Der Untergang des Dampfschiffes London am 10. Januar

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Titel: Der Untergang des Dampfschiffes London am 10. Januar
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 95–96
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Noch einmal der Untergang des Dampfers „London“
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[95] Der Untergang des Dampfschiffes London am 10. Januar. Von einem Augenzeugen geschildert. Das stürmische Wetter zu Beginn dieses Jahres wird gar Vielen unvergeßlich bleiben, es führte neben einer Menge anderer und kleinerer Seeunfälle ein furchtbares Unglück herbei. Das nach Melbourne in Australien bestimmte Dampfschiff London, mit einer Menge froher, hoffnungsreicher Ansiedler und Auswanderer bevölkert, die in Australien eine Heimath suchten oder bereits gefunden hatten, ging drei bis vier Tagereisen von Plymouth unter und zog zweihundert und zwanzig kostbare Menschenleben mit in die unerbittliche Tiefe! Blos neunzehn Menschen gelang es, das Schiff zu verlassen und uns die schreckliche Kunde zu bringen, und darunter befanden sich nur drei Passagiere. Es bleibt nicht die leiseste Hoffnung, daß außer ihnen noch eine oder die andere der auf dem Schiffe gewesenen zweihundert neununddreißig Personen das Land erreicht haben könne, denn die neunzehn Ueberlebenden sahen fünf Minuten, nachdem ihr Boot abgestoßen war, das Schiff mit allen Zurückbleibenden unter den schäumenden Wogen verschwinden.

Das Schiff verließ Plymouth am 6. Januar und gelangte während eines argen Wetters in den Canal. Am 7. und 8. tobte der Sturm immer entsetzlicher, allein das Schiff hielt sich tapfer, am 9. aber vernichtete er nacheinander den Klüverbaum, den Vor-Topmast, die Bramsegelstenge und den Hauptmast, außerdem wurde auch noch das erste Boot von den Wellen fortgerissen.

Am 10. legte man um, da man versuchen wollte, in den Hafen zurückzugelangen, aber die Sache wurde dadurch nur schlimmer, denn die Wogen stemmten sich mit furchtbarer Macht dem entgegen, rissen die Luken weg, drangen in den Maschinenraum und verlöschten das Feuer, so daß das Schiff nun völlig in ihrer Gewalt war. Die unglückseligen Passagiere arbeiteten verzweiflungsvoll daran, das Wasser aus dem Raume zu schöpfen, sie waren unermüdlich mit ihren Eimern, doch ach, es war unmöglich, das Leck zu verstopfen, und das Wasser stieg höher und höher. Erst als das Schiff immer tiefer sank, wurden die Boote herabgelassen. Das erste schlug um, das zweite ist dasjenige, welches glücklich entkam, aber es wurde zwanzig lange, bange Stunden von dem tobenden Orkan hin- und hergetrieben, bis die unglücklichen neunzehn Insassen endlich von der italienischen Brigg Marianopel aufgenommen wurden. Eben als ihr Boot abging, sahen sie, wie die Passagiere und die Mannschaft auf dem Schiffe damit beschäftigt waren, noch zwei andere Boote herabzulassen – da hörten sie mit einem Male einen hundertstimmigen, gellenden Schrei und das Schiff verschwand vor ihren entsetzten Blicken, bevor die Anderen Zeit gehabt, es zu verlassen.

Dies war nur das Ende des furchtbaren Trauerspiels. Keine Feder kann beschreiben, was diese zweihundert neununddreißig Menschen während der vier entsetzlichen Tage gelitten zwischen Todesangst, wieder aufkeimender Hoffnung und gänzlicher Verzweiflung, während das Schiff fort und fort von Wind und Wellen auf- und niedergeschleudert wurde, so daß die Armen nicht einen Augenblick Ruhe oder Schlaf fanden – zum Essen oder Trinken hatte ohnedies Niemand Lust und Appetit. Und wie viel Thränen fließen um ihren Tod, wieviel Herzen brechen vielleicht in dem Gram um die verlorenen Theuren und ihr schauriges Schicksal! Wieviel bittere Vorwürfe treffen das Andenken des mit zu Grunde gegangenen Capitains, dem man die Schuld an all diesem Jammer zuschiebt, da er ohne Compaß in See gegangen, so daß das Schiff den eigentlichen Curs verlor und auf ein Riff aufstieß; ebenso meint man, er hätte können während der ersten zwei Tage Mittel finden, Flöße und andere dergleichen Rettungswerkzeuge vorzubereiten – allein richten wir nicht über ihn, es mag unsäglich schwer sein, in solcher Lage die Geistesgegenwart und Kaltblütigkeit zu bewahren. Die geretteten sechszehn Leute der Mannschaft loben und entschuldigen ihren Capitain in jeder Weise.

