Zwei Verzweifelte

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Autor: Ludwig Storch
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Titel: Zwei Verzweifelte
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 1–4
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[1]

Zwei Verzweifelte.

Von Ludwig Storch.

Mitternacht war vorüber. Die Laternen auf der Blackfriarsbrücke in London leuchteten nur noch einzelnen Fußgängern. Von der City her schritt ein junger Mann hastig der Mitte der Brücke zu, von Southwark her schlich ein bejahrter Mann ihm entgegen. Noch stießen sie nicht zusammen, als der Letztere sich vom Wege rechts ab nach der Brüstung wandte und die augenscheinlichsten Anstalten traf, sich über dieselbe in die Themse hinabzustürzen. Der junge Mann war ihm gefolgt, und hielt ihn plötzlich zurück.

„Herr, ich glaube Sie wollen sich ersäufen?“

„Ihr Glaube ist richtig, Herr; aber was geht das Sie an?“

„Allerdings nicht das Mindeste. Ich wollte Sie nur um die Gefälligkeit bitten, noch einige Augenblicke zu verziehen und mir zu erlauben, die Partie mitzumachen. Lassen Sie uns einander fest umarmen und so vereint den Luft- und Wassersprung machen. Die Aussicht, mich mit einem mir blutfremden Manne, den ich in diesem Augenblick hier in derselben Absicht getroffen, die auch mich hierher geführt hat, zusammen zu expediren, ist zu pikant für mich, als daß ich Sie nicht bitten sollte, sich mit mir zu dem angegebenen Zwecke zu verbinden. Wahrlich, Herr, seid lange ist mir nichts so reizend vorgekommen; und ich hätte nicht geglaubt, daß mir in der Todesstunde noch so etwas Angenehmes widerfahren könne. Schlagen Sie ein, Herr; ich habe seit Jahren keine Bitte mehr an ein menschliches Wesen gestellt; verweigern Sie mir also die Erfüllung dieser einzigen und letzten nicht. [2] Auch kann ich mich nicht erinnern, jemals so viele Worte gemacht zu haben, als in dieser Minute.“

Damit hielt er dem Andern die Hand hin. Dieser gab denn auch die seinige, und der junge Mann fuhr in einer Art muthiger Begeisterung fort: „Also fest umschlungen, Arm in Arm! Und nun kurzen Prozeß! Es ist mir recht wohl, zuletzt noch ein paar Augenblicke an einem Menschenherzen zu liegen. Ich frage nicht, ob Du auch ein Schuft bist. Hinab!“

Der ältere Mann, der erst so große Eile gehabt hatte, in die kalten Fluthen der Themse unterzutauchen, legte jetzt der Eile des Jüngern einen Zügel an, indem er dessen Hand festhielt und ihn zurückzog. „Halt, Herr!“ sagte er, indem sein lebensmüdes Auge in den Zügen seines Gegenübers zu forschen bemüht war, so viel der ungewisse Schein der nächsten Laterne erlaubte, „Sie sind noch so jung, und wollen schon freiwillig aus dem Leben gehen. Ich fürchte, Sie übereilen sich. Für einen Mann in Ihren Jahren bietet das Leben noch tausend schöne Fernsichten und reizende Genüsse.“

„Ja Moder und Gestank, Lug und Trug, Nichtswürdigkeit und Verworfenheit. Kommen Sie und machen wir der Sache ein Ende!“

„So jung Sie sind, Sie haben schon sehr schlimme Erfahrungen gemacht, und scheinen alle Kreaturen, welche die menschliche Gestalt tragen, für Otterngezücht zu halten.“

„Ottern sind edle Geschöpfe gegen den Menschen; denn sie folgen ihrem Naturtrieb; sie sind keine Heuchler, welche die Tugend im Munde führen und das Laster im Herzen.“

„Sie thun mir leid; denn in der That es giebt viele ehrenwerthe Ausnahmen von der von Ihnen aufgestellten Regel.“

„Hahaha! Ausnahmen!“ lachte der junge Mann bitter und höhnisch. „Ich habe keine gefunden.“

