden Sandboden tritt sie nicht auf oder bleibt unschädlich – oder sie wandelt an der Erdoberfläche von einem Stocke zum andern, endlich als geflügeltes Insect, sei es mittelst eigener oder der Kraft des Windes. Natürlich ist das letztere sprunghafte Wandern, welches allein die sonst räthselhafte Erscheinung von neuen Infectionshorsten inmitten gesunder Weingärten erklärt, das gefährlichste, und müssen in Zukunft die Hauptvorkehrungen gegen die Flügelinsecten gerichtet werden.

Fig. 4.

Freilich ist man trotz aller erdenklichen Anstrengungen, und obgleich sich bedeutende Größen der Wissenschaft die Köpfe gemartert haben, heute noch immer in den Anfängen der Bekämpfung des heimtückischen Feindes. Alle Mittel haben bisher wenig oder nichts geholfen, von den ungereimtesten Abenteuerlichkeiten bis zu den feinst ausspintisirten Theoremen. Hat man doch Weihwasser und das heilige Wasser der Quelle von Lourdes als unfehlbare Gegengifte vorgeschlagen, ebenso wie fast jeden Stoff, der in irgend einer Pharmakopöe enthalten ist. In den zu diesem Zwecke eigens ausersehenen Versuchsweinbergen zu Sorres im Departement Herault hat man allein ein Vierteltausend „ganz sicherer“ Verfahren probirt, sämmtlich ohne den gewünschten Erfolg. Die französische Regierung hat schon im Jahre 1869 einen Preis von 20,000 im Jahre 1874 einen solchen von 300,000 Franken [82] ausgesetzt für ein wirklich erfolgreiches Mittel, und man kann sich denken, welche Menge von Glücksjägern sich darum beworben hat. Allein bis jetzt vergeblich.

Die befriedigendste Wirkung hat bisher das Unterwassersetzen der Weingärten mehrere Wochen hindurch während des Winters gezeigt, es kann jedoch dieses Verfahren begreiflicher Weise nur in der Ebene und dort, wo Wasser vorhanden ist, angewendet werden. Dann hat sich das Umgeben der Rebenwurzeln mit feinem Sande, am besten von der Meeresküste, als erfolgreich bewiesen, aber wie schwierig und kostspielig würde es sein! Starkes Kräftigen der Pflanzen durch entsprechende Düngung und nebenbei Anwendung eines Bodenvergiftungsmittels scheinen bis jetzt unter allen Verfahren den Vorzug zu verdienen; als Vergiftungsstoffe wendet man solche an, deren Dünste sich möglichst weithin im Boden verbreiten, so: Schwefelkohlenstoff, der jedoch neben den Rebläusen leicht auch die Weinstöcke tödtet; schwefelkohlensaures Kali, welches nach Dumas den Reben nicht schaden soll; Steinkohlentheeröl oder Carbolsäure. Gilt es, einen vereinzelten Infectionsherd im Interesse der angrenzenden Weinberge zu vernichten, so müssen die Rebstöcke ausgehauen, sammt Blättern und Wurzeln verbrannt der Boden rigolt, mit Schwefelkohlenstoff behandelt und mindestens ein Jahr lang der Weincultur entzogen werden. Wird er derselben wieder zugeführt, so empfiehlt sich starke Düngung, wohl auch die Anwendung von mit Steinkohlentheeröl imprägnirten Rebpfählen, die sich außerdem durch dreifach längere Dauer als ein Mittel gegen die kostspielige Holzverschwendung empfehlen. In Frankreich will man das Uebel durch Einführung amerikanischer Reben, die demselben am besten widerstehen, bannen, allein diese liefern keinen Chateau Yquem oder Hermitage, keinen Rauenthaler oder Forster, ja nicht einmal einen rheinischen sogenannten Garibaldi oder Flöhpeter. Sie müßten daher durch Pfropfen veredelt werden, was aber dadurch gewonnen wäre, ist nicht recht einzusehen.

Die Abbildungen, welche wir unserem kurzen Berichte mit auf den Weg geben, sind den unübertroffenen Zeichnungen des Professors Dr. Leonhard Rösler in Klosterneuburg nachgebildet, welche bei der entomologischen Ausstellung zu Paris 1874 mit dem ersten Preise, der goldenen Medaille, ausgezeichnet und in dem österreichischen landwirthschaftlichen Wochenblatte veröffentlicht worden sind. Ihre Treue ist zuverlässig. Die erste stellt eine Amme der Phylloxera vastatrix, ein junges Thier drei Tage, nachdem es das Ei verlassen, und die Eier in hundertfacher Vergrößerung dar; in der zweiten Zeichnung ist die Reblaus abgebildet, wie sie ihre Saugeröhren in das Zellengewebe der Wurzel senkt, die dritte giebt das vollkommene, geflügelte Insect wieder und zwar stets in der gleichen Vergrößerung. Die vierte Abbildung endlich stellt in natürlicher Größe die durch die Verletzungen der Schmarotzer entstandenen knolligen Verdickungen (Nodositäten) an den feinen Wurzelausläufern des Weinstocks dar; letztere werden dazu dienen, selbst dem Unerfahrenen auch ohne Loupe und Mikroskop das Erkennen des Auftretens der Phylloxera am Weinstocke zu erleichtern. Bis jetzt ist sie nur an diesem, an Obstbäumen nicht, gefunden worden.

Wie die Angelegenheit gegenwärtig steht, werden sich die Weinbauer vorläufig darein finden müssen, künftig auch trotz oder mit der Wurzellaus den Weinstock zu cultiviren, und nur dahin zu trachten haben, daß sie sich nicht in’s Unendliche vermehre. Die Erfahrung hat gelehrt, daß auch von dem Insecte befallene Reben gute Lesen geben können. Die Analogie ähnlicher Erscheinungen giebt aber den – freilich der Gegenwart unnützen – Trost, daß wahrscheinlich die Geißel der Phylloxera eines Tages verschwinden wird, wie sie gekommen ist. Meteorische Einflüsse werden sicherlich zur Verringerung des Uebels beitragen, und wie es der Intelligenz des Menschen gelungen ist, die schädliche Wirkung des Traubenpilzes, der Kartoffelkrankheit, der Seidenraupenseuche abzuwenden, so wird unzweifelhaft die Wissenschaft im Bunde mit der Praxis siegen über die neuen winzigen Verderber.

W. H.