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Zwei elende Steinchen

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Textdaten
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Autor: W.
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Titel: Zwei elende Steinchen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 103–104
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[103] Zwei elende Steinchen. Ein lieber Freund war bei mir zu Besuch. Wir hatten uns seit zehn Jahren nicht gesehen, das letzte Mal an meinem Hochzeitstage. Dann war er in der Welt umhergereist; wir standen in regem Briefwechsel miteinander, und jeder Brief, den ich ihm sandte, enthielt eine herzliche Einladung mich zu besuchen, jeder Brief, den er mir sandte, ein Versprechen der Einladung zu folgen. Aber die Tage wuchsen zu Monaten heran; die Monate bündelten sich zu Dutzenden zusammen und nun lag schon ein Paket von zehn Dutzend hinter uns, ohne daß wir uns wiedergesehen hätten und ohne daß ich ihm eigentlich den Vorwurf der Vernachlässigung machen konnte. Das Geschäft, das leidige Geschäft erlaubte es nicht; o, dieses angebliche Geschäft, dem wir unseren ganzen Pflichteifer widmen und welches doch ebenso gut geht, wenn wir ihm einmal untreu werden!

Nun waren im Handumdrehen die zehn Jahre herumgegangen und mein letzter Brief lautete: „Ich habe Dir die traurige Mittheilung zu machen, daß meine arme Frau ihrem langjährigen Leiden endlich erlegen ist und daß sie mich allein gelassen hat auf dieser großen Welt. Ich bin recht allein und recht arm, denn ich habe nicht einmal ein Ohr, in das ich meinen Herzensjammer ausklagen konnte.“

Drei Tage darauf saß ich Hand in Hand mit meinem Freunde auf meinem Zimmer. Natürlich drehte sich unser Gespräch um Tod und Leben, um die sichere Aussicht auf ersteren, um die Nichtigkeit des letzteren, um das Ringen und Sorgen für Dinge, die wir hinter uns lassen, wenn der unvermeidliche Naturprocess uns kalt stellt. Und unsere Gedanken trieben weiter. Wir kamen auf die große Frage zu sprechen, die jetzt alle Kreise der gebildeten Menschheit bewegt, auf die Verbrennung der Leichen; wir wogen das Für und Wider. Mein Freund, hängend am Althergebrachten, erklärte sich entschieden dagegen, es erscheine ihm gegen alle Pietät, daß der Körper, das Gefäß alles dessen, was wir heiß geliebt haben, fast unmittelbar nach dem letzten Athemzuge vernichtet werden solle; es sei edler, den Proceß der Natur zu überlassen, als grausam und schnell ihr in die Hände zu arbeiten. Heilig und unantastbar müsse uns der Körper unserer lieben Angehörigen nach dem Tode sein.

Ich erwiderte ihm, daß er sich mit seiner Ansicht nicht nur gegen die Verbrennung, sondern auch gegen die Section entscheide, und er sagte:

„Ja, das thue ich auch; mir wäre es ein fürchterlicher Gedanke, den Körper eines theuren Angehörigen durch das Messer des Arztes verstümmeln zu lassen.“

„Wenn nun,“ sagte ich, „der Arzt Dich bittet, die Section vornehmen zu dürfen; wenn er, der jahrelang ein unerklärliches Leiden beobachtet hat, der rastlos, wenn auch ohne Erfolg, sich bemüht hat, dem armen Kranken Heilung zu schaffen, nun, wo es nicht mehr schadet, den Schleier zerreißen möchte: bist Du es nicht dem Arzte, bist Du es nicht der übrigen Menschheit schuldig, die Wahrheit erforschen zu lassen? Ich habe es gethan ohne Besinnen.“

„Du magst in Deinem kühlern Denken Recht haben; ich höre – mehr als billig kann wohl sein – auf die Sprache meines Herzens und möchte nicht zu wissenschaftlichen Experimenten meine lieben Todten hergeben. Ich würde es nur in einem Falle und auch dann nur mit Widerstreben thun, wenn nämlich der Angehörige es selbst gewünscht hat. Denn dessen Wille würde mir unter allen Umständen heilig sein.“

„Auch hier habe ich gegen Deine Ansicht gehandelt. Ich gab meine Zustimmung zur Untersuchung sogar gegen den oft ausgesprochenen Willen meiner Frau.“

Die Hand des Freundes, die in der meinen lag, zuckte merklich zurück.

