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Zur Geschichte des Aberglaubens (3)

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Textdaten
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Autor: Walter v. S.
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Titel: Zur Geschichte des Aberglaubens
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 249–253
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[249]

Zur Geschichte des Aberglaubens.

Nr. 3.

Es giebt wenige Menschen, die vom Aberglauben völlig frei sind, und doch ist er anerkannt eine Thorheit, welche unzählige Belästigungen und schlimmere Einflüsse im Gefolge hat, ja in manchen Fällen jahrelang, oft sogar auf die ganze Zeit des Lebens, den frohen, unbefangenen Muth des Daseins zu stören im Stande ist. Größtentheils bringen wir die ersten Veranlassungen zum Aberglauben schon aus der Kinderstube mit, wo alte Tanten, Ammen und Mägde sich ganz besonders darin gefallen, die jungen Seelen ihrer gläubigen Zuhörer durch Zauber-, Geister- und Wunder-Erzählungen in falsche Voraussetzungen und Trugschlüsse zu verwickeln, für welche Kinder noch kein vernünftiges Gegengewicht haben. Von der Gespensterfurcht, dem Glauben an Hexen wie überhaupt dem sogenannten groben Aberglauben sich zu befreien, mag nun wohl in den reiferen Jahren öfter gelingen; aber es giebt eine Masse halbbewußter alberner und lächerlicher Dinge, die man mit dem Sammelnamen „Ahnungen“ wohl am besten bezeichnet, welche uns in unangenehmer, lästiger Weise anhängen. Wenn wir auch bei wahrer Vernunft solchen Unsinn tausendmal zum Teufel gewünscht und verworfen haben, so erlauert sich der verscheuchte Aberglaube immer wieder und wieder einen unbewachten Moment, – einen träumerisch dämmernden Zustand der Seele, um aufs Neue beängstigend aufzutreten und uns Umstände, Dinge, Verhältnisse, Zufälligkeiten, Zahlen, Tage etc. so zuwider zu machen, daß man schließlich doch unter zehn Fällen neunmal ein flaues Gefühl, ein dauerndes Unbehagen davon trägt.

Wie viele Menschen giebt es, die am Freitag nichts zu unternehmen wagen, die aus Ohrenklingen, Hand- und Nasekitzeln, einem gefundenen alten Nagel oder Hufeisen, der Begegnung eines alten Weibes am frühen Morgen, über den Weg laufenden Katzen, Hasen oder Schweinen etc. etc., ungerechnet der Masse gang und [250] geber, vollständig unsinniger Sympathiemittel, die abenteuerlichsten Folgerungen und Schlüsse ziehen.

Doch das wären nichts weiter als kleine Lächerlichkeiten, die in den meisten Fällen nur belästigen, ohne positiven Schaden anzurichten, sind es auch unleugbare Beeinträchtigungen der inneren Freiheit, und eben dadurch häufig Störungen äußerer Thätigkeit. Allein weit schlimmer, als man das so auf den ersten Blick einzusehen vermag, können die Folgen des groben Aberglaubens, z. B. der Wahrsagerei, ausfallen. Mir ist unter vielen anderen ein ganz besonders auffallendes Beispiel bekannt geworden, das ich hier erzählen will, um damit eine Warnungstafel aufzustellen, die vor dem häufig auftretenden unsinnigen Gelüste, mit der eigenen Schwäche ein unbedachtes Spiel zu treiben, zurückschrecken soll.

Ein seines Prophetenblickes wegen oft genannter und bekannter Wahrsager war ein gewisser Sohn in Berlin. Unter den vielen älteren und jüngeren Personen vornehmen und geringen Standes waren es im Jahre 184* zwei junge Mädchen aus guten Familien, welche dem Gelüste, einen Blick in die Zukunft zu thun, nicht widerstehen konnten. Sie gingen zu jenem Sohn, und er war bereitwillig, ihnen die Zukunft zu offenbaren. Der Einen weissagte er alles Glück, während er der Andern eröffnete, daß sie sich zwar bald glücklich verheirathen, mit ihrem Manne auch sehr zufrieden leben würde, indeß stehe es fest, daß sie im ersten Wochenbett sterben müsse. – Das Unglück wollte nun, daß Einiges der glückverheißenden Offenbarungen für die Freundin in Erfüllung ging; natürlich Alles nur im Verlauf geordneter Verhältnisse; aber sie waren einmal vorhergesagt und daher bleierne Gewichte, die sich mit immer mehr erschwerender Gewißheit an die Unglücksprophezeiung für die zweite junge Dame hingen. Sie liebte! Doch trotz der Einwilligung der Eltern und dem Drängen des Bräutigams suchte sie stets die Hochzeit hinauszuschieben, bis sie endlich in traulicher Stunde den Muth faßte, dem Geliebten ihre sie beängstende Sorge, der Weissagung halber, mitzutheilen. Was vermag die beredte Zunge des Geliebten nicht? Die Hochzeit kam zu Stande. Das Paar war selig, und das Glück der jungen Gatten sollte im Spätherbst seinen Gipfelpunkt in der glücklichen Geburt eines Söhnchens erreichen.