Als beschlossen war, die Boote herabzulassen, wollte kein Mensch sich denselben anvertrauen, da man sich mit Schrecken daran erinnerte, wie das erste Boot am Tage zuvor von den Wogen weggespült worden war. Das zweite ward gegen das Schiff geschleudert und brach mitten durch; jetzt wurde mit unsäglicher Anstrengung die eiserne Schaluppe flott gemacht, auf die man die meiste Hoffnung setzte, da sie fünfzig Menschen zu fassen vermochte; aber ach! trotz aller Aufopferung Einzelner, die schwere Verwundungen davon trugen, ward das eiserne Boot wie eine Nußschale von einer heranstürmenden Welle erfaßt und umgestülpt. Unermüdlich ward nun abermals ein Boot herabgelassen und mit äußerster Vorsicht sprangen einige von der Mannschaft hinein, doch Niemand von den Passagieren wollte folgen, da ihnen der Versuch völlig hoffnungslos schien. Endlich entschlossen sich Einige, da die Zeit drängte, und einer derselben, John Wilson aus Montrose, eilte in die Cajüte, um einen Freund aus Ballarat in Australien zu überreden, mitzukommen. Aber dieser schüttelte den Kopf und entgegnete: „Nein, ich bleibe hier bei Frau und Kindern und will mit ihnen zusammen sterben!“ Er bat den Freund nur noch, ihm zu helfen, seine vier Kinder, denen das Wasser schon bis an die Brust ging, an einen andern Platz zu schaffen, dann schüttelte er ihm die Hand, rief: „Leb wohl, Jack!“ und sah mit den Seinen zu, wie Wilson sich in das Boot hinabließ. Der scheidende Freund hatte noch den entsetzlichen Anblick zu sehen, wie das Wasser plötzlich zu den Fenstern der Cajüte eindrang und dieselben bis zur Decke überfluthete, worauf die Leichen der ertrunkenen Frauen und Kinder auf das Verdeck gespült wurden und dort umherschwammen.

Als die Leute alle im Boot waren, rief einer: „Es ist noch Platz, geht, holt eine Dame!“ Wilson sprang noch einmal auf das Deck, um eine Bekannte zu retten, fand sie aber nicht, und da jede Minute kostbar war, frug er ein junges Mädchen: „Wollen Sie mit?“ Da sie nichts erwiderte, faßte Wilson sie und trug sie bis zur Schutzwehr; als sie aber dort hinabsah, wie weit sie springen müsse, riß sie sich los und rief: „Nein, das kann ich nimmer!“ Nun sprang Wilson wieder allein hinunter, denn zu langem Ueberreden war keine Zeit, da man ihn unten im Boote drängte.

Der Capitän war durch nichts zu bewegen, das Schiff zu verlassen; er ging ruhig auf dem Verdeck hin und her, aber eben als das Boot abstoßen wollte, rief er den darin Sitzenden noch zu, welchen Curs sie zu nehmen hätten. Die Rettung des Bootes war ein förmliches Wunder, denn die Wellen begannen bereits um den Hintertheil des sinkenden Schiffes einen Strudel zu bilden, der das Boot nur zu leicht verschlingen konnte. Man arbeitete mit allen Kräften, sich aus dieser unheilbringenden Nähe zu entfernen, da rief im letzten Augenblick eine todtenblasse, junge Dame verzweiflungsvoll vom Verdeck herab: „Nehmt mich noch ein, ich verspreche euch tausend Guineen!“ Ach, in dieser Stunde wären Millionen Goldstücke werthlos erschienen; hätten wir umkehren wollen, so wäre dies unser Aller Tod gewesen. Einer der Seeleute erzählte dann, daß sie, nachdem das Boot abgestoßen war und der Capitän sein „Glückliche Reise“ herabgerufen, um keinen Preis noch Jemand aufgenommen hätten und einige von ihnen bereits die Messer herauszogen, um denen, die etwa noch vom Schiffe aus nachspringen und sich an’s Boot anklammern wollten, sofort die Hände abzuhauen.

Sie erzählten. auch, wie der Capitän mit melancholischem Humor gelacht habe, als einzelne Passagiere ihre Koffers auf’s Verdeck brachten, da sie hörten, das Schiff werde sinken; die guten Leute wollten nicht einsehen, daß man in solchen Zeiten nicht an sein Eigenthum denkt.

