Zum Kapitel der Volksvergnügungen
[579] Zum Kapitel der Volksvergnügungen. Viele Dinge beleuchten sich am besten durch ihren Gegensatz. So wird manchem Deutschen, der bisher an dem massenhaften Sonntagstrunk seiner Landsleute keinen Anstoß nahm allerhand einfallen, wenn er in Italien reist und mit aufmerksamem Auge das Sonntagsvergnügen dort betrachtet. Tausende von Spaziergängern, festlich angethan, füllen die öffentlichen Anlagen, sitzen beschaulich am See- und Flußgestade oder plaudern, zu Gruppen vereinigt. Kaffeehäuser und Weinschenken sind nur mäßig gefüllt, der größte Theil des Volkes sucht seine Erholung einfach im Spaziergang, oder auch, besonders in kleinen Städtchen, in einem öffentlichen Spiel auf dem Marktplatz, zu welchem die ganze Bevölkerung herbeiströmt. Da treten z. B. zwei junge hübsche Leute, phantastisch herausgeputzt mit bunten Kappen und Bändern, als Wettkämpfer mit dem Schlagball auf. Jeder sucht den anderen zu überbieten, die Bälle wirbeln hoch über die Dächer hinaus, und der Fangende muß weite Sätze machen; jeder glückliche oder mißlungene Schlag wird mit lauten Zurufen der Zuschauermenge begleitet. Dann tritt ein neues Paar an oder man vertauscht das Spiel mit einem anderen bis der Nachmittag fröhlich herumgebracht ist.
Die größeren Städte aber bieten dem Volke ein auch bei uns vorhandenes, jedoch nicht entsprechend benutztes Erholungs- und Bildungsmittel von höchstem Werth: die öffentlichen Kunstsammlungen. Man muß es gesehen haben, mit welchem Anstand und welcher Andacht hier Sonntags von elf bis ein Uhr dichte Gruppen von Arbeitern mit Frauen und Kindern, von Matrosen und gemeinen Soldaten die Säle durchwandern und lange vor den einzelnen Bildern in Betrachtung stehen. Gilt es, geschichtlich bedeutsame Räume, wie z. B. den Dogenpalast in Venedig, zu bewundern, so ersteht alsbald in jedem Saal ein Erklärer, der sein Wissen mit lebhaftem Gebärdenspiel einer sich immer vergrößernden, aufmerksam lauschenden Zuhörerschaft vorträgt. Wahrlich, dieses einfache Sonntagspublikum unterscheidet sich sehr zu seinem Vortheil von der an bezahlten Tagen die Räume füllenden großen gleichgültigen Menge der Bädeker- und Murrayreisenden!
Vielleicht ist es eben der nur an Sonntagen freie Eintritt, der so
anziehend wirkt. Man schätzt nicht so, was man jederzeit umsonst haben kann.
Da nun gewiß nicht zu wünschen ist, daß Deutschland von dem schönen
Grundsatz des unbedingt freien Eintritts in seine Museen abgehe, so handelt
es sich nur um das Erwecken der Kunstfreude in weiteren Volkskreisen. Wie
leicht könnten die Vorstände von Knaben- und Lehrlingshorten ihre junge
Schar am Sonntagvormittag in die Galerien geleiten und in den empfänglichen
Herzen der Heranwachsenden jenes Bedürfniß nach edlerer Erholung
erwecken, das dann, durch eigenes Zeichnen und durch Betrachten von
illustrierten Werken verstärkt, am besten den grobmateriellen Genüssen
entgegenarbeitet. Wir würden uns sehr freuen, bald einmal von
derartigen Anfängen zu hören! – n.