„Sei ruhig und höre, was ich sage! Ich that's mit vollem Ueberlegen, und nicht eine Minute kam mein Herz – das auch mir warm schlägt – mit meiner Vernunft in Conflict. Ich würde es wieder thun im gleichen Falle, und nun es geschehen, bin ich glücklich darüber; ein Alp ist von mir genommen, und stände es in der Macht der lieben Todten, sie würde mir danken, daß ich ihren Willen nicht ehrte.“

Da sah mich mein Freund mit Kopfschütteln an, aber ich fuhr unbeirrt fort:

„Du wirst aus den kurzen Andeutungen meiner Briefe wohl schon geahnt haben, wie unsere Ehe verlief. Wenig zufriedenstellend vom Anfang an, allmählich sich zu großem Unbehagen steigernd, geradezu unglücklich in den letzten Jahren. Aeußerer Grund dazu war nicht vorhanden; des [104] Lebens gemeinste Sorgen konnten wir stets pariren – die Quelle des Uebels lag in uns selbst, oder schärfer ausgedrückt, in meiner Frau. Daß das keine Anklage ist gegen sie, die sich nicht mehr vertheidigen kann, wirst Du verstehen, wenn ich zu Ende bin. –

Was die Erde einem bescheidenen Sterblichen bieten kann, wurde uns zu Theil. Meine angenehme äußere Stellung, unser kleines, aber reizend gelegenes behagliches Heim, die treue Anhänglichkeit unsrer nächsten Verwandten, mit denen wir eine einzige große Familie bilden, Alles dies setzte uns in die Lage, es uns recht wohl sein zu lassen. So wähnten auch Alle, die uns nicht näher standen; sie beneideten uns wohl gar. Aber Jeder hat sein Kreuz zu tragen, und die das meinige von ferne sahen und es nur für ein schlichtes Marterholz hielten, wären wohl selbst unter seiner Wucht zusammengebrochen, wenn ich's ihnen zu schleppen hätte geben können. Meine arme Frau war stets in gereizter Stimmung. Nichts genügte ihr; über Nichts konnte sie sich von Herzen freuen. Nichts konnte ich mit ihr ruhig beplanen und berathen; Alles und Alle ärgerten sie. Wo ich den Himmel blau, wo ich die Morgenröthe rosenroth sah, da entdeckte sie schwarze Wolken, da prophezeite sie Sturm. Wenn ich die Freunde herzlich willkommen hieß in meinem Hause, da glaubte sie ein hämisches Augenzwinkern, ein spitzgemeintes Wort gegen sich selbst zu finden.

O Freund, es war eine traurige Zeit für mich, die Zeit der Ehe; kaum am Eingange blühten einige spärliche Rosen. Später wand sich der Pfad durch Dornengestrüppe, o sie rissen bis tief in's Herz hinein, die starren Dornen. Wirr, immer wirrer wurde mir im Gehirn und Herz. Oft bäumte ich mich auf in stiller Nacht gegen mein Schicksal: Womit, womit habe ich das verdient? Ein andrer, kalt rechnender Mensch hätte wohl an meiner Stelle anders gehandelt. Er hätte das Bleigewicht von seinen Füßen weggeschleudert und wäre lustig in der lachenden Fluth des Lebens weiter geschwommen. Ich bin kein solcher – ich hielt aus. Alles that ich, dem armen Weibe ihre sichtlichen körperlichen Schmerzen zu benehmen. In den zehn Jahren habe ich acht Aerzte consultirt, darunter die berühmtesten im Lande. Keiner erkannte ihr Uebel. Keiner konnte ihr auf die Dauer Linderung verschaffen. Da trat der Tod heran; ich hielt sie in meinen Armen, die alte Liebe gab mir Kraft dazu, aber er war mächtiger als ich; ich konnte Nichts thun als ihr nach dem letzten Athemzuge die Augen zuzudrücken, ach, die schönen braunen Augen! – Nun kam der Hausarzt und bat, das Blatt aufschlagen, das Räthsel lösen zu dürfen. Ich gab die Erlaubniß. Nach einer halben Stunde stand der Arzt vor mir und hatte zwei kleine graue Steine von der Größe eines Kirschkerns in der Hand.

'Das war,' sagte er, 'die Krankheit Ihrer armen Frau. Die Galle war vollständig vertrocknet; statt ihrer fanden sich die zwei als Gallensteine auffallend großen Verhärtungen. Daher ihre mangelhafte Verdauung, daher ihr schlechtes Gedeihen und ihre allgemeine Körperschwäche, daher natürlich auch die dürftige Ernährung des Gehirns und die oft sonderbaren Aeußerungen ihrer Verstandesthätigkeit.“

Freund, als mir das der Arzt sagte, da habe ich Thränen der Freude geweint, kühlend, stillend das bittere Weh; ich konnte ja nun mein todtes Weib wieder lieben. Sie hatte mich also nicht gequält, mit all ihren finstern Worten, aus Lust am Quälen; sie hatte keinen boshaften Sinn gegen ihre Umgebung; sie hatte nur dem unerbittlichen Naturgesetze unterstanden. Zwei elende Steine hatten ihr und mein Leben verbittert; die Functionen ihres Gehirns wurden durch die erbärmlichen zwei Steine gestört.

Nun kann ich mit Liebe meines Weibes gedenken; sie war gut wie je eins, und wenn der alte Wahnglaube sich bestätigen könnte, wenn sie zu mitternächtiger Stunde mir erscheinen könnte – danken würde sie mir, daß ich ihren Willen nicht geehrt habe.“
W.