Der kräftige Gesundheitszustand der jungen Mutter ließ auch den letzten Schein von Besorgniß aus der Seele des glücklichen Vaters schwinden. Morgen sollte die Frau zum ersten Male das Bette verlassen. Der Ehemann trat in fröhlicher Stimmung während der Dämmerstunde des vorhergehenden Abends an das Wochenbette der geretteten Gattin. „Nun siehst Du, mein süßes Weibchen,“ sagte er in unseliger Sorglosigkeit, „wie Dein miserabler Prophet zu Schande geworden ist; Du und unser liebes Kind, ihr seid beide froh und munter. Ich habe absichtlich die dumme Geschichte nicht wieder erwähnt; aber jetzt wirst Du doch wohl für alle Zeiten von der Thorheit, an derlei Firlefanz zu glauben, geheilt sein.“ Die Dämmerstunde ließ den jungen Mann nicht sogleich die furchtbare Veränderung wahrnehmen, welche augenblicklich mit der noch immer leidenden Frau geschah. Da er jedoch nach wiederholten Fragen keine Antwort erhielt, bis endlich unter lautem Schluchzen ihm die Erwiderung wurde: „Ach, Otto, nun bin ich gewiß verloren; ich werde mein Krankenlager nicht mehr verlassen!“– da rief er nach Licht und erblickte sein wie durch einen Zauberschlag verändertes geliebtes Weibchen in fieberhaft zitternder, ängstlicher Aufregung Seine Worte, seine Beredsamkeit waren vergebens. Sie blieb überzeugt, sterben zu müssen. Aerzte wurden herbeigerufen; an Sorgfalt und Anstalten jeder Art fehlte es nicht; umsonst. – Binnen 3 Tagen erlag das arme Weib einem hitzigen Nervenfieber, als Opfer der Wahrsagerei!

Jeder wird leicht in dieser wahren Darstellung der Thatsachen den natürlichen Zusammenhang erkennen. Es giebt kein bequemeres Mittel mit Erfolg wahrzusagen, als sich einen Moment im Leben des Weibes, der mit vieler Wahrscheinlichkeit eintreten muß, zum Brennpunkt der Offenbarung zu wählen, und dann den natürlichen Proceß der beinahe jedesmal auftretenden theilweisen Lebensauflösung als gefahrbringendes Unheilsziel zu setzen. Aber mit derlei drastischen Erfolgen wissen solche gewissenlose Subjecte, trotz ihrer häufigen Dummheit dennoch pfiffig genug, ihrem Gewerbe jenen mystischen Schein zu verleihen, der ihnen die ganze Zahl seelenschwacher Menschen und deren geöffnete Geldbeutel zuführt. – Ins Zuchthaus mit solchen gewissenlosen Betrügern, oder ins Irrenhaus mit derlei gefährlichen Narren, die mit ihren speculativen oder selbst gehirnkranken Inspirationen ein Gewerbe treiben und Unheil in die Gesellschaft streuen!

Je lebendiger die Phantasie eines Kindes ist, ein desto fruchtbareres Feld für die Saat des Aberglaubens findet sich in ihm. Ich entsinne mich, schon im Alter von 7–9 Jahren alle alten Weiber an Erfindung von Schauer-, Geister- und Wundergeschichten überboten zu haben. Daß ich mir derlei Erzählungen, die ich zuweilen auch in Anwesenheit Erwachsener vor einem aufmerksamen Cirkel kleiner Zuhörer vortrug, selbst erfand, ist wohl ein Beweis, daß ich in gewissem Sinne nicht daran glauben konnte; und dennoch habe ich gerade dadurch mir selber eine Seelenschwäche herangebildet, die mir später, und zuweilen noch bis heute, viel zu schaffen machte. In wenig Monaten bin ich jetzt 36 Jahre alt, und eben daran will ich eine kleine Erzählung knüpfen, die, eben weil ich jetzt selbst in vollständig rigoroser Weise darüber spreche, einen Beweis abgeben möge, wie schleichend unbesiegbar der Aberglaube nachwirkt, auch bei solchen, die keine Anstrengung scheuten, sich davon zu heilen, wie dies bei mir aus dem Folgenden erhellen wird.

