Zu Wilhelm Jordans achtzigstem Geburtstag
[98] Zu Wilhelm Jordans achtzigstem Geburtstag. Als vorm Jahre die fünfzigjährige Gedenkfeier der Eröffnung des ersten deutschen Parlaments in Frankfurt a. M. stattfand, war es nur wenigen der „Veteranen der Paulskirche“ vergönnt, in gleicher Rüstigkeit wie Wilhelm Jordan den Jubiläumstag zu begehen. In zündender markiger Rede brachte er damals das vor fünfzig Jahren Erstrebte in Zusammenhang mit dem politischen Bewußtsein der Gegenwart, und die „Marine-Erinnerungen“, die er um die gleiche Zeit für die „Gartenlaube“ niederschrieb, spiegelten ungeschwächt die Begeisterung wider, mit der er 1848 seine kräftige Mannesjugend für die Schaffung einer deutschen Flotte eingesetzt [99] hatte. Am 8. Februar dieses Jahres darf nun der Nestor der deutschen Schriftstellerwelt in dieser staunenswerten Frische des Geistes und Körpers ein ganz persönliches Jubiläumsfest feiern, und sein achtzigster Geburtstag wird nicht nur in Frankfurt a. M., das ihm seit 1848 zur zweiten Heimat ward, sondern auch in weiteren Kreisen der Nation von vielen festlich begangen werden. Auch die „Gartenlaube“ bringt ihm zu seinem Ehrentage aufs herzlichste ihre Glückwünsche dar.
In mehr als 40 Bänden hat Wilhelm Jordan, der 1819 als Sprosse eines alteingesessenen ostpreußischen Pastorengeschlechts in Insterburg zur Welt kam, die Resultate seines hochgerichteten Wirkens als Dichter und Forscher niedergelegt, das ihm die Anwartschaft auf dauernden Ruhm und dauernde Dankbarkeit sichert. Werke der verschiedensten Art finden sich in der langen Reihe dieser Bände: Epen, Dramen, Romane, lyrische und lehrhafte Gedichte, sprach- und sagengeschichtliche Studien, religionsphilosophische Offenbarungen, Uebersetzungen von Homer und der Edda. In ihrer Mehrzahl aber stehen sie in organischem Zusammenhang mit dem einen großen Hauptwerk seines Lebens, dem Doppelepos seiner „Nibelunge“, dessen erster Teil, die „Sigfridsage“, 1868, dessen zweiter Teil, „Hildebrants Heimkehr,“ 1874 in Buchform erschien, das er aber nach Form und Inhalt mit der Absicht gestaltete, es nach dem Muster der Rhapsoden und Barden der Vorzeit persönlich zum Vortrag zu bringen, ihm „Leben zu geben im Laut.“ Seit 1862 ist er dann hinausgezogen aus seiner stillen Frankfurter Dichterklause auf immer weiter sich dehnende Rhapsodenfahrten, die sich schließlich auch durch alle größeren Städte Amerikas mit deutscher Einwohnerschaft erstreckten. Tausende und aber Tausende haben die Hauptgesänge von Jordans Neugestaltung der Siegfried- und Hildebrantsage durch ihn selbst kennengelernt und dem Wohllaut seiner Stabreimstrophen gelauscht, die er mit seinem ehernen tiefen Organ wie kein zweiter zu meistern weiß. Mächtig hat der patriotische Geist, der diese Bilder von altgermanischem Heldentum durchdringt, in den Jahren gewirkt, welche der heldenhaften Entfaltung der deutschen Volkskraft im Sieg über Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches vorausgingen und dieser direkt folgten. In neuerer Zeit ist eine andere Eigenschaft seines Epos zu immer größerer Geltung gelangt. Der dem Dichter von Jugend auf innewohnende Trieb, die Ergebnisse der modernen Forschung zum Stoff poetischer Gestaltung zu machen, hat auch seinen „Nibelunge“ den Charakter eines modernen Lehrgedichts verliehen. Die großen Entwicklungsgesetze, welche die Naturwissenschaft in unserm Jahrhundert für die organische Welt feststellte, spiegelte der Dichter in dem Schicksal der Heldengeschlechter, von denen uns die „Edda“ und das alte deutsche Volksepos berichtet. In seinen Romanen „Die Sebalds“ und „Zwei Wiegen“, in den „Andachten“ und der „Erfüllung des Christentums“ hat er dann unmittelbarer die Grundgedanken seiner beglückenden hoffnungsfrohen Weltanschauung dargelegt, welche aus dem Entwicklungsgesetz für unsre Nation und die Menschheit die Gewähr des Fortschritts zu immer größerer Vollkommenheit entnimmt. Auch das graziöse geistvolle Lustspiel „Durchs Ohr“, das jetzt an Jordans Ehrentag auf vielen deutschen Bühnen zur Aufführung gelangt, hat einer naturwissenschaftlichen Beobachtung die Grundidee zu verdanken.
In diesem Drang, der wissenschaftlichen Erkenntnis neuen Stoff für die Poesie abzugewinnen, hat Wilhelm Jordan neue Bahnen beschritten, die verheißungsvoll aus dem zur Rüste gehenden „naturwissenschaftlichen“ Jahrhundert in das neue hinüberweisen.