Mit den zweihundertundneunzehn Anderen versank auch Gustav Brooke, der berühmte englische Schauspieler, der nach Melbourne gehen wollte, um dort neue Triumphe zu feiern. Sein Andenken wird in dankbarer Erinnerung bleiben, da er Uebermenschliches geleistet, um das Schiff zu retten. Der holländische Theil der Mannschaft, einundzwanzig an der Zahl, weigerte sich nämlich, an den Pumpen zu arbeiten (?), so daß die englischen Matrosen mit Hülfe der Passagiere allein thätig sein mußten. Da war Brooke in seinem rothen, wollenen Hemd der Unermüdlichste von Allen; er lief barfuß bald nach hinten bald nach vorn und half, wo es am nöthigsten war. Als wir ihn zuletzt sahen, lehnte er mit ernster Gebehrde auf dem Verdeck, das schöne, ausdrucksvolle Gesicht auf die Arme gestützt, und schaute ruhig in das verworrene Treiben rings um ihn.

Einer der Geretteten berichtete, daß ein gewisser Eastroad, einer der Passagiere, zu ihm sagte: „Nun, Jack, ich denke, es geht zu Ende mit uns. Da ist nun freilich nicht zu helfen, nur Eins thut mir weh. Ich habe eine Anweisung auf die Bank in Ballarat auf fünfhundert Pfund Sterling, von denen ich blos zwanzig Pfund erhoben habe. Wenn doch mein alter Vater den Rest bekommen könnte!“ Dabei traten ihm die [96] Thränen in die Augen; hoffentlich wird sein Wunsch erfüllt, da der am Leben geblieben ist, welcher ihn vernahm.

Im Hauptsalon saßen die Frauen und Kinder, sowie einzelne Männer, mit ihren Bibeln um einen Geistlichen, Mr. Draper, der die Armen liebevoll tröstete und vermahnte; von Zeit zu Zeit stand eines der Anwesenden auf und rief: „Beten Sie mit mir!“ was dann geschah, und alle Uebrigen stimmten mit in das Gebet ein.

Als das Boot mit mit den drei Passagieren, vierzehn Matrosen und zwei Knaben – einer davon war der jüngste Midshipman, welcher seine erste Seereise machte – abstieß, standen viele der Zurückbleibenden auf dem Verdeck, schwenkten die Tücher und riefen Hurrah – ach, obwohl sie auf den Tod gefaßt waren, ahnten sie doch nicht, wie unmittelbar nahe er ihnen bevorstand! Wir waren kaum achtzig Ellen weit entfernt, da kam ein so wüthender Windstoß, daß wir nicht hören und sehen konnten; als wir uns dann umschauten, sank das herrliche Schiff mit reißender Schnelligkeit und das Herz brach uns fast vor Jammer, als zuletzt Alles verschwunden war und nur noch ein wilder Wogenstrudel die Unglücksstätte bezeichnete. Im letzten Moment wurden Alle auf dem Verdeck durch den Sturm nach vorwärts gedrängt, nur der dritte Officier, Namens Angel, stand bis zuletzt an seinem Posten bei der Maschine, welche die Pumpen bewegte, seine Hände lagen noch auf der Maschine, als das Schiff verschwand. In den letzten Stunden waren sämmtliche Passagiere in Folge der langen Todesangst ruhig und in ihr Schicksal ergeben; ich sehe noch eine Londoner Dame dastehen und uns ihr Lebewohl zunicken.

Noch eine traurige Geschichte will ich erwähnen: Unter den Passagieren waren auch zwei arme alte Leute mit ihren drei Kindern, die schon das dritte Mal vergeblich versuchten, nach Australien zu gelangen. Das erste Mal hatten sie die Reise auf einem Schiffe begonnen, welches unterwegs strandete; zum zweiten Mal hatten sie ihr Glück versucht mit dem Schiff „Duncan Dunbar“, das ebenfalls scheiterte. Sie ließen sich jedoch dadurch nicht warnen und abschrecken; wir sahen, wie das arme Weib von den Wellen über Bord gespült wurde – bald darauf folgte ihr der Mann nach, von ihrem Ringen und Sorgen nun auf einmal befreit.

Wir sahen viele der Reisenden mit Revolvern in der Hand auf dem Verdeck stehen; sie wollten sich im letzten Augenblick, wenn das Schiff unterginge, erschießen, da sie den Tod durch die Kugel dem Tode des Ertrinkens vorzogen; ein Freund bot dem andern an, ihn zu erschießen, wenn er es wünschte. Ich glaube aber schwerlich, daß sie Zeit gefunden, ihren Vorsatz auszuführen, da mit einem Male der Boden unter ihnen schwand und der Todesengel seine düsteren Fittige um Alle zugleich hüllte!