Ich hatte einen Onkel, der General-Feld-Zeugmeister der österreichischen Armee war und in Linz seine Pension verzehrte, woselbst ich in einem Militär-Institut von meinem 10. Lebensjahre an erzogen wurde. Da Linz, wenigstens zu jener Zeit, der Aufenthalt vieler hoher Militär-Pensionäre gewesen, so konnte es nicht besonders auffallend sein, daß gerade im Frühjahre 1830 schnell hintereinander 2 große Leichenbegängnisse verstorbener alter Generale stattfanden. Für uns Jungen der Militär-Schule waren solche Leichenbegängnisse förmliche Feste. Wir hatten Nachmittags keinen Schulunterricht und durften in Galla, eine Compagnie kleiner Soldaten rangirend, derartige Feierlichkeiten immer mitmachen. Kanonen wurden in unserer nächsten Nähe gelöst; Bataillone gaben Ehrensalven den Verstorbenen ins Grab; das Alles gefiel mir nicht wenig, und beim Nachhausemarschiren sagte ich zu meinem Nebenmann, dem Zögling K., darüber einige Worte, wie mich derlei Paraden amusirten. Da meinte K., daß wir bald einen anderen General, den Feld-Marschall-Lieutenant R., begraben würden, ich also das Vergnügen nächstens wieder haben könne. – Und wirklich, wie er sagte, geschah es. Dabei war nun allerdings selbst für einen Abergläubischen noch immer wenig Wunderbares. Als ich jedoch diesmal beim Nachhausegehen K. fragte: „Nun, weißt Du vielleicht auch jetzt wieder, wen wir zunächst begraben werden?“ antwortete mir K., ein munterer, witziger Bursche, stets voller Tollheiten und bervorragenden Verstandes (er ist gegenwärtig Major des österreichischen Ingenieur-Corps), mich plötzlich ernst ansehend: „Ja! heute über acht Tage Deinen Onkel, den Feldzeugmeister M.“ Ich erklärte diese Antwort für einen schlechten Scherz, aber K. blieb steif und fest dabei, daß er das genau wisse. Was soll ich viele Worte machen? Noch des anderen Tages besuchte mich bei Gelegenheit eines Spazierganges mein Onkel im Institut; als ich jedoch an dem darauf folgenden Donnerstage, dem gewöhnlichen Tage, wo ich am Tisch desselben zu Mittag speiste, mich eben zu ihm verfügen wollte, kam ein Diener des Generals mir das Diner abzusagen, weil Se. Excellenz heftig erkrankt waren. Und genau am achten Tage nach dem Tage der Prophezeiung stand ich als Leidtragender an der Grube des Entschlafenen. Mein Onkel laborirte schon lange an Schlaganfällen, und sein Tod war längst jeden Tages zu erwarten und zu befürchten. Dennoch machte die ganze Geschichte auf mich einen tiefen Eindruck, welchem ich mich um so mehr hingab, als ich an meinem Onkel viel, sehr viel verloren hatte.

