Zürnende Brunnengeister
Zürnende Brunnengeister.
Wer kennt nicht die zahlreichen Sagen von überfließenden Brunnen, welche Dörfer und Felder überschwemmt und Landseen gebildet haben sollen? Solche Legenden sind weit verbreitet, „allgemein menschlich“ – könnte man sagen; denn wir begegnen ihnen in verschiedenen Welttheilen, und selbst die schwarzen Eingeborenen an den Ufern des Tanganjika in Deutsch-Ostafrika erzählen, daß der gewaltige See durch das Ueberfließen eines Brunnens entstanden sei, als einmal die Gebote des Brunnengeistes von den Menschen nicht befolgt wurden. Diesen Volksüberlieferungen liegen gewiß wahre Ereignisse zu Grunde, woran gerade in unseren Tagen niemand zweifeln wird, nachdem ein überfließender Bohrbrunnen die Stadt Schneidemühl mit den schlimmsten Gefahren bedroht hat.
Man hatte dort Ende vorigen Jahres einen alten Brunnen verbessern wollen und tiefer gebohrt. Dabei erschloß man eine Quelle, deren Wasser jedoch mit Sand vermengt war; so bohrte man immer tiefer. Das Rohr verstopfte sich, aber neben demselben bahnte sich das Wasser den Weg zur Oberfläche, begann immer mächtiger hervorzuquellen und dabei große Massen von Sand und Erde fortzuspülen. Der Brunnen höhlte das Erdreich aus, auf welchem ein Theil der Stadt steht, und nun suchte man, die Gefahr ahnend, das Bohrloch zu verstopfen, aber man konnte die heraufbeschworenen Wassergeister nicht sogleich bändigen. Anfang Juni fing der Boden an, sich zu senken. Zwei der schönsten Straßen der Stadt, die Große und die Kleine Kirchenstraße, an deren Vereinigungspunkt der Brunnen steht, wurden aufs ernstlichste gefährdet, und das Verhängniß schritt unaufhaltsam vor. Wie unsere Leser aus den Berichten der Tagespresse erfahren haben, mußten bis Ende Juni über 80 Familien ihre Wohnungen räumen; die Häuser an der bedrohten Stelle bekamen Risse und Sprünge und schließlich brach ein dreistöckiges ganz neues Wohngebäude in der Großen Kirchenstraße zusammen, während 23 andere Häuser halb zerstört dastanden, bereit, jeden Augenblick einzustürzen.[1]
Die Bohrbrunnen, die auch artesische Brunnen genannt werden, sind seit uralter Zeit bekannt, und man hat von ihnen immer nur Gutes gehört. Schon die alten Aegypter verstanden auf diese Weise die Wasser der Tiefe an die Erdoberfläche zu fördern, und man entdeckte während der letzten Jahrzehnte in den Oasen von Theben und Dachel eine große Zahl derartiger verschütteter Brunnen, von denen manche 300 bis 400 m tief waren. Als man in der Neuzeit einen dieser Brunnen reinigte, da bot er eine eigenthümliche Erscheinung: mit dem Wasser kamen aus einer Tiefe von 107 m Fische empor. Heute bohren die Franzosen im Süden Algeriens artesische Brunnen und verwandeln mit dem gewonnenen Wasser weite Strecken der Wüste in grünende Oasen. In China sind artesische Brunnen massenhaft vorhanden und oft bis 900 m tief. Mehrere Geschlechter mußten bei den geringfügigen Mitteln der chinesische Technik arbeiten, bis eine Wasserquelle in solcher Tiefe erschlossen wurde.
Die Kunst, Brunnen zu bohren, nahm in Europa erst zu Anfang dieses Jahrhunderts einen besondere Aufschwung, und gegenwärtig spenden in Europa und Nordamerika zahlreiche artesische Brunnen nicht nur reines kühles, sondern auch warmes Wasser. Auf einem Platze in Paris befindet sich z. B. ein Bohrbrunnen, der 719,2 m tief ist und ein Wasser von 34,5° C. Wärme liefert. In Ungarn giebt es mehrere Brunnen, die Wasser von einer Temperatur bis zu + 51° C. führen. Der eine dieser Brunnen, auf der Margaretheninsel zu Budapest, reicht in eine Tiefe von 970 m hinab. Tiefer noch ist ein artesischer Brunnen, der vor 25 Jahre zu St. Louis in den Vereinigten Staaten gebohrt wurde; er steigt 1200 m in den Schoß der Erde hinunter, endigt aber im felsigen Granitlager und giebt kein Wasser. Anderwärts hat man auf diesem Wege salzreiche Sole aus der Tiefe der Erde zu gewinnen gewußt, kurz, vielfach ist der Segen, den die Brunnengeister der Tiefe der Menschheit spenden. Es ist eine äußerst seltene Ausnahme, daß sie, einmal heraufbeschworen, die Werke der Menschenhand zu zerstören trachten.