„Dann darf ich Ihnen wenigstens den, wenn auch armseligen Trost geben, daß Sie in dieser ernsten Stunde eine solche gefunden haben. So sehr auch das Lügen den meisten Menschen zur Gewohnheit geworden ist, in der Todesstunde, gegenüber der ernsten und stummen Ewigkeit, pflegen die Wenigsten zu lügen. Ich aber habe mein Leben lang nicht gelogen und möchte um keinen Preis der Welt mit einer Lüge auf den Lippen die dunkle Straße wandeln. Wenn ich Ihnen also sage: ich bin kein Schuft, für den Sie auch mich zu halten scheinen, sondern ein ganz ehrlicher und braver Mann, so ist das die lautere Wahrheit.“

„Wirklich? Das ist interessant! So müßte ich den einzigen ehrlichen Menschen, der mir vorgekommen, gerade auf diesem letzten Wege kennen lernen, um mit ihm gemeinschaftlich der Welt Valet zu sagen.“

„Lassen Sie mich allein gehen und bleiben Sie. Es giebt noch mehr, noch viel ehrliche und brave Menschen, die Ihnen ein nüchternes, einfaches, thätiges Leben mit Lust und Schönheit würzen können. Suchen Sie sie nur, Sie werden sie gewiß finden.“

„Nun den ersten hätt’ ich ja schon gefunden. Aber wenn sich Ihnen das Leben von so paradiesischer Seite präsentirt hat, warum wollen Sie es denn gleich mir von sich werfen?“

„Weil ich ein alter blutarmer und dabei kranker und schwacher Mann bin, der nicht im Stande ist, etwas zu verdienen und es nicht länger mit ansehen kann, daß sein einziges Kind, ein Engel von Tochter, sich Tag und Nacht todtarbeitet, um mich alten unbrauchbaren elenden Menschen zu ernähren, ja mir sogar noch manche kleine Freude zu machen. Nein, Herr, das länger zu ertragen, müßte ich ein Unmensch, ein Barbar sein.“

„Was, Herr!“ rief der Andere wie erschrocken. „Sie haben eine einzige Tochter, die sich für Sie aufopfert?“

„O und mit welcher Geduld, mit welcher Milde, mit welcher Liebe, mit welcher Ausdauer thut sie es! Ich sehe sie dahin welken unter Arbeit und Entbehrung und keine Klage entschlüpft ihren bleichen Lippen. Sie arbeitet und hungert und hat immer ein Wort der Liebe, ein seliges Lächeln für mich.“

„Herr, und Sie wollen sich umbringen? Sind Sie des Teufels?“

„Kann ich den Engel langsam ermorden? Das wühlt mir wie ein Schwert in der Seele,“ weinte und schluchzte der alte Mann.

„Herr, Sie müssen mit mir eine Flasche Wein dort in der Taberne trinken und mir dabei Ihr Schicksal erzählen. Wenn’s Ihnen recht ist, will ich dagegen mit dem meinigen aufwarten. Im Voraus sag’ ich Ihnen, Sie brauchen nicht da hinab zu springen; denn ich bin ein reicher, ein sehr reicher Mann, und wenn Alles sich so verhält, wie Sie mir angedeutet haben, so braucht Ihre Tochter nicht mehr zu arbeiten, und Sie sollen Beide nicht hungern.“

Der weinende Mann ließ sich fortziehen. Sie traten zusammen in die Schenkstube. Bald standen volle Gläser vor ihnen, und sie betrachteten einander näher beim hellen Lampenlichte.

„Mein Schicksal ist bald erzählt,“ nahm der Alte gefaßt und vom Feuer des Weins angenehm erregt, das Wort. „Ich bin Kaufmann, aber das Glück war mir nicht hold; ich hatte kein eignes Vermögen und liebte ein armes Mädchen. Aus diesen Gründen brachte ich es niemals zu einem eignen Geschäfte, sondern diente in verschiedenen Häusern als Commis und Buchhalter, bis man mich nicht mehr brauchen konnte oder vielmehr wollte und jüngere Kräfte den meinigen vorzog. So beschränkt meine Verhältnisse waren, so schön und glücklich war mein Familienleben. Mein Weib war ein Engel an Liebe, Güte und Sanftmuth, fromm und gottesfürchtig, thätig und treu, und sie hat ihre einzige Tochter wiederum zu solch einem Engel erzogen. Aber durch Krankheit und Alter bin ich endlich der härtesten Noth verfallen, und mein Gewissen giebt es nicht zu, daß das beste Kind auf Erden sich für mich alten unbrauchbaren Menschen opfert. Ich kann ja unmöglich mehr lange zu leben haben, und so wird mir Gott verzeihen, wenn ich selbst ein paar Dutzend Tage oder Wochen abstreiche, um wenigstens Gesundheit und Leben meiner Betty zu erhalten.“