Da trat eines Tages mein College K. an mich heran und sprach mir Muth ein, indem er sagte, der Schlag könne mich nicht unvorbereitet getroffen haben, da er ihn mir ja vorhergesagt habe. – Das machte mich wüthend, und ich wies ihn unwillig zurück; – doch er meiner spottend sagte: „Gebehrde Dich wie Du willst, deshalb weiß ich doch, daß Du nicht 36 Jahre alt wirst!“ Es war nichts weiter als kindischer Muthwille, den er sprach, das weiß ich jetzt, das sah ich schon damals ein, und dennoch schlugen jene Worte so in meine Seele, daß sie darin immer fester Wurzel schlugen, so daß ich sie Jahre und Jahre lang als Gewißheit mit mir herumtrug. – Jetzt bin ich nahezu 36 Jahre alt, also nach K.’s Meinung gerade in den letzten Zügen meines Erdenwallens. – Aufrichtig gesagt, beunruhigt mich die Prophezeiung trotz meines schon seit Jahren anhaltenden, zuweilen bedenklichen [251] Unwohlseins (Hämorrhoidalleiden nennen es die Aerzte, weil mir Keiner zu helfen weiß) nicht im Geringsten, und ich habe durchaus weder Furcht noch Neigung in den nächsten Monaten zu sterben; aber vergessen habe ich die Geschichte bis heute nicht und erwarte den Tag, der mein sechsunddreißigstes Jahr vollenden soll, mit einer gewissen Sehnsucht, um endlich den unbequemen Gedanken los werden zu können. – Und so geht es mir, der wirklich mit festem Willen ganz gewaltige Curen mit sich vorgenommen hat, um sich das einzig wirksame Heilmittel für solche Fälle zu verschaffen: nämlich durch handgreifliche Gegenbeweise sich selber ein vernünftig ruhiges Raisonnement der anerzogenen Schwäche gegenüber abzutrotzen und durch energische Muthproben das Nervensystem zu stärken.

Haben wir im Vorhergehenden von den unangenehmen und schlimmen Folgen des Aberglaubens gesprochen, so wollen wir jetzt ein Beispiel anführen, welches im Gegensatz zu den vorigen darthun soll, wie ein unbefangenes Gemüth durch rasch entwickelnde gesunde Logik selbst Schwache und Unmächtige kräftigen und zur Beherrschung schwieriger Situationen geeignet machen kann. –

Der preußische Justizrath B., ein allgemein geachteter und als praktisch bekannter Mann, war mit Kindern reich gesegnet. Obgleich nun zwar die meisten derselben Mädchen gewesen, so ließ er doch trotz seiner ihn bisweilen überschüttenden Geschäfte sich niemals die Mühewaltung gereuen, die Erziehung seiner Kinder unmittelbar zu überwachen, ja in gewissem Sinne selber zu leiten. „Ich kann meine Mädchen nicht fürstlich aussteuern,“ sagte er oft, „aber dafür will ich sie praktisch erziehen, damit sie nothwendigen Falles auf eigenen Füßen zu stehen im Stande sein können.“ Daß bei solchem Vorhaben eines gebildeten Mannes es an der Handhabung richtiger Mittel nicht fehlte, ist wohl begreiflich, und im Allgemeinen liegen diese ja auch nahe genug, sobald die immer gleiche Sorgfalt des Vaterauges nur darauf aus ist, zur rechten Zeit in den vertrauensvollen Seelen der Kinder zu lesen, um Begriffsverwirrungen aufklarend zu besiegen, noch ehe sie tiefe Wurzel schlugen.

Die Hochzeit einer dem Justizrath nahe verwandten jungen Dame veranlaßte dessen Anwesenheit mit seinen vier ältesten Töchtern, von welchen wir die jüngste, Louise, besonders kennen lernen wollen, auf dem Schloß des Bräutigams, eines wohlhabenden schlesischen Gutsbesitzers.

Zwar war das geräumige Schloß zum Empfang einer bedeutenden Anzahl Gäste eingerichtet, allein, wie es bei solchen Gelegenheiten häufig geschieht, es fanden sich noch mehr Gäste ein, als unter gewöhnlichen Verhältnissen untergebracht werden konnten. Daher kam es, daß im Schloß das Oberste zu unterst gekehrt werden mußte, um nur Raum für Alle und Jeden zu schaffen. Ein Seitenflügel des Hauptgebäudes enthielt im Obergeschoß achtzehn in einer Reihe gelegene einfensterige, kleine Fremdenstübchen, welche diesmal zur Aufnahme sämmtlicher junger Mädchen der Gesellschaft bestimmt wurden; weshalb man dort die nach einem längs der ganzen Reihe jener Gastzimmer hinlaufenden Corridor führenden Thüren von innen verschloß, dagegen alle Verbindungsthüren öffnete, wodurch der ganze Raum gleichsam in einen langen, nur in Schlafstellen getheilten Saal verwandelt wurde. Im letzten dieser Fremdenstübchen jedoch hatte man einen Theil der Schloß-Bibliothek intermistisch placirt, da das große im Untergeschoß des Hauptgebäudes gelegene Bibliothekzimmer ebenfalls für eine Anzahl junger Herren als Schlafgemach in Anspruch genommen werden mußte.

