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Die Leipziger Nachtigall

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Textdaten
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Titel: Die Leipziger Nachtigall
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 221–223
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[221]

Minna Peschka-Leutner
als „Regimentstochter“.

[222]
Die Leipziger Nachtigall.



Deutsche Kraft und Energie errangen unserer Nation jene künstlerische Herrschaft, vor welcher sich alle übrigen Länder der Erde beugen und deren siegende Gewalt in der alten und neuen Welt gern und willig anerkannt wird. Gewiß ist die allseitig gewürdigte Bedeutung der deutschen Tonkunst zunächst den tiefen productiven Naturen zu danken, welche aus dem Reichthum ihrer Ideen die köstlichsten Schätze wählten und mit diesen ihre Zeit und die Nachwelt beschenkten. „Seid umschlungen, Millionen!“ tönte es aus Beethoven’s „Harmonien“, die mit Zaubermacht während der erschütterndsten Kämpfe das Land durchbrausten und die Feier des Friedens in hehren Klängen verherrlichten. Ueber Land und Meer drang der Ruf und immer weiter zog sich der Kreis, in welchem die Musik Beethoven’s und seiner Vorgänger das Scepter führt.

Zu dieser Ausdehnung des deutschen Kunstreichs haben aber auch nicht wenig die musikalischen Wandervögel beigetragen, welche überall Land und Leute durch ihren Gesang annectirten, wo sie erschienen, denen sich das fremde Gemüth willig unterwarf, sobald die deutschen Weisen ertönten, und deren Singen unwiderstehlich zur Verehrung hinriß für die Tonkunst unseres siegreichen Volkes.

Auch dieses Jahr sind wieder einige von den bewunderten Wandervögeln über das Salzwasser geflogen, um für die deutsche Musik neue Lorbeern zu sammeln, und sehnsüchtig wartet man in der Heimath auf die Rückkehr, damit das eigene Nest nicht in Unordnung gerathe, sondern die gebührende Pflege erhalte. Die Musen- und Meßstadt Leipzig befindet sich gegenwärtig in solcher Lage, weil einer ihrer kostbarsten Singvögel, nachdem er erst in der Schweiz dort kaum jemals gesehene Triumphe eingesammelt hat, jetzt englisch spricht und in Großbritannien mit dem ganzen Zauber des herrlichen Organs die mit seltener musikalischer Ausdauer begabten englischen, schottischen und irländischen Seelen umstrickt. Zunächst in den philharmonischen Concerten und in den Aufführungen des Krystallpalastes zu London erringt Minna Peschka-Leutner, die gefeierte Leipziger Gewandhaus- und Bühnensängerin, neben der großen, unvergleichlichen Pianistin Frau Clara Schumann und dem Geigerkönig Joachim Sieg auf Sieg, und dort weiß man bereits, daß diese Vermittlerin Mozart’scher Musik den höchsten Gipfel künstlerischer Ausbildung erreicht hat, welchem eifersüchtige Kritteleien niemals die Krone rauben können. Längst hat man in Deutschland die Größe und Bedeutung dieser Künstlerin erkannt, deren Vielseitigkeit, mustergültige Technik, riesenhafter Fleiß und bewundernswerthe kräftige Natur alle Aufgaben und Anstrengungen überwanden, welche die rheinischen Musikfeste, die größten Concertinstitute in den hervorragendsten Städten, sowie die angesehenen Bühnen unseres Vaterlandes von ihr forderten. Bald wurde sie zu Sololeistungen für die neunte Symphonie Beethoven’s, bald zur Uebernahme der schwierigsten Partien in Händel’schen Oratorien berufen. Rastlos war sie in Concerten für wohlthätige Zwecke thätig, an dem einen Orte durch staunenerregende Coloratur-Arien die Freunde musikalischer Technik enthusiasmirend, an dem andern durch sinnige Einfachheit und gewinnende Lyrik das Herz rührend.