Wenn nun die Völker in ihren alten Ueberlieferungen trotzdem von zürnenden Brunnengeistern berichten, so hängt dies mit Umwälzungen [477] zusammen, die sich von Zeit zu Zeit im Schoß der Erde vollziehen und auch den Lauf und die Vertheilung der unterirdischen Gewässer verändern. Ueberströmende Brunnen werden schon in dem biblischen Berichte über die Sintfluth erwähnt. Man sucht dieses auch in anderen Sintfluthsagen erwähnte Hervortreten der Grundwassermassen durch die Annahme zu erklären, daß die Sintfluth von einem Erdbeben eingeleitet worden sei. Auch aus geschichtlicher Zeit ist eine ganze Reihe von Fällen bekannt, wo durch Erdbeben Brunnen verändert und große Wassermassen emporgehoben wurden. Am Tage des großen Erdbebens von Lissabon, am 1. November 1755, warf die große Hauptquelle zu Teplitz zwischen 11 und 12 Uhr plötzlich eine so große Menge Wasser aus, daß in einer halben Stunde alle Bäder überflossen. Schon eine halbe Stunde vor diesem Aufquellen war das Wasser schlammig geworden; nachdem es hierauf beinahe eine Minute lang ausgeblieben war, brach es mit großer Gewalt hervor und führte eine Menge röthlichen Ockers mit, hierauf wurde die Quelle wieder ruhig und rein wie zuvor.
Am 12. Januar 1812 wurde die ganze südliche Umgebung des Baikalsees von einem heftigen Schlage getroffen. Die Steppe östlich von dem in den See mündenden Flusse Selenga, auf welcher sich eine Burjäten-Niederlassung befand, senkte sich auf eine Länge von etwa 21 km und eine Breite von 9,5 bis 15 km zur Tiefe; Gewässer brachen allenthalben hervor, wurden auch aus den Brunnen hervorgestoßen, und endlich trat gar das Wasser des Baikal in die große Senkung und füllte sie gänzlich aus. An vielen Punkten entstanden Springquellen. In der Ortschaft Kudara wurden die Holzdeckel der Brunnen wie Stöpsel aus Flaschen in die Höhe geschleudert, und Quellen von lauem Wasser erhoben sich stellenweise bis zur Höhe von 6,5 m. Die Mongolen wurden durch diese Erscheinung so erschreckt, daß sie ihre Priester, die „Lamas“, zu religiösen Ceremonien veranlaßten, um die bösen Geister zu beruhigen.
Aber auch ohne das Auftreten von Erdbeben können die Grundwasser eine Thätigkeit entfalten, die schließlich dem auf der Oberfläche hausenden Menschen verderblich wird. Kommen sie auf ihrem unterirdischen Laufe mit Erdschichten in Berührung, welche lösliche Salze, namentlich Kochsalz, kohlensauren Kalk und Gips enthalten, so laugen sie diese Schichten aus und bilden in ihnen mit der Zeit immer größer werdende Höhlen. Bischoff fand, daß 4000 Pfund Wasser des Flüßchens Pader bei Paderborn etwa 1 Pfund kohlensauren Kalk enthalten. Nach angestellten Messungen beträgt die Menge des in einer Minute fortfließenden Wassers dieses Flusses 1 074 450 Pfund, worin also rund 270 Pfund kohlensaurer Kalk enthalten sind. Hieraus läßt sich berechnen, daß dieser Fluß in einem Jahre einen Würfel von etwa 30 m Seite kohlensauren Kalkes dem Gebirge entzieht. Die Lorenzquelle zu Leuker-Bad im Walliser Gebirge liefert in jeder Sekunde 29 Pfund Wasser und fördert im Laufe eines Jahres 8 Millionen Pfund Gips aus der Tiefe.
Die Folgen dieser Auslaugung der tieferen Erdschichten und der Bildung unterirdischer Höhlen kommen im Karstgebirge am deutlichsten zum Vorschein. Wohl sind die Grotten und unterirdischen Flüsse jener Gegenden prächtige Naturschauspiele, aber es wohnt sich nicht gut über ihnen. Von Zeit zu Zeit stürzt die Erde nach und es entstehen an der Oberfläche Trichter oder „Dolinen“. Diese Erdfälle vollzogen sich manchmal so rasch, daß mehrere Häuser samt ihren Einwohnern in der Tiefe begraben wurden.