An einem der Festabende saß man im großen Versammlungssaal beisammen. Die jungen Leute hatten unter sich Spiele arrangirt und gaben sich der Festfreude mit jener glücklichen Heiterkeit hin, die nur der kurzen Jugendperiode eigen ist, wo nach dem Abstreifen der Kinderschuhe der trockene, herbe Ernst des Lebens noch nicht seine Rechte geltend zu machen beginnt. Die älteren Herren und Damen der Gesellschaft hatten sich ebenfalls in Gruppen getheilt, und während die Hausfrauen sich vertrauliche Mittheilungen zu machen hatten, war eine Gruppe von Vätern, unter welchen sich auch der Justizrath B. befand, damit beschäftigt, ganz im Stillen die ausgelassene Heiterkeit des jungen Corps zu beobachten; wobei es kam, daß man auf Justizraths Louise ganz besonders aufmerksam wurde. Obgleich augenscheinlich die Jüngste im Kreise, war doch sie es, welche trotz muthwilliger Heiterkeit gleichsam den ordnenden Geist auszuströmen schien, der die Spiele in unaufgehalten sicherem Gange erhielt. Louise wurde von den sie beobachtenden älteren Herren als ein Mordsmädel bezeichnet, was dem Justizrath nicht wenig schmeichelte, weshalb er auch mit Stolz erwiderte: „Ja, und das ist mein Werk!“

Man ließ dem Justizrath zwar Gerechtigkeit widerfahren, konnte sich aber dennoch nicht enthalten, einige Gegenbemerkungen zu machen; daß z. B. der Stoff, um ein resolutes Mädel zu erziehen, auch darnach vorhanden sein müsse; es gäbe Fälle unbesiegbarer Verzagtheit, Furcht und Unentschlossenheit, welche ihren Ursprung im kränklichen, hinfälligen Wesen der Kinder haben; wie überhaupt eine energische Seele nur bei kräftiger Constitution denkbar sei und, wenn diese fehle, sich eben wenig dafür und dagegen thun lasse.

Damit aber hatte man den Justizrath gerade auf sein Lieblingsthema gebracht, und er war in seiner beredten Weise denn auch nicht lässig, den um ihn versammelten Vätern eine derbe Strafpredigt zu halten, die er mit den Worten schloß: „Sehen Sie ’mal mein Louischen an, sie ist kein Riesenkind und hat am allerwenigsten etwas mit einem sogenannten Husaren gemein. Sie ist Gott sei Dank – schön oder nicht schön, davon abgesehen – aber ein Mädchen, die durch die etwas resolute Erziehung, die ich ihr angedeihen ließ, nichts von dem Duft ihrer Jungfräulichkeit einbüßte. Das Mädchen war von Kind an kränklich und zeigte alle Anlagen ein nervöses Geschöpf zu werden, weshalb ich gerade mit ihr meine besondere Noth hatte; aber auf ihre Courage würde ich vom Fleck weg eine Wette wagen. Von Furcht hat das Mädel kaum einen klaren Begriff!“

Während dieses Gespräches hatte sich beim Spiel der jungen Leute eine kleine Differenz eingestellt, welche selbst Louischen nicht sogleich zu erledigen im Stande war. „Wo ist das Buch, nach welchem wir das Spiel erlernten?“ fragte sie jetzt, „wir wollen uns daran halten, das ist das Kürzeste.“

„Das Buch wird schwer zu finden sein!“ erwiderte der Bräutigam, „denn die Bibliothek befindet sich augenblicklich in einem etwas desolaten Verhältniß, da man dieselbe theilweise nach dem letzten Fremdenzimmer des Obergeschosses brachte, um hier unten Platz zu schaffen.“

„Richtig,“ entgegnete Louise, „ich entsinne mich, das Buch oben liegen gesehen zu haben. Gebt mir nur ein Licht, ich will es gleich herbeischaffen. Wo ist der Schlüssel zur Stube?“

„Die ist von innen verschlossen, Louischen, Du müßtest durch die Fremdenzimmer gehen, wo alle Verbindungsthüren offen stehen.“

Indessen hatte Louischen eines der dastehenden Kerzenlichter ergriffen und war auch schon zur Thüre hinaus gesprungen, um besagtes Buch herbei zu holen.