„Alter, Sie sind ein glücklicher Mann,“ rief der Jüngere. „Mir ist noch kein so Glücklicher vorgekommen. Was Sie Ihr Unglück nennen, das ist Lapperei. Dem ist jetzt schon gründlich und für immer abgeholfen. Ich werde Sie morgen früh durch ein Testament zu meinem Erben einsetzen, und den Sprung von der Brücke noch um einen Tag verschieben. Erst will ich Ihre Betty kennen lernen, um doch einem Menschenkinde, das den Namen Mensch verdient, in’s Auge geschaut zu haben, eh’ ich zu den Todten gehe.“

„Aber, Herr, was hat Sie so unglücklich bei dieser Jugend gemacht?“ rief der alte Mann voll Mitleid und Jammer.

„Ich glaube der Reichthum meines Vaters. Ich bin der einzige Sohn eines der ersten Handlungskäufer Londons, und auch ich bin Kaufmann, wie Sie. Wenn ich Ihnen meinen Namen nenne, werden Sie ihn kennen und von der Wahrheit meiner Angabe überzeugt sein. Mein Vater starb vor fünf Jahren und hinterließ mir ein ungeheures Vermögen. Von Stund’ an bin ich von allen Menschen, die mit mir in Berührung kamen, belogen, betrogen, hintergangen und bestohlen worden. Ich war ein unschuldiges Kind an Glauben und Vertrauen; ich war in der Erziehung nicht verdorben worden und hatte von meiner guten Mutter das weiche, liebedürftige Herz geerbt. Ich wollte mit edlen, guten Menschen im Bund der Liebe und Freundschaft leben; ich fand heuchlerische Schurken, Falschmünzer der Gesinnung, ohne andern Zweck, als mir Geld abzunehmen und sich auf meine Kosten vergnügte Tage zu machen. Freunde, oder vielmehr Schufte, die ich für Freunde hielt und denen ich mein ganzes Herz hingab, verriethen und verlachten mich als einen guten dummen Jungen, aber mein Auge schärfte sich mit der Zeit und mein Herz sog sich voll Mißtrauen. Ich durchschaute endlich alle Betrüger. Ich verlobte mich mit einer reichen Erbin, im Besitz der höchsten Bildung unsrer Zeit; ich schwärmte für sie in kindischer Begeistrung. Ihre Liebe sollte mir alles Andere ersetzen. Bald erkannt’ ich sie als eine eitle stolze Närrin, die mich zu ihrem Sklaven machen und alle Männer an ihren Triumphwagen spannen wollte. Ich brach mit ihr und wählte ein reizendes armes Kind, ein süßes unschuldiges Täubchen, das der Engel meines Lebens werden sollte. Juchhe! Ich überraschte sie in den Armen eines andern, von ihr geliebten Jünglings. Mir hatte sie Liebe gelogen, um eine reiche Frau zu werden. Ich stürzte mich in Genüsse, ich ging auf Reisen: überall dasselbe moralische Elend. Zuletzt wurde mir das Leben zum fürchterlichsten Ekel. Wir begegneten uns, als ich der jämmerlichen Posse ein schnelles Ende machen wollte.“

„Armer junger Mann!“ sagte der Alte mit einer Thräne des Mitgefühls im Auge. „Wie sehr bedaure ich Sie! Ja ich armer Mann bin glücklicher gewesen als Sie. Ich hatte ein Weib und eine Tochter, die rein und tugendhaft aus Gottes Hand hervorgingen. [3] Die Eine ist eben so wieder zu ihm zurückgekehrt, die zweite wird es. Ich kenne meine Betty. Sie wird ihre Tugend und ihren Edelsinn bewahren. Sie kann gar nicht anders.“

