Zur Textkritik von „Wozzeck“
Zur Textkritik von „Wozzeck“
[202] Das vorstehende Fragment erscheint hier zum ersten Male den Werken Georg Büchner’s eingefügt. Ueber die Entstehungszeit der Dichtung und wie sie leider nach doppelter Richtung hin Fragment geblieben, bringt die Einleitung die näheren Daten. Hier sei nur bemerkt, daß das Manuscript nach dem Tode des Dichters in den Besitz der Familie Büchner in Darmstadt gelangte. Bereits 1838 plante zuerst Karl Gutzkow, dann der Freund des Dichters, G. Zimmermann, die Veröffentlichung. In beiden Fällen blieb die Absicht durch äußerliche, private Hindernisse unausgeführt. Als Dr. Ludwig Büchner 1850 die „Nachgelassenen Schriften“ seines Bruders herausgab, griff er auch auf dieses Manuscript zurück, doch schien es bereits zu spät. Die Tinte war verblaßt, die Schrift völlig unleserlich geworden. Er mußte sich begnügen, in seiner Einleitung (N. S. S. 40) diese Thatsache zu constatiren. So lag denn das Manuscript weitere fünfundzwanzig Jahre unveröffentlicht und kam im Hochsommer 1875 mit den anderen Stücken des Nachlasses, so weit sie sich im Besitze der Familie befanden, in meine Hand. Ich hatte anfangs auch nicht die leiseste Hoffnung, daß mir die Entzifferung gelingen werde. Vor mir lagen vier Bogen dunkelgrauen, mürbe gewordenen Papiers, kreuz und quer mit langen Linien sehr feiner, sehr blasser gelblicher Strichelchen beschrieben. Da war absolut keine Silbe lesbar. Ferner einige Blättchen weißen Papiers, mit ähnlichen Strichelchen bedeckt. Da hier die Zeichen größer waren, der Hintergrund heller, so war da stellenweise ein Wort zu entziffern, aber nirgendwo auch nur ein ganzer Satz. Rathlos wendete ich die Blätter hin und her. Da führte mir der Zufall [203] das chemische Rezept zu, welches im Nürnberger „Germanischem Museum“ zur Auffrischung von Urkunden benützt wird. Man bestreicht die betreffende Stelle zuerst mit destillirtem Wasser, dann mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies sich als wirksam, die verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlschwarz hervor, auch an solchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr die Spuren einer Schrift zu erspähen waren. Aber da wies sich eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroskopisch klein; oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte zur Loupe greifen. Aber selbst mit bewaffnetem Auge und chemisch präparirtem Papier ging es schwer genug. Denn Georg Büchner hatte, wenn er rasch schrieb, die unleserlichste Handschrift, die man sich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen sind im Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphische Vorlage. Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. s. w. Kurz, es war eine unsägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war geeignet, mir immer wieder den Muth zu stählen. So copirte ich denn Zeile für Zeile, zuerst die grauen Bogen, dann die weißen Blättchen. Endlich war ich fertig und konnte die Resultate überblicken.. Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verschiedene Entwürfe einer und derselben Arbeit. Die grauen Bogen waren der ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere Entwurf des „Wozzeck“ Der erste Entwurf enthielt etwa zwanzig Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig skizzirt, die wenigsten ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die Katastrophe folgte ein Stück der Exposition, darauf fand sich die Schlußszene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der sich wohl die Dichtung eröffnen sollte u. s. w. u. s. w. Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleichfalls ohne logische Reihenfolge, theils Ausführungen solcher Stellen, die sich in den grauen Bogen nur eben skizzirt finden, theils neue Fragmente. Diese Szenen des zweiten Entwurfs beziehen sich sämmtlich auf die Katastrophe. Die Namen der Personen hat Büchner im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So spukt im ersten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten — viel [204] passender — als Tambour-Major erscheint u. s. w. An einer durchgreifenden Umarbeitung hinderte den Dichter der Tod. Im Vorstehenden findet sich nun der Wortlaut des Manuscriptes mit buchstäblicher Treue wiedergegeben. War eine Stelle so unleserlich, daß ich ihren Inhalt nur zu vermuthen, nicht aber bestimmt zu erkennen vermochte, so habe ich sie lieber ganz weggelassen, anstatt meine Vermuthung hinzuschreiben. Die Szenen, welche sich sowohl im ersten, als im zweiten Entwurfe vorfanden, habe ich im Wortlaute des letzteren wiedergegeben, mit Ausnahme einer einzigen, welche in der älteren Fassung ungleich markiger und farbiger war. Auch darin frevelte ich schwerlich gegen die Intention des Dichters, der möglichst nachzukommen mir alleinige Richtschnur war. Was die Anreihung der Szenen betrifft, so war dies freilich eine schwierige Sache, da hierfür nicht die leiseste Andeutung vorlag. Neben der nothwendigen Rücksicht auf den Inhalt ließ ich bei Feststellung dieser Reihenfolge nach Möglichkeit noch eine andere, ästhetische Rücksicht walten. Es war mein Bemühen, die beiden Elemente, aus denen „Wozzeck“ besteht, das groteske und das tragische, so zu gruppiren, daß nicht das letztere Element durch das erstere in seiner Wirkung beeinträchtigt werde. Weggelassen ist keine Silbe. Wo sich allzuderbe Ausdrücke blos durch Anfangsbuchstaben und Striche angedeutet finden, hat schon der Dichter das Gleiche gethan. K. E. F.
|