Einer der älteren Herren, als er Louischen hinausschreiten sah, rief dem Justizrath zu: „Sie können es sich ersparen, eine Wette auf Louischens Muth anzustellen; ich glaube kaum, daß eines der übrigen hier anwesenden jungen Mädchen so unbedingt allein die Wanderung durch das Schloß nach dem abgelegenen Zimmer machen würde.“

Der Justizrath lachte: „Sie wollen meinem Mädchen die Probe etwas gar zu leicht machen. Na, das fehlte mir noch, daß das große Mädel, sie ist im 15. Jahre, sich am Ende fürchten sollte, bei Nachtzeit allein durch ein paar dunkle Stuben zu gehen. Da müssen andere Proben vorliegen. Auf den absichtlichen forcirten Muth gebe ich übrigens sehr wenig, der wird immer unter gewisser außerordentlicher Anstrengung zur Schau getragen und beeinträchtigt die Unbefangenheit, welche man an jungen Leuten am sorgfältigsten cultiviren soll, um die frische, frohe Anmuth der Jugend sich recht urwüchsig entwickeln zu lassen.“

„Aber wo bleibt denn Louischen so lange?“ ließen sich ungeduldige Stimmen im Kreise der jungen Leute hören.

„Ich will ihr suchen helfen!“ sagte der Bräutigam und wollte eben nach der Thüre, welche sich im selben Augenblick öffnete, indem Louischen mit dem Licht in der einen, dem Buch in der anderen Hand in den Saal trat. Diese Nebenumstände wurden jedoch kaum bemerkt, denn Aller Augen waren von den angestrengt ruhigen, jedoch auffallend blassen Gesichtszügen Louischens gefesselt, bis diese, das Licht aus der Hand setzend, mit fester Stimme sagte: „Oben sind Diebe! Ich habe einen gesehen und die anderen gehört; sie sind eben dabei das Silberzeug der Aussteuer einzupacken, sie sind von der Dorfseite aus eingestiegen!“

Diese Worte hatten natürlich eine augenblickliche Revolte im [252] Versammlungssaal zur Folge. In wenig Augenblicken war das ganze Schloß alarmirt, einige Herren eilten bewaffnet nach der Außenseite des Schlosses, andere nach der Hofseite, während wieder andere, sofort die Treppe hinaufeilend, direct den Angriff auf die Diebe machten, und binnen einer halben Stunde waren acht Burschen, die sich die abgelegene Ruhe des Schloßflügels zu Nutze machen wollten, um die Aussteuer zu rauben, auf frischer That ergriffen und in Sicherheit gebracht.

Nachdem sich nun wieder Alles beruhigt hatte, war des Fragens kein Ende, wie es denn Louischen gelungen sei, die Diebe zu entdecken, ohne von ihnen bemerkt zu werden, da sie doch, wie das mitgebrachte Buch bewies, den ganzen langen Weg durch die Spitzbuben zwei Mal gemacht haben mußte, lassen wir nun Louischen die Geschichte der Spitzbuben-Entdeckung selber erzählen:

„Ich ging,“ sagte sie, „ohne an irgend etwas Anderes, als das zu suchende Buch zu denken, hinauf und öffnete die Thür des ersten Fremdenzimmers vom Corridor aus, als es mir schien, wie wenn ich deutlich hastige Schritte vor mir hereilen hörte. Einen Augenblick aufhorchend vernahm ich nichts mehr und glaubte mich getäuscht zu haben, daher ich unaufgehalten weiter ging. Nun hatte ich die ganze Reihe geöffneter Thüren vor mir liegen, durch welche ich schreiten mußte, um zu den Büchern zu gelangen. Ihr wißt, daß an jeder Thüre ein großes, weißes Handtuch aufgehängt ist. Da kam es mir vor, als bemerkte ich in der sich nur allmählich erleuchtenden dritten Stube das Handtuch sich bewegen, und vermuthete, da ich näherkommend ein Paar Stiefel unter demselben hervorgucken sah, es wolle sich Jemand einen Scherz erlauben, denn unmöglich konnte eine der dort einlogirten Damen solche Stiefel dort zurückgelassen haben. Jedenfalls aber wollte ich den Spaß nicht verderben, und schritt deßhalb absichtlich an den Thürpfeilern so vorbei, als hätte ich nicht das Geringste bemerkt.