[223] Wenn sie in Mozart’s „Zauberflöte“ als „Königin der Nacht“, zu welcher Reproduction gegenwärtig keine Parallele zu finden ist, das Publicum in jubelnde Begeisterung versetzt hatte, so entfaltete sie bald darauf als reizende Regimentstochter die ganze Anmuth ihres schelmischen, neckischen Spieles und warf mit unvergleichlicher Gewandtheit lange Scalenketten, Triller, Arpeggien vom kleinen F und Ges zum dreigestrichenen F und Ges hinauf, mithin in einem Umfange, der überhaupt zu den größten Seltenheiten gehört und den nur etwa die „geläufige Gurgel“ der Mademoiselle Cavalieri oder das Organ der „Bastardella“ – wie Mozart sich ausdrückte – aufzuweisen hatte.

Leicht und graciös in ihren Bewegungen, sauber und geschmackvoll in der musikalischen Phrasirung, begabt mit einer äußerst vollen und kräftigen Stimme, welche der Künstlerin im Ausdruck der Rache, wie ihn eine Eglantine in Weber’s „Euryanthe“ zu produciren hat, oder bei Wiedergabe der ernsten Lyrik, wie sie zur Charakteristik der Constanze in Mozart’s „Entführung“ verlangt wird, oder zur Durchführung einer feinen Komik in der Rolle der „Susanne“, kurz welche ihr in allen tragischen und heiteren Situationen so fügsam gehorcht, daß man der Künstlerin fast „überpäpstliche Unfehlbarkeit“ zusprechen möchte, besitzt diese Zierde der Leipziger Bühne dennoch eine angeborene Bescheidenheit, welche auch wohl als Grundursache ihrer künstlerischen Größe anzusehen ist. Schon als Kind soll ihr dieselbe eigen gewesen sein, und man erzählt sogar, daß nur die frühzeitig hervorgetretene Liebe zur Musik jene an Stärke übertraf.

Da der Vater selbst als Tonkünstler von Beruf und zwar als Mitglied der Capelle des Hoftheaters in Wien den ersten Unterricht überwachen konnte, so blieb natürlich die gute Grundlage der sorgsamen Jugenderziehung eine ebenmäßige, so daß man in späterer Zeit nur auf dem gediegenen Fundamente fortzubauen nöthig hatte, zumal sie als Tochter des Violinisten v. Leutner vor allen Dingen fleißig und strebsam, aber niemals, so zu sagen, mit einem „süßen Leben“, mit der „schönen, freundlichen Gewohnheit des Daseins“ zufrieden sein wollte.

Den Lehren der Mutter Schwester Leonore Friedlowsky und des Capellmeisters Heinrich Proch verdankte das siebenzehnjährige Mädchen ihre ersten Erfolge 1856 als Agathe und Alice auf dem Breslauer Stadttheater, wonach sie jedoch bald von Rosenketten gefesselt durch ihre Verheirathung mit Dr. med. Peschka kennen lernte, daß erst das deutsche Weib die Kunst so recht verstehen und sie von ganzer Seele lieben könne. Von Frau Bochkeltz-Falconi unterrichtet, schwang sich Minna Peschka-Leutner zu einer Künstlerin ersten Ranges empor, und sie verschmähte es dabei auch nicht, sich als tüchtige Hausfrau um Haus und Herd zu kümmern. Das sind ja die wahren Vertreterinnen der Kunst, welche über der Virtuosität niemals die echte Weiblichkeit vergessen, sondern diese in das künstlerische Leben hineintragen; – vergessen wir jedoch nicht, daß das Schooßkind der Leipziger, welches am 25. October 1839 das Licht der Welt in Wien erblickte, jetzt in England weilt, und nicht blos Deutschland, sondern auch „England erwartet, daß Jeder seine Pflicht thut“, und diese besteht für uns gegenwärtig darin – zu schließen.