„Hört, Alter, gebt mir Eure Adresse und erlaubt mir, daß ich morgen Eure Tochter aufsuche. Ich muß mich selbst von Eurer Behauptung überzeugen. Aber auch Euer Ehrenwort müßt Ihr mir geben, Eurem Kinde mit keinem Worte, keiner Miene, keinem Blick zu verrathen oder anzudeuten, daß ich ein reicher Mann bin.“

Der Alte reichte die Hand hin: „Ich gebe mein Ehrenwort. Es liegt mir selbst daran, Sie zu überzeugen, daß ich die Wahrheit gesprochen. Ich heiße John Smid und meine Wohnung ist auf diesem Zettel verzeichnet.“ Damit zog er ein Blatt Papier aus der Tasche und händigte es dem Andern ein.

„Und ich heiße Lewis Stauton und bin der Sohn und Erbe von Andrew Stauton. Hier ist eine Hundertpfundnote mit der Bedingung, daß Sie in diesem Hause bleiben, bis ich Sie morgen abhole. – Knabe! Ein Zimmer mit einem guten Bett für diesen Herrn! – Sie bedürfen der Ruhe, Mr. Smid. Gute Nacht! Morgen sehen Sie mich in einer andern Gestalt. Aber in welcher auch, vergessen Sie Ihr Ehrenwort nicht.“

Der Alte machte eine Geberde des Staunens über den gehörten Namen und des freudigen Schreckens über die Banknote; aber eh’ er sich zu fassen vermochte, war sein neuer Bekannter zur Thür hinaus, und der Aufwärter leuchtete ihm in ein Zimmer vor, in dessen Bette er bald den schnellen Wechsel seines Geschicks vergessen hatte.


In einem armselig ausmöblirten, aber sehr reinen und fast zierlich aufgeputzten Dachstübchen in einem der hohen, schwarzgeräucherten Häuser in einer engen und dunkeln Nebengasse der City saß ein sehr hübsches blondes Mädchen von ohngefähr zwanzig Jahren und nähete feines Weißzeug. Wahrlich ihr ganzer Anzug war nur wenige Schillinge werth, aber er war so rein, so nett und saß ihr so trefflich, als wenn er eben so viele Pfunde gekostet hätte. Ihre hellblonden Locken umrahmten ein Gesichtchen voll süßen Seelenfriedens, in welchem ein paar Augen von reinster Himmelsbläue und von reinster Himmelsunschuld sanft leuchteten. Ueberall in ihr, an ihr, um und neben ihr der Geist der Ordnung, der Züchtigkeit, der Sitte und der Reinheit. Die Züge waren so blaß, so zart und so fein, wie die einer Fürstin. Und doch war das Auge übernächtig und voll Unruhe, und dann und wann löste sich ein banger Seufzer aus dieser jungfräulichen Brust los. Endlich hörte sie Schritte auf der Stiege, und ihr Gesicht verklärte sich schnell; sie horchte; aufsteigende Zweifel schatteten sich in ihren reinen Zügen ab. Es klopfte an der Thür, und sie erbebte. Kaum vermochte sie die Einladung zum Eintreten auszusprechen. Ein junger Mann in einem abgetragenen und ausgebesserten Anzug schritt, sich linkisch und demüthig verbeugend, über die Schwelle. „Um Verzeihung, wohnt hier Mr. John Smid?“

„So ist’s, Herr. Was wünschen Sie von ihm?“

„So sind Sie seine Tochter Miß Betty?“

„Ich bin’s.“

„Zu Ihnen wollt’ ich gerade; denn von Ihrem Vater komme ich her.“

„Um Gotteswillen, wo ist er? Was ist mit ihm geschehen? Es ist ihm ein Unglück begegnet, denn noch niemals ist er Nachts aus dem Hause geblieben.“