Im Weitergehen fiel mir indeß die ungestaltete Größe der Stiefel aus, die noch obenein derartig beschmutzt waren, daß sie unmöglich einem der Herren unserer Gesellschaft angehören konnten. Indem ich das so dachte, hörte ich, um einige Stuben weiter gekommen, deutlich jenseits des Corridors leise sprechende Männerstimmen und ein Geräusch, das mich auf den Gedanken brachte, es wären Diebe da, welcher Gedanke sich mir im nächsten Augenblicke bestätigte, als ich durch ein geöffnetes Fenster den durch dasselbe in die Stube reichenden Obertheil einer angelegten Leiter entdeckte. Ohne mich viel nach dem Allem umzusehen, war ich bis zur Bibliothek gelangt, wo mir das gesuchte Buch sogleich in die Augen fiel, welches ich ohne Verzug mit dem Vorsatz ergriff, es zu öffnen und, mich so anstellend, als lese ich und hätte von Allem nichts bemerkt, mich auf den Rückweg zu machen. Daß ich durch Rufen meine Stimme nicht bis hierher hörbar machen konnte, wußte ich, wie auch, daß die Spitzbuben, durch mich aufmerksam gemacht, leicht unergriffen entspringen konnten, wenn sie mir nicht am Ende noch übel mitzuspielen gesonnen gewesen wären. Ich nahm also meine Courage zusammen und trat, mit dem aufgeschlagenen Buch in der Hand, meine Blicke darauf geheftet und mir ein Liedchen singend, meinen unheimlichen Rückweg an. Als ich wieder die drittletzte Stube erreichte, ließ ich meinen Blick auf den Fußboden neben mir gleiten und sah richtig noch immer die großen schmutzigen Stiesel dastehen. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich froh war, als ich dieselben hinter mir hatte; denn daß es keine leeren Stiefel waren, die ich sah, wußte ich gewiß. Die hastigen Schritte bei meinem Kommen, die Bewegung des Handtuches waren keine Täuschungen, davon war ich nun überzeugt. Mit meinem Liedchen hielt ich indeß erst an, als ich die Thür nach dem Corridor hinter mir wieder geschlossen hatte, wobei ich deutlich vernehmen konnte, daß meine Anwesenheit auch von den Dieben im Ausstellungszimmer bemerkt wurde. Ich wagte jedoch keinen Blick nach dieser Richtung zu werfen, um mich nicht zu verrathen, wie ich auch meine Schritte beim Herabsteigen der Treppe absichtlich nicht beschleunigte, wodurch [253] es mir denn gelang, bis hierher zu kommen, ohne daß die Diebe eine Ahnung hatten, daß sie entdeckt seien. Na, und das Andere wißt ihr ja alle selber,“ vollendete Louischen. „Jetzt aber laßt uns zu Bette gehen, denn ich bin herzlich müde.“ Der Justizrath gab seinem Louischen einen Kuß und sagte: „Du bist und bleibst mein Mord-Mädel! Nur schade darum, daß Du mir die Wette verdorben hast; morgen hätte ich am Ende Etwas auf Dich gewinnen können.“

Daß nur durch die Geistesgegenwart Louischens der Raub jener Aussteuer verhindert wurde, und die Spitzbuben, welche liederliches Gesindel eines Nachbardorfes waren, auf einen Schlag gefangen werden konnten, ist wohl Jedem unzweifelhaft klar; welchen Dienst aber das muthige Mädchen sich selber durch die behauptete Ruhe leistete, das verdient denn doch wenigstens noch einer kleinen Erwähnung. Bei der Gerichtsverhandlung, welche der Justizrath selber leitete, fand nämlich eine Confrontation des hinter dem Handtuch versteckt gewesenen Diebes, welcher als Sicherheitsposten aufgestellt war, und von Louischen so meisterhaft getäuscht wurde, mit der als Zeugin anwesenden Tochter des Justizrathes statt, wobei der schon mehrfach bestrafte Mensch die für seine Beurtheilung freilich etwas erschwerende Aussage that: „Hätte ich gewußt, daß mich die Kröte gesehen hat, so hätt’ ich sie lieber gleich kalt gemacht!“

Ich darf mich wohl jeder weiteren Beleuchtung enthalten, indem ich die Ueberzeugung hege, daß man allgemein einsehen wird, wie wenig ein durch Geister- und Spukgeschichten eingeängstetes Gemüth, ein durch häufige extravagante Erschütterungen gestörtes Nervensystem geeignet machen dürfte, ähnliche Muthproben, Anderen und sich selber zum Nutzen, abzulegen. Also erzieht Euere Kinder vernünftig und laßt die Spuk-, Schauer- und Gespenstergeschichten bei Seite!
Walter v. S.