Die norddeutsche Tiefebene ist reich an Salzlagerstätten, welche ebenfalls häufig vom Grundwasser ausgelaugt werden. So entstehen auch hier unterirdische Hohlräume, die zu Bodensenkungen führen; darum begegnen wir in diesem Gebiete öfter sogenannten Einsturzkesseln. Viele von ihnen haben sich später mit Wasser gefüllt und in Seen verwandelt. Aehnliche Verhältnisse finden sich in Thüringen und am Saum des Harzes; manches tiefe Wasserbecken, wie der Salzunger-, Schön- und Grävensee, und eine ganze Reihe von Seen am Fuße des Harzes verdanken ihnen ihren Ursprung.
Hoffen wir, daß der Boden von Schneidemühl fester geartet sei und die Wasser der Tiefe, denen durch Menschenhand der Weg zu den durchlässigen Schichten eröffnet wurde, sich nun für immer beruhigt haben! Sonst müßten wir auch an jener Stätte die Bildung eines Sees mit erleben, vor unseren Augen ein Vineta entstehen sehen!
Die nagende Thätigkeit der Grundwasser, die wir als Bildnerin von Seen kennengelernt haben, vermag aber auch Seen zum Verschwinden zu bringen. Die Flußläufe und Seen ruhen auf einer undurchlässigen Erdschicht; entstehen in dieser Spalten, so können dadurch dem Wasser Wege in unterirdische Räume geöffnet werden und Flüsse und Seen in der Tiefe verschwinden.
Plötzlich, mit einem Schlage kann eine solche Katastrophe nach Erdbeben sich ereignen. In den früher blühenden Wüsten Westasiens entdeckten Reisende Ruinen großer Städte, die schon vor Jahrtausenden von ihren Bewohnern verlassen wurden. An den Mauerresten bemerkt man noch heute Spuren von Erdbeben. Aber wegen eines Erdbebens verlassen doch die Menschen nicht die ihnen liebgewordene heimathliche Scholle! Sie bauen die Trümmer wieder auf und leben weiter „auf dem Vulkane“! Es muß also noch etwas anderes mitgespielt haben. Und in der That ist dem so. Die Erdbeben hatten den Boden zerklüftet, die Wasser der Brunnen sanken in unerreichbare Tiefe, der Lauf der Ströme wurde abgelenkt; und da blieb freilich der Bevölkerung nichts anderes mehr übrig, als das wasserlos gewordene Land zu verlassen.
Was durch das Erdbeben in einem Augenblick vollbracht wird, das bringt die nagende Kraft der Grundwasser mitunter im Laufe von Jahrhunderten zustande. Durch die Auswaschungen und Auslaugungen wie wir sie oben geschildert, entstehen im Boden der Seen Trichter, Kanäle, welche dem Wasser den Zutritt zur Tiefe ermöglichen, eines Tages beginnt zum Erstaunen der ahnungslosen Umwohner der Spiegel des Sees, der seit unvordenklichen Zeiten bestand, zu sinken und schließlich verschwindet er ganz.
Weit ab von Schneidemühl, im Mansfeldischen, in der Nähe von Eisleben, spielt sich seit vorigem Jahre ein solches Ereigniß ab. Dort sinken langsam aber stetig die Spiegel des Süßen und des Salzigen Sees und ihre Wasser ergießen sich in die Schächte des Mansfelder Bergbaus und drohen, die Werke zu ersäufen. Im Boden des tiefer gelegenen Salzigen Sees hat sich ein Erdfall gebildet, durch dessen Trichter das Wasser auf neuen Wegen in tiefere Flußbette sickert und die Kupfergruben überschwemmt. Hier kämpft eine Industrie, die 18 000 Arbeitern Brot gewährt,
mit den Wassern der Tiefe um ihr Dasein – möge dieser Kampf ebenfalls vom endlichen Sieg begleitet sein, wie wir dies bei der schwerbetroffenen Stadt Schneidemühl nunmehr annehmen dürfen. C. Falkenhorst.
- ↑ Soeben geht uns ein „Hilferuf“ aus Schneidemühl zu. Er beziffert den entstandenen Schaden auf über eine Million Mark und bittet alle Menschenfreunde im weiten deutschen Vaterlande dringend um Unterstützung. Beiträge nimmt die Stadthauptkasse zu Schneidemühl entgegen. Die Red.