„Allerdings ein kleines Unglück –“

„O mein armer, armer Vater! Was werd’ ich hören müssen.“

Der junge Mann betrachtete die sichtbaren Zeichen ihrer Seelenangst in ihren Zügen mit großer Theilnahme und sah sich auch im Zimmer um. „Erschrecken Sie nicht, liebes Kind; mit dem Unglück hat’s nichts auf sich. Ein alter Bekannter hat ihn gestern Abend getroffen und in eine Taberne gezogen. Da haben sich die beiden Herrn fest gezecht. Der Andre hat sich spitzbübischer Weise aus dem Staube gemacht, Ihr Vater aber ist als ehrlicher Mann geblieben und muß nun als Faustpfand sitzen, bis die Schuld bezahlt ist, wenn er nicht in’s Gefängniß wandern will. Sonst ist er frisch und gesund.“

„Mein Vater! Mein lieber Vater darf nicht in das Gefängniß!“ sagte das Mädchen ängstlich. „Können Sie mir angeben, wie viel seine Schuld beträgt?“

„Zwölf Schillinge.“

„Ach, mein Herr, ich habe nur drei Schillinge in meinem Besitz. Aber ich will schnell zu Miß White laufen und sie sehr bitten, daß sie mir neun Schillinge auf meine Arbeit vorstreckt.“

„Wer ist Miß White?“

„Die Putzhändlerin, die mir Arbeit giebt.“

„Wenn Miß White aber Ihre Bitte nicht erfüllt, was dann?“

Das Mädchen brach in Thränen aus. „Ach Gott,“ schluchzte sie, „ich fürchte selbst, sie thut es nicht; denn ich bin ihr schon sechs Schillinge schuldig, und sie ist eine harte Frau.“

„Wofür haben Sie diese Schuld gemacht?“

Sie zögerte erröthend mit der Antwort.

„Sie dürfen sich mir anvertrauen; ich nehme den herzlichsten Antheil an Ihrem Schicksal und wollte nur, ich könnte Ihnen helfen. Aber ich bin selbst ein armer Schreiber. Wozu haben Sie die sechs Schillinge geborgt?“

„Mein Vater ist gar schwach und bedarf der Stärkung. Ich habe ihm zuweilen ein halbes Hühnchen in der Brühe gekauft oder ein Beefsteak.“

„Unter solchen Umständen wird Miß White nichts mehr borgen. Sechs Schillinge will ich Ihnen geben, aber das ist auch Alles, was ich besitze. Haben Sie keinen werthvollen Gegenstand, den wir versetzen könnten?“

„Ich habe nichts, gar nichts als das Gebetbuch meiner verstorbenen Mutter. Sie hat mich sterbend beschworen, mich nie davon zu trennen, und es ist mir nichts heiliger, als ihr Andenken und mein ihr gegebenes Versprechen, aber ich gebe es gern hin für meinen Vater.“ Zitternd holte sie das Buch herbei. „Ach, mein Herr, in mancher stillen Nacht habe ich auf die leeren Blätter hinten im Gebetbuch meine geheimsten Gedanken niedergeschrieben. Es darf Niemand erfahren, daß ich die Schreiberin bin. Wollen Sie mir das versprechen?“

„Gewíß, gute Miß. Sein Sie außer Sorgen. Es soll kein Mißbrauch mit ihrem Heiligthum getrieben werden. Nun machen Sie sich fertig; wir wollen gehen.“

Während sie in die Kammer schlüpfte, schlug Stauton das Buch auf und las die frommen Herzensergüsse des Mädchens. Seine Augen leuchteten und füllten sich mit Thränen der Rührung und Wonne. Sie kam und hatte ein sehr geringes Tuch umgeschlagen, aber als sie auf der Straße so neben ihm hinschritt in ihrer unbewußten Würde, betrachtete er sie mit Blicken der Ehrfurcht und Bewunderung.

Miß White gab den neuen Vorschuß nicht, versicherte aber dem Begleiter des Mädchens, Betty sei ein Engel. Das war ihm aus diesem Munde lieber als das Geld aus dieser Hand. Er versetzte also auf dem Wege das Buch bei einem Trödler, und die zwölf Schillinge kamen zusammen. Betty hatte eine große Freude darüber.

„Wovon wollen Sie aber heute und morgen leben, Miß, wenn Sie all Ihre Baarschaft weggeben?“

„Ich weiß es nicht, aber Gott wird helfen,“ versetzte sie vertrauensvoll. „Ich werde die Nächte hindurch arbeiten.“

„Ja, Gott wird weiter helfen!“ rief er und hätte sich durch seine Bewegung fast verrathen.

Stauton ging erst allein in die Taberne und auf das Zimmer des alten Smid, um ihn mit wenig Worten in seiner Rolle zu instruiren. Dann holte er Betty herbei. Welch ein himmlischer Genuß für ihn, als das süße Kind dem Vater weinend um den Hals faßte, küßte und an ihr Herz drückte. „Ach, mein Vater, mein Vater, welche schreckliche Nacht hab’ ich verlebt, voll Angst und Kummer um Dich! Doch still davon! Gelobt sei Gott, daß ich Dich gesund ’wieder habe.“ Und nun lachte und jubelte sie.

Dann löste sie den theuern Mann ein und führte ihn im Triumphe davon.

Stauton begleitete sie und meinte, er habe noch ein paar Schillinge aufgetrieben; sie solle ein Mittagsessen besorgen. Nun die frohe Geschäftigkeit, das flinke heitre Wesen, die süße Anspruchslosigkeit des herrlichen Kindes! Der junge Mann hätte vor ihr niederfallen und ihr die Füße küssen mögen.

Stauton ging spät Abends und dachte nicht mehr an den Sprung von der Blackfriarsbrücke. Er kam alle Abende „um seinen angeblichen kleinen Verdienst mit der Familie zu verzehren.“

Nach vierzehn Tagen sagte er Abends beim Scheiden: „Miß [4] Betty, wollen Sie meine Frau werden? Ich bin zwar nur ein armer Schreiber, aber ich habe ein redlichen Herz.“

Sie schlug die Augen erröthend nieder.

„Kannst Du mich lieben, Kind?“ fragte er mit überwallendem Gefühl.

Sie nickte stumm und reichte ihm die Hand. Er küßte diese Hand und sagte: „Ich liebe Dich unaussprechlich. Du hast mir das Leben gerettet.“

Wenige Tage später in der Morgenfrühe ging das Pärchen, einfach aber anständig gekleidet, und vom alten Smid begleitet, nach der nächsten Kirche, wo es still getraut wurde. Wonnebebend schloß Stauton sein Weibchen an das Herz und küßte sie auf die Stirne. Vor der Kirche hielt ein prächtiger Stadtwagen. Der gallonirte Diener öffnete ehrerbietig den Schlag. „Hinein!“ rief der glückliche Gatte der ihn mit stumm fragendem Staunen anblickenden jungen Frau zu. Eh’ sie sich’s versah, saßen sie alle drei in der Kutsche, die im Fluge davon fuhr. Vor einem hohen prächtigen Hause in Westminster hielt sie. Reich gekleidete Dienerschaft hob sie heraus und führte sie in glänzend decorirte Zimmer. „Hier ist Eure Herrin!“ sagte Stauton zu der Dienerschaft. „Bezeigt ihr Eure Ehrfurcht und erfüllt ihre Befehle. –

„Mein holdes süßes Kind, ich bin Lewis Stauton, einer der reichsten Männer dieser reichen Stadt. Dieses Haus ist Dein Eigenthum, diese Diener und Dienerinnen sind die Deinigen. Ich habe die Bürgschaft von Dir in der Hand, daß der Reichthum Dein reines Kindesherz nicht verderben wird. Hier ist sie, das Gebetbuch Deiner Mutter. Sieh, was Du hineingeschrieben:

„Und wenn Du mir alle Schätze der Welt gäbest, mein Gott, ich würde Deine demüthige Magd bleiben. Denn was ist Gold vor Dir, der Du auf die Herzen siehst? Dein ist mein Herz und soll es bleiben.“

„Gott und Dein, mein Lewis,“ flüsterte Betty und sank sanft erröthend an seine Brust.

„Hurrah, der Sprung von der Blackfriarsbrücke!“ rief Stauton seelenvergnügt und umarmte seinen